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Juden - Juifs
im Breisgau, Hochschwarzwald und Elsass
     

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Juden, Jüdische Friedhöfe, Stolpersteine, Palästina, Israel, ...

Blick über den Gemüsegarten der Kartaus nach Süden über Dreifaltigkeit zum Kybfelsen am 12.7.2007 

 

Äußerungen über Juden und die NS-Diktatur

Äußerungen wie die des Ifo-Chefs Hans-Werner Sinn, der einen Vergleich zwischen dem Hass gegen Juden in den 1930er Jahren und der derzeitigen Kritik an Managern gezogen hat, sorgen immer wieder für Empörung.

Juni 1983: Der damalige CDU-Generalsekretär Heiner Geißler wettert im Bundestag: "Ohne den Pazifismus der 30er Jahre wäre Auschwitz überhaupt nicht möglich gewesen."
Frühjahr 1985: Der damalige SPD-Chef Willy Brandt sagt, Geißler sei der "seit Goebbels schlimmste Hetzer in diesem Land" .
15. Oktober 1986: Im Interview mit dem US-Magazin Newsweek vergleicht der damalige Kanzler Helmut Kohl den sowjetischen Parteichef Michail Gorbatschow mit NS-Propagandaminister Joseph Goebbels: "Er ist ein moderner kommunistischer Führer, der (. . .) versteht was von PR — der Goebbels verstand auch was von PR."
18. September 2002: Justizministerin Herta Däubler-Gmelin (SPD) wirft US-Präsident George Bush vor, mit einem Irak-Krieg vor allem von innenpolitischen Problemen ablenken zu wollen. Dies habe auch Hitler schon getan. Die Ministerin tritt zurück.
12. Dezember 2002: In einer Debatte des hessischen Landtags über die Vermögenssteuer sagt Ministerpräsident Roland Koch (CDU) offensichtlich in Anspielung auf den Judenstern, wenn Verdi-Chef Frank Bsirske die Namen von Vermögenden in Deutschland nenne, sei dies eine "neue Form von Stern an der Brust" .
Juli 2005: SPD-Fraktionsvize Ludwig Stiegler wirft der Union vor, der Satz im Wahlprogramm "Sozial ist, was Arbeit schafft" , erinnere an die NS-Parole "Arbeit macht frei" .
14. September 2008: Altkanzler Helmut Schmidt (SPD) sagt über den Stil von Politikern, Charisma mache für sich genommen noch keinen guten Politiker aus: "Auch Adolf Nazi war ein charismatischer Redner. Oskar Lafontaine ist es auch."
26. Oktober 2008: Sinn sagt mit Blick auf die Finanzkrise: "In jeder Krise wird nach Schuldigen gesucht, nach Sündenböcken." In der Weltwirtschaftskrise von 1929 "hat es in Deutschland die Juden getroffen, heute sind es die Manager" .
28.10.2008, www.rnz.de

 

 

Der Judenhass ist allen Extremisten gemeinsam

Der Verfassungsschutz warnt vor zunehmendem Antisemitismus, der bis in die Mitte der Gesellschaft hineinreicht

Der Bericht des Verfassungsschutzes ist alarmierend: Der Antisemitismus stirbt nicht aus. Im Gegenteil. Er nimmt zu. Was kann der Staat gegen einschlägige Vorurteile, judenfeindliche Propaganda und solchermaßen inspirierte Straftaten tun? Das hat am Montag der Innenausschuss des Bundestags mit Experten erörtert. Jeden Tag geschehen in Deutschland vier politisch motivierte Straftaten mit antisemitischem Hintergrund, wie es in der Statistik des Bundeskriminalamtes heißt. In den meisten Fällen handelt es sich um Volksverhetzung oder so genannte Propagandadelikte. Die Fallzahlen waren im vergangenen Jahr rückläufig. Die Zahl der antisemitischen Gewalttaten stieg dafür drastisch: von 44 auf 61. Antisemitismus ist ein alltägliches Phänomen, mit dem jedermann konfrontiert werden kann. Das zeigen Ermittlungen bei Ebay. Jörg Ziercke, der Chef des Bundeskriminalamts, sagte, im Sortiment des Internetauktionshauses wurden 10 000 verdächtige Angebote festgestellt. In 900 Fällen liege mutmaßlich eine Straftat vor. Antisemitismus sei "zweifellos ein Problem für die innere Ordnung, Sicherheit und Stabilität unseres Landes" , befindet der Historiker Julius H. Schoeps, Direktor des Moses-Mendelssohn-Zentrums für europäisch-jüdische Studien an der Universität Potsdam. Judenfeindschaft komme in allen Altersgruppen und allen politischen Lagern vor. Sie sei "tief in die Geschichte des christlichen Abendlandes eingewurzelt" . Schoeps erkennt ein gefährliches Potenzial, weil der Antisemitismus zu einem Konsensthema zu werden drohe, bei dem sich Wertkonservative und Altlinke, Neonazis und Islamisten, Geschichtsrevisionisten und gewaltverherrlichende Rapper verständigen könnten. Entgegen der Annahme, die NPD habe sich eine "taktische Zivilisierung" auferlegt, warnt Schoeps: Der Rechtsextremismus sei heute wieder in einer erstaunlichen Offenheit und Aggressivität antisemitisch. Heinz Fromm, Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz, spricht gar von einer "Brückenfunktion der Judenfeindschaft zwischen der Mitte der Gesellschaft und dem Rechtsextremismus" . 20 Prozent der Bundesbürger ließen bei Umfragen latent antisemitische Einstellungen erkennen. Rechtsradikale nutzten israelkritische Vorbehalte in der Bevölkerung "als Vehikel, um sie antisemitisch aufzuladen" . Zudem sei es notwendig, die Kooperation zwischen Rechtsextremisten und Islamisten nicht außer acht zu lassen. Der Publizist Henryk M. Broder warnt vor einer modernen Spielart der Judenfeindschaft, die er "Antisemitismus ohne Antisemiten" nennt. Er komme im Kostüm der Kritik an Israel daher. "Der moderne Antisemit verehrt Juden, die seit 60 Jahren tot sind, nimmt es aber lebenden Juden übel, wenn sie sich zur Wehr setzen", sagt Broder. Was tun? Schoeps und andere Experten fordern von der Bundesregierung einen jährlichen Antisemitismus-Bericht nach dem Muster des Verfassungsschutzberichts. Andere fordern einen Bundesbeauftragten für das Thema.
Armin Käfer, 17.6.2008, www.rnz.de

Henryk M. Broder Bundesbeauftragter für Antisemitismus?
Mich erschreckt, dass Henryk M. Broder, der ehemalige St.-Pauli-Nachrichten-Redakteur und Islamophobie-Spezialist, im Innenausschuss des Bundestages angekommen ist. Machen ihn seine verleumderischen Aussagen gegen alle Israelkritiker bereits zum Antisemitismusexperten? Dass er angesehene Wissenschaftler, wie Prof. Alfred Grosser, selbst Jude und Prof. Udo Steinbach, Berater der Bundesregierung, mit schmutzigen Äußerungen überzieht? Sein Ziel ist es wohl Antizionismus und Israelkritik mit Antisemitismus gleichzusetzen, was heißt, jegliche Kritik an menschenrechtsverletzender israelischen Politik im Keim zu ersticken. Mich zum Beispiel bezichtigte er unter anderem, den Antisemitismus koscher zu machen. Das spricht für sich selbst. Broders Aussagen erscheint mir, bergen die große Gefahr, den wirklichen Antisemitismus zu verharmlosen und dazu beizutragen, dass dieser Begriff da seine Bedeutung verliert, wo er wirklich am Platz ist. Noch schlimmer ist, dass sich der Bundestag und die Bundesregierung so kritiklos und blauäugig in die Hände solcher "Experten" begeben. Nachdem jetzt ein Bundesbeauftragter für das Thema Antisemitismus gefordert wurde, ist zu hoffen, dass nicht Henryk M. Broder für diesen Posten auserkoren wird.
BZ-Leserbrief vom 25.6.2008 von Evelyn Hecht-Galinski, Malsburg-Marzell

Die Menschenwürde darf niemand verletzen  
Mag sein, dass Rechtsradikale israelkritische Vorbehalte als Vehikel nutzen, um die Bevölkerung antisemitisch aufzuladen. Aber vielen vorurteilsfreien Deutschen, die keinerlei rechts- oder linksradikale Kontakte haben, gibt zu denken, dass unsere Politiker und die meisten Medien sich nicht trauen, Kritik an der israelischen Besatzungs- und Siedlungspolitik zu äußern. "Darf Deutschland nicht kritisieren, weil es Auschwitz verschuldet hat? Im Gegenteil: Die Grundwerte der Bundesrepublik verlangen es, gegen die Verletzung der Würde zu protestieren — egal wer sie verletzt. Israel verletzt ununterbrochen die Würde der Menschen in Gaza und im Libanon" , sagte (laut BZ) Alfred Grosser, der 81-jährige Holocaust-Überlebende anlässlich des israelischen Angriffs auf den Libanon. H. M. Broder dagegen sieht in Israelkritikern gleich Antisemiten: "Der moderne Antisemit verehrt Juden, die 60 Jahre tot sind, nimmt es aber lebenden Juden übel, wenn sie sich zur Wehr setzten." Dazu kann ich nur sagen: Verehrungswürdig sind für mich vor allem diejenigen lebenden Juden, die sich dagegen wehren, für die menschen- und völkerrechtsverachtende Politik vereinnahmt zu werden oder sie durch Schweigen mitzuverantworten, wie zum Beispiel Alfred Grosser, Evelyn Hecht-Galinski und Uri Avnery, der jüngst ins Grübeln kam über den "Kowtow" (Kotau) der amerikanischen Präsidentschaftskandidaten gegenüber der Israel-Lobby (nachzulesen im Internet unter
www.uri-avnery.de

BZ-Leserbrief vom 27.6.2008 von Ekkehard Köthner, Merzhausen

Antisemitismus - Schon die Eltern müssen aufmerksam sein
Mit der geforderten Bestellung eines Bundesbeauftragten für Antisemitismus wird der untaugliche Weg zur Delegierung des Problems weiter fortgesetzt. Der Antisemitismus wird leider in nicht genau messbaren Ansätzen schon im Elternhaus praktiziert, geduldet und schön geredet. Alte Redensarten der Kriegsgenerationen scheinen sich nicht selten "vererbt" zu haben. Nur so erklärt sich, dass die erste und zweite Generation nach 1945 teilweise in erschreckender Weise die gleichen Parolen vertritt, wie deren überzeugte Vorväter. Mangelnde qualifizierte Aufarbeitung der Geschichte mit den notwendigen Schlussfolgerungen haben nicht vollständig gegriffen und an diesem löcherigen Geschichtsbild krankt diese Gesellschaft mit einem Anteil von durchschnittlich 20 Prozent noch heute.
Die Grabschändungen des jüdischen Friedhofes von Ihringen im letzten Jahr und die öffentlichen Reaktionen darauf zielten überwiegend darauf ab, zur Lösung des Problems die Polizei verstärkt einzusetzen, die Lehrer mit mehr Stunden zu beauftragen, Gesprächskreise zu bilden usw., aber es kam keine Forderung auf, im elterlichen Haus die Augen zu öffnen und bei Erkennen der Glorifizierung nazistischer Symbole aktiv in das Geschehen einzugreifen. Die Täter von Ihringen hatten dies zu Hause, wie die Polizei festgestellt hatte, ungeahndet tun können. Niemand aus der elterlichen Verantwortung und dessen Bekannten- und Freundeskreis, denen diese Haltung bei der demonstrativen Zurschaustellung im elterlichen Haus hätte auffallen müssen, hat zeitgerecht etwas unternommen, um diesem unseligen Treiben ein Ende zu setzen. Verantwortung ist nicht teilbar, die der Eltern schon gar nicht.
BZ-Leserbrief vom 27.6.2008 von Johannes Reiner, Bötzingen

Ich verstehe Broder überhaupt nicht mehr
Peinlich und erschreckend, wenn man den Bock zum Gärtner macht. Um Gottes willen möge man ihn nicht zum Bundesbeauftragten gegen Antisemitismus machen! Wie würden dies unsere muslimischen Mitbürger verstehen? Was habe ich ihn verehrt in den 70er Jahren für seine kritischen und den Punkt treffenden Beiträge in unseren Politikmagazinen. Doch seit Jahren nun verstehe ich den einst scharfsinnigen Analysten unserer Gesellschaft Broder überhaupt nicht mehr. Der Hass auf alles Muslimische (siehe auch Köln und sein völlig überzogenes Anti-Moschee-Engagement) muss ihm völlig Hirn und Sicht vernebelt haben, die Freunde des israelischen Volkes nicht von denen der Palästinenser-unterdrückenden Staatsführung Israels unterscheiden zu können. Dass ein Journalist mit dem früheren Format eines Henryk M. Broder nicht die Chancen in der Verständigung mit den Nachbarstaaten — und nur dort! — sieht, verwundert mich, da die Kriegsstrategien doch bisher und zu allen Zeiten nur zu weiteren Eskalationen führten. Sein publizistischer Feldzug spielt den Antisemiten gerade zu in die Hände; jede Differenzierung geht dabei verloren, der braune Schlamm dehnt sich aus. Evelyn Hecht-Galinsky dagegen ficht seit Jahren für Verständigung und für ein anderes Bild der jüdischen Gemeinschaft. Ihr sei an dieser Stelle ausdrücklich gedankt für ihr nimmermüdes Engagement.
BZ-Leserbrief vom 26.6.2008 von Dieter Kaltenhäuser, Breisach

 

Ahmadinedschad immer wieder erwiesenermaßen falsch zitiert

In seinen Bericht über die Linken lässt BZ-Korrespondent Thomas Maron erneut die Behauptung einfließen, dass der iranische Präsident Ahmadinedschad "Israel vernichten will" . Mit Wiedergabe dieser Falschaussage stand die BZ bisher nicht allein. Jonathan Steel hatte recht früh darauf hingewiesen, dass dies eine falsche Übersetzung des Originalzitats sei. Der englische Journalist schrieb am 2. Juni 2006 im Guardian: "Er (Ahmadinedschad) sprach keine militärische Drohung aus. Er forderte ein Ende der Besatzung Jerusalems, irgendwann in der Zukunft." Am 14. Mai 2008 veröffentlicht Spiegel online schließlich eine Richtigstellung, wonach Ahmadinedschad am 26. Oktober 2005 auf einer Konferenz zum Thema "Die Welt ohne Zionismus" gesagt habe: "Das Besatzerregime muss Geschichte werden." (Das Originalzitat "in rezhim-e eshghalgar bayad az safhe-ye ruzgar mahv shavad" wurde oft irrtümlich übersetzt mit "Israel muss von der Landkarte radiert werden." ) Einen Tag später korrigiert auch die Süddeutsche Zeitung und schreibt: Der iranische Schlüsselsatz: Ein Übersetzungsfehler macht gefährliche Weltpolitik. Am 17. Mai 2008 breitet der Online-Flyer der Neuen Rheinischen Zeitung den Vorgang detailliert aus und stellt pointiert fest: "Lügen aus der Welt zu schaffen, ist extrem schwierig. Aber immerhin ist ein wesentlicher Baustein, der Schlüsselsatz, der gefährliche Weltpolitik macht, als Propaganda enttarnt."

Um es klar zu sagen: Es geht nicht um die Verteidigung iranischer Interessen oder die Unterstützung eines zurecht umstrittenen ausländischen Staatsmannes, sondern um eine professionelle Recherche und eine verlässliche und faire Berichterstattung. "Dazu gehört, auch politische Gegner korrekt zu zitieren — und sei es nur, um politische Optionen realistisch zu beurteilen." Soweit der von der Süddeutschen Zeitung formulierte Anspruch.
BZ-Leserbrief vom 12.6.2008 von Volker O’Barden, Rheinfelden

 

Zwischen Traum und Alptraum - 60 Jahre Israel

Ein Staat Palästina ist Garant für die Existenz des jüdischen Staates Israel

Wer die Wirklichkeit verändern will, muss zunächst einmal bereit sein, diese zur Kenntnis zu nehmen." Als der frühere Präsident der USA, John F. Kennedy, diesen Satz formulierte, hatte er wohl nicht den Nahen Osten im Blick. Dieser Satz gilt aber — obwohl banal — besonders für den Nahen Osten. Die israelische und die palästinensische Wirklichkeit haben mindestens eines gemeinsam: Obwohl beide Seiten viel Zeit benötigen, um einen stabilen Frieden zu organisieren — miteinander und untereinander — , dürfen sie keine Zeit verlieren damit zu beginnen. Denn eines haben beide Seiten nicht: viel Zeit.

Doch angesichts der Wirklichkeit in Nahost fällt es schwer, sich der politischen Vernunft zuzuwenden. Gleichwohl gibt es zu dieser Anstrengung keine vernünftige Alternative. Auch dann nicht, wenn das aggressive Programm der in den palästinensischen Autonomiegebieten regierenden Terrorgruppe Hamas den Weg der politischen Vernunft bis heute nicht begehen will.

Auf der anderen Seite hat Israel kaum Optionen, wenn der jüdische Staat nicht in Frage gestellt werden soll. Nach Aussage von Experten bewirkt die demografische Entwicklung, dass Israel in ungefähr 20 Jahren eine Bevölkerungsmehrheit mit einer Bevölkerungsminderheit besetzen müsste, wenn sich am derzeitigen Zustand nichts ändert. Auf diese Option zu setzen, also nichts ändern zu wollen, würde bedeuten, neben einem Pulverfass ein demokratisches Staatswesen aufrechterhalten zu wollen. Man müsste Tausende junger Israelis zum Schutz der eigenen Staatsbürger — der Siedler — als Soldaten in besetzte Gebiete befehlen und der eigenen Bevölkerung Milliarden an Steuergeldern abverlangen, um die Besetzung finanzieren zu können.

Darüber hinaus müsste Israel der internationalen Staatengemeinschaft erklären, dass es einen palästinensischen Staat nicht mehr akzeptieren will. Eine derartige Option würde in Israel keine demokratische Mehrheit finden.

Genauso unrealistisch wäre die Überlegung, die Besetzung zu beenden und die palästinensischen Autonomiegebiete zum israelischen Staatsgebiet zu erklären. Losgelöst von der Tatsache, dass darüber mit der internationalen Staatengemeinschaft nicht zu reden sein wird: In ungefähr 20 Jahren würde eine nichtjüdische Mehrheit in der Bevölkerung die parlamentarische Zusammensetzung so verändern, dass der "jüdische Staat" Israel zur Disposition stehen könnte. Wer diese Option einer Einverleibung der besetzten Gebiete weiter durchdenkt, landet zwangsläufig in Südafrika. Ein Apartheidsystem wäre das Ende dieses Weges. Auch hierfür wird es keine demokratische Mehrheit in Israel geben.

Von welchem Ende man Israels Zukunft auch analysiert, es bleibt als realistische Zukunftsprognose nur die Akze ptanz eines Staates Palästina. Man kann es zugespitzter formulieren: Der Staat Palästina ist Garant für die Existenz des jüdischen Staates Israel.

Aber zu einer Staatsgründung gehört unausgesprochen der Terminus "lebensfähig" . Ein lebensfähiger Staat Palästina entsteht nicht durch Proklamation. Zwar könnte man meinen, dass die Vereinigung einer Vielzahl von Menschen innerhalb eines abgegrenzten geografischen Raumes zu einem Staat relativ einfach möglich sein sollte. Der einseitige Rückzug Israels aus dem Gazastreifen und die Ankündigung der Regierung in Tel Aviv ähnlich in der Westbank verfahren zu wollen, macht aber sichtbar, wo Schwierigkeiten entstehen könnten.

Ein einseitiger Rückzug impliziert nämlich, dass die Repräsentanten des neuen Staates Palästina weder gefragt werden, noch über den abzugrenzenden Raum, der ihren Staat darstellen soll, verhandeln können. Ein einseitiger Rückzug stellt fest, welche Grenzen und damit Größe, welche Verbindungen und damit Lebensfähigkeit der geografisch von Israel abgegrenzte Raum haben würde. Niemand sollte unterstellen, dieser Weg sei problemlos zu vollziehen. Eine solche Unterstellung blendet Verhandlungsversuche, Übereinkünfte und Verträge mindestens der vergangenen fünfzehn Jahre aus. Eine solche Unterstellung blendet darüber hinaus die palästinensische Wirklichkeit nach sechs Jahren sogenannter zweiter Intifada aus.

Aber setzen wir voraus, dass es eine Einigung über das Staatsgebiet geben könnte. Setzen wir ferner voraus, dass es überhaupt eine palästinensische Repräsentanz gibt, die sich zum Staat erklärt. Und blenden wir die Frage aus, welche Staatsform sich neben Israel bilden würde, auf die im Analogieschluss zum einseitigen Rückzug Israel nicht einmal mittelbar Einfluss hätte: Zur Lebensfähigkeit eines Staates zählen weitere unverzichtbare Grundlagen, über die nicht verhandelt werden soll, die gleichwohl Israel in unmittelbare Verantwortung zwingen wird.

Ein neuer Staat braucht eine ökonomische Basis. Es wird kolportiert, dass das palästinensische Bruttosozialprodukt (BSP) zu über 75 Prozent von Israel abhängt; das BSP Israels zu 25 Prozent von den Autonomiegebieten. Das heißt: Israel könnte mit Einschränkungen ohne Palästina existieren. Palästina wäre auf längere Sicht ohne Israel nicht lebensfähig. Der Aufbau des Staates Palästina bedingt also — unabhängig vom Engagement der Staatengemeinschaft — über einen langen Zeitraum direkte israelische Hilfe. Auf diese Tatsache ist die israelische Bevölkerung aber kaum vorbereitet. Die große Mehrheit will einen palästinensischen Staat. Die Unwägbarkeiten jedoch sind nicht nur nicht aufbereitet, sie waren und sind bisher kein Thema.
Aber auch andere unabdingbare Definitionen für einen Staat würden den Nachbarn Israel betreffen. Neben dem Staatsgebiet sind das unter anderem die Staatsgewalt, die Staatsorgane, die Staatsform, die Staatsaufsicht, die Finanzwirtschaft, die Staatsgarantien, Staatsdienstbarkeiten, Staatshoheit, Staatsdotationen und das Staatsrecht. Viel Zeit wird benötigt, um das alles aufzubauen. Das betrifft auch das für die Bevölkerung direkt spürbare Bildungs- und Sozialwesen. Beides verträgt in so einer Aufbauphase keine abstrakten Diskurse. Die müssen dann längst abgeschlossen sein. Denn die Erwartungen der Menschen beginnen bereits vor der Proklamation des neuen Staates: Sie wollen Arbeit, Wohnung, Nahrung und Bildung. Möglichst sofort. Die gesellschaftliche Wirklichkeit Israels aber lässt vermuten, dass die Diskussion darüber erst dann einsetzt, wenn die Politik den Rahmen für einen Staat Palästina definiert hat. Erst dann werden auch die innergesellschaftlichen Konflikte ausbrechen. Ähnlich wird es in den Autonomiegebieten ablaufen. Die Erwartung, mit der Proklamation eines Staates Palästina hätten beide Seiten ihre Probleme weitgehend gelöst, ist deshalb eine Illusion. Gleichwohl hat Israel keine Alternative. Und die Zeit drängt. Die Vorstellung, durch eine Masseneinwanderung die Demographie zu besiegen, ist ernsthaft keine Lösungsoption. Wenn die Bevölkerungswissenschaft von 20 Jahren spricht, in denen sich die Mehrheitsverhältnisse verschieben, hat die Politik realistischerweise zehn Jahre, um den Prozess einer Staatsgründung zu vollziehen. Ob die Wahlsieger von Ramallah und Gaza bereits willens sind sich diesen Realitäten zu stellen, erübrigt die Frage, ob sie dazu fähig sind. Die Hamas-Organisation muss zunächst zur politischen Partei mutieren und ihre Grundlage — die Zerstörung Israels und die Anwendung von Gewalt — verlassen. Dafür hat sie wenig Zeit, denn, die Mehrheit im israelischen Parlament wird den Rückzug aus den besetzten Gebieten fortsetzen. Je länger es deshalb dauert, bis die palästinensische Seite sich selbst eine Grundlage schafft, um Verhandlungspartei sein zu können, je mehr wird Israel Fakten schaffen, die kaum mehr verhandelbar sein werden.

Der israelische Premierminister Olmert und der Präsident der Autonomiegebiete, Abbas, führen derzeit konkrete Gespräche, ja Verhandlungen. Dabei geht es darum, sich auf die Prinzipien zu einigen, die, so Olmert, "zur Gründung eines palästinensischen Staates an der Seite Israels führen werden: Grenzen, Jerusalem, Flüchtlinge, Austausch von Gebieten, die Passage zwischen der Weltbank und dem Gazastreifen sowie die Beziehungen zwischen Israel und dem Palästinenserstaat." Die zentralen Streitpunkte lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Die Frage der Grenzen: Hier will Abbas, dass Israel sich an die Grenzen von 1967 zurückzieht. In der Westbank und dem Gazastreifen soll ein Palästinenserstaat entstehen. Seine Hauptstadt ist Jerusalem. Israel, so Olmert, will sich aus über 90 Prozent der Westbank zurückziehen. Die Siedlungen bleiben unter israelischer Herrschaft. Israel übergibt aber Gebiete im Negev, in der Umgebung des Gazastreifens.
Das Rückkehrrecht: Abbas will, dass Israel das Recht der palästinensischen Flüchtlinge anerkennt, in ihre Heimat zurückzukehren, gemäß Beschluss des UN-Sicherheitsrates. Eine Umsetzung geschieht im Einverständnis beider Seiten. Olmert dagegen will, dass Flüchtlinge lediglich in den Palästinenserstaat zurückkehren können, nicht in die Grenzen Israels.
Die Frage der territorialen Kontinuität: Abbas fordert, dass Westbank und Gazastreifen durch eine sichere Passage verbunden werden, die ganz unter der Herrschaft der Palästinenser steht. Olmert dagegen will die Westbank durch einen Tunnel oder eine Brücke mit dem Gazastreifen verbinden. Die Herrschaft über das Land zwischen den beiden Teilen des Palästinensergebietes bliebe bei Israel.
Die Jerusalem-Frage: Für Abbas ist Ostjerusalem die Hauptstadt des palästinensischen Staates. Der soll auch die völlige Kontrolle über den Tempelberg erhalten. Olmert will den Palästinensern dagegen nur Randviertel von Ostjerusalem übergeben. Der Tempelberg soll mit internationaler Beteiligung gemeinsam kontrolliert werden. Wenn wir in Deutschland, in vier Flugstunden Entfernung, zu der Auffassung gelangen, das muss sich doch lösen lassen, sollten wir nicht vergessen, dass wir, im Baskenland, im ehemaligen Jugoslawien und in Zypern vergleichsweise einfache Konflikte bis heute auch nicht gelöst haben. Trotzdem sollten wir die Hoffnung nicht aufgeben. In der nahöstlichen Realität nämlich gilt, dass das heute Undenkbare morgen selbstverständlich sein kann. Diese Erfahrung müssen wir in Mitteleuropa selbst dann in Rechnung stellen, wenn die aktuelle Spannung im Gazastreifen und den angrenzenden israelischen Städten hochexplosiv ist. Es darf als gesichert gelten, dass die Terrorabteilung der Hamas keine friedliche Lösung des Konflikts will. Ein Friedensvertrag wird die Anerkennung Israels beinhalten müssen. Genau das aber ist für den militärischen Arm der Hamas bis heute nicht verhandelbar. Der internationale Konflikt mit dem Iran ist für Israel eine zusätzliche existenzielle Bedrohung. Die Möglichkeit, von Atomraketen angegriffen zu werden, wird nicht als abstraktes Szenario empfunden. Die iranische Grenze ist etwa so weit entfernt wie Kiel von München. Vielleicht wird so der Frontalangriff des iranischen Präsidenten gegen die Existenz Israels in seiner Dimension einem Deutschen klarer. Vor allem dann, wenn er weiteres bedenkt: Eine Gesellschaft, deren Existenz von Nachbarn fortwährend in Frage gestellt wird, deren Entstehungsgeschichte die Verbrechen des Holocaust begleitet und die in ihrer jungen Geschichte sechs Angriffskriege erlebte, sozialisiert sich anders als wir Europäer es uns leisten dürfen. Diesen Berg von Problemen politisch einer Lösung zuzuführen ist schon schwierig genug. Und dabei haben wir noch gar nicht über religiöse Fragen gesprochen. Wer bei dieser Gemengelage von einer abschließenden Lösung träumt, muss achtgeben, dass er nicht von einem Alptraum geweckt wird. Aber die Uhr tickt. Die Demografie grenzt den Zeitrahmen für Israel ein. Die soziale Lage der Palästinenser setzt deren Zeitrahmen Grenzen. Auf Zeit zu setzen bringt deshalb keiner Seite einen Vorteil. Alle Zeit wird dringend gebraucht, Lösungen zu erarbeiten und umzusetzen. Beide Seiten haben deshalb keine Zeit zu warten
Rudolf Dreßler , 25.5.2008, BZ
Auszug einer Rede beim Festakt zum 60-jähriggen Bestehen Israels in Freiburg
Rudolf Dreßler war von 2000 bis 2005 Botschafter in Israel.

Dossier zu 60 Jahre Israel

Am 14. Mai 1948 wurde, mit der Verlesung der Unabhängigkeitserklärung durch David Ben Gurion, der Staat Israel gegründet. Einrichtungen wie die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb), Lehrer Online, das Auswärtige Amt, die Deutsch-Israelische Gesellschaft e.V. oder auch die Botschaft des Staates Israel in Deutschland bieten auf ihren Portalen ausführliche Informationen zu diesem Jubiläum.
Im neuen Dossier beim Deutschen Bildungsserver sind eine ganze Reihe dieser Informationen zusammengestellt. Zudem gibt es Hinweise zum Thema "Israel in der Schule" und Informationen zu den Themen Nationalsozialismus, Holocaust und Gedenkstättenpädagogik.
21.5.2008,
http://www.bildungsserver.de/link/60_jahre_israel


 

Woche der Brüderlichkeit 3.3.-11.3.2008 in Freiburg

Seit 56 Jahren veranstaltet die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit die Woche der Brüderlichkeit. In diesem Jahr findet die zentrale Eröffnungsveranstaltung am 2. März in Düsseldorf statt, sie wird wie immer live im Fernsehen gezeigt. Das diesjährige Thema: "Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist. 60 Jahre Staat Israel" .

Als eine Einladung zum Dialog zwischen den Religionen, aber auch als Mahnung zu Toleranz, Respekt und Menschlichkeit versteht die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit die alljährliche Veranstaltung. Auch in Freiburg erwartet die Besucher ein vielseitiges Programm.

  • Los geht es am Montag den 3. März mit der Eröffnungsveranstaltung um 19 Uhr im SWR-Studio in der Kartäuserstrasse 45. Nach der Begrüßung erwartet die Besucher ein Konzert mit klassischer Musik von Paul Ben-Haim. Außerdem stehen Stücke von Ernesto Bloch und Maurice Ravel auf dem Programm.
  • Am Dienstag, 4. März, findet im Rahmen der Ausstellung "Nazi-Terror gegen Jugendliche" ein Zeitzeugengespräch mit Überlebenden des Nazi-Regimes statt. Veranstaltungsort ist die Katholischen Akademie.
  • Am Mittwoch, 5. März, um 19 Uhr hält Peter Wallach einen Vortrag "Der Sabbat" mit Musikbeispiel in der VHS, Rotteckring 12, im Raum 204. Anmeldung unter Tel: 0761/36895-10.
  • Am Sonntag, 9. März, lesen Ariane Huml, Renate Obermaier und Heinzl Spagl um 20 Uhr in der Katholischen Akademie "Eli" , ein Mysterienspiel vom Leiden Israels.
  • Am Dienstag, 11. März, folgt ab 19 Uhr die Schlussveranstaltung zur Ausstellung "Naziterror gegen Jugendliche" .
  • Schließlich findet am Donnerstag, 13., und Freitag , 14. März das internationale Symposium zur Menschenrechtspädagogik im Freiburger Institut für Menschenrechtspädagogik statt.

Anmeldung und Information: oeftering@gmx.de  .
Infos: Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit; Tel 0761/2856675.
1.3.2008

 

Millionär Stef Wertheimer aus Kippenheim
 
Der Schmerz kommt mit leisen Worten / Einst floh Stef Wertheimer aus Kippenheim und Deutschland. Zurück kehrt er nur ungern, selbst wenn der Bundespräsident wartet

Er ist ein Mensch ohne Allüren. Wenn er, wie bisweilen geschehen, Journalisten mit dem Firmenhubschrauber in seinen Industriepark nach Galiläa in Israel einfliegen lässt, dann vor allem deshalb, um die eigenen Ideen unter die Leute zu bringen — und zwar auf dem schnellsten Weg. Mittag gegessen wird selbstverständlich mit den Besuchern in der Betriebskantine, wo der Boss einen Stammplatz hat. Stef Wertheimer legt Wert auf Bodenhaftung. Dazu passt auch, dass er den Gast selbst an der Zufahrtsstraße empfängt und persönlich zu seiner Villa in Schmaryahu führt. "Ich wollte vermeiden, dass Sie lange suchen müssen", brummt er freundlich. Die Pforte in den hohen Grundstücksmauern lässt sich leicht übersehen. Und so führt der Hausherr über die Gartentreppen in sein privates Reich aus Licht, hohen Decken und spiegelnden Marmorböden. Zielstrebig steuert er durch die High-Tech-Küche zum Bistrotisch. Dort sitzt es sich wie in einem netten Café. Durch die riesige Glasfront geht der Blick auf Rasen und Büsche. Ein leichter Plauderton mag sich trotzdem nicht einstellen. Als alter Jecke, wie die aus Deutschland stammenden Juden in Israel genannt werden, hat Wertheimer sich zwar gewünscht, das Interview in Deutsch zu führen. "Ich habe sonst selten Gelegenheit, in meiner Muttersprache zu sprechen." Aber seine Liebe zur deutschen Kultur ist nur der eine Strang, der ihn mit der alten Heimat verbindet. Der andere sind die schmerzhaften Erinnerungen an Deutschlands dunkelstes Kapitel, die Ermordung der Juden im Dritten Reich. "Ich habe bis heute ein Problem, wenn ich nach Deutschland fahre" , sagt er. Vielleicht ist das auch der Grund dafür, dass der 81-Jährige auf Deutsch viel leiser redet als auf Hebräisch. Mitunter so leise, als ob er mit sich selbst spräche. Auf die Frage, was ihm durch den Kopf gehen werde, wenn er am Sonntag für seine Verdienste um die christlich-jüdische Verständigung vom Bundespräsidenten Horst Köhler mit der Buber-Rosenzweig-Medaille geehrt werde, antwortet er mit drei dürren, vielsagenden Worten: "Wirklich nicht einfach." Und fügt nach kurzer Pause hinzu: "Wir können vor der Vergangenheit nicht weglaufen." Elf Jahre alt war Stef Wertheimer, als er 1937 mit seiner Familie aus dem badischen Kippenheim nach Palästina floh. Das Kind hat das nicht als traumatisierend empfunden. Für die Eltern war es härter. Sie ließen eine gutbürgerliche Existenz zurück. Gasthaus, Metzgerei und Mühle gehörten zum Familienbesitz. "Bis zum Schluss haben sie nie richtig Hebräisch gelernt" , erzählt Wertheimer. Er selbst hingegen fand alles sehr aufregend. Reichlich Karl-May-Lektüre hatte seinen Sinn für Abenteuer geweckt. "Wir haben in Tel Aviv gelebt, ich ging jeden Tag zum Meer und hatte eine wunderbare Zeit. Ich hatte nie das Gefühl, dass man mir was Schlechtes angetan hat." Auch die Zukunft sollte es gut mit ihm meinen. Stef Wertheimer, das ist die israelische Variante der "Vom Tellerwäscher zum Millionär" -Geschichte. In einem Hinterhof in Naharija fertigte er seine ersten Spezialklingen auf einer Schleifmaschine. Am Anfang lieferte er die Werkzeuge selbst auf einem Motorrad aus. Keiner hätte sich damals vorstellen können, dass ihm ein halbes Jahrhundert später der US-Investor Warren Buffet im Mai 2006 vier Milliarden Dollar für den Kauf seiner Metallwerkzeugfabrik Iscar zahlen würde. Insgesamt fünf Industrieparks hat Wertheimer in Israel und der Türkei gegründet. Er ist vielleicht der reichste, mit Sicherheit aber — wenn man das gesamte Lebenswerk betrachtet — der erfolgreichste Israeli. 1991 erhielt er den Israel-Preis, die höchste Auszeichnung des Landes. Der alte Jecke ist ein Industriekapitän mit Visionen. Trotz aller Rückschläge glaubt er weiter, dass Araber und Israelis auch friedlich miteinander leben können. Und er ist stolz, dass in seinen Betrieben Juden, Araber und Drusen zusammenarbeiten. Wenn die Industrie in der Region auf die Beine kommt, lautet seine Überzeugung, sei auch der Nahost-Konflikt zu lösen. "Ich möchte, dass meine Feinde auch etwas zu verlieren haben. Und deshalb nicht meine Feinde bleiben." Vor Jahren hat Wertheimer eine Art Marshallplan für den Nahen Osten entwickelt. Viel Lob hat ihm das eingebracht, bis hinauf ins US-Repräsentantenhaus. Auch wenn das Konzept bisher nur ein Konzept geblieben ist. Mag sein, dass die Juroren ihn auch deshalb diesmal für die Buber-Rosenzweig-Medaille ausgeguckt haben. Er falle ein bisschen raus aus der Liste der Preisträger, reihe sich schlecht ein hinter Friedrich Dürrenmatt, Lea Rabin oder Joschka Fischer konstatiert der Geehrte, ein Grinsen im Anflug. "Ich bin mehr Israeli, weniger Pazifist." Und ein Macher. "Deutschland kann dem Nahen Osten helfen, wenn es dasselbe tut, was andere nach dem Krieg für das Land getan haben" , lautet seine Botschaft an die ehemaligen Landsleute. So wie General George Marshall nach dem Zweiten Weltkrieg den deutschen Wiederaufbau unterstützte, so sollen die Deutschen in die Wirtschaft und die technische Ausbildung im Vorderen Orient investieren. "Ich rede hier nicht von Israel, sondern von unseren Nachbarn" , sagt er. "Solange die Menschen dort nur ein Zehntel von uns Israelis verdienen und von einem Frieden nicht profitieren, ist es für sie ein Lebensziel, Terrorist zu sein. Helft uns die Probleme zu lösen, die wir nicht selber lösen können." Für ihn wäre das eine "andere Art der Wiedergutmachung". "Wenn man tagsüber schaffen geht" , lautet Wertheimers Philosophie, "hat man für andere Probleme weniger Zeit." Nur: Ist das nicht viel zu rational gedacht für einen Nahen Osten voller religiöser Eiferer und Dschihad-Anhängern? Nein, glaubt der Milliardär. Hinter deren Ideen steckten Zukunftsängste und Unsicherheit. Hätte er zu entscheiden, er würde als Erstes die palästinensischen Flüchtlingslager sanieren. Dass die nach bald sechzig Jahren noch immer bestehen, lastet er den Ölstaaten an, "die den israelisch-palästinensischen Konflikt im Gespräch halten wollen, um von eigenen Problemen abzulenken". Um Missverständnissen vorzubeugen: Stef Wertheimer sieht sich nicht als Taube oder Pazifisten. Was das israelische Vorgehen gegen militante Palästinenser angehe, sei er "auf Seiten meiner Regierung" , sagt er. "Deshalb sind wir aus Deutschland gekommen. Damit wir uns jederzeit verteidigen können." Geradezu glänzende Augen bekommt er, wenn er von der jüdischen Selbstverteidigungstruppe spricht, in die er 1945 eintrat. Die Palmach, die Jahre bis zur Staatsgründung 1948, sie zählt er zu "den wichtigen Zeiten in meinem Katalog" . Seine Intimfreunde, mit denen er sich freitags, vor Sabbatbeginn, in einem Café am Meer trifft, kennt er alle aus den Unabhängigkeitskämpfen mit der Palmach.
Der ungeliebten Seite seiner Vergangenheit hat er sich 1989 gestellt. Mit dem Fernsehmann Motti Kirschenbaum reiste er nach Kippenheim. Die Stadt, in der drei Jahrhunderte lang die Wertheimers zu Hause waren und in der heute kein Jude mehr lebt. "Wir wollten uns die alte Synagoge anschauen." Ein verfallendes Schmuckstück, das als Lager benutzt wurde. Wertheimer hat geholfen, das Gebäude zu restaurieren. "Bikur be Kippenheim" , Besuch in Kippenheim, heißt der Dokumentarfilm, der darüber gedreht wurde. "Wollen Sie ihn sehen?" Natürlich will man. Die Fernbedienung in der Hand hockt er gebannt in seinem Heimkino. Als ob er sich zum ersten Mal zusähe, wie er durch Kippenheimer Fachwerkgassen spaziert und Ortsansässigen begegnet. Schließlich der Gang zum jüdischen Friedhof, wo auf fast jedem Grabstein der Name Wertheimer zu lesen ist. Erinnerungen an eine verlorene Heimat, die fremd ist und doch vertraut. Er blickt auf. Diesmal bleiben die Worte unausgesprochen. "Gar nicht leicht." Beim Abschied tippt er auf ein gerahmtes Foto. Es zeigt den erweiterten Wertheimer-Clan beim jüngsten Großfamilientreff. Sein wichtigster Grund, sich lieber an die Zukunft zu halten.
Inge Günther , 28.2.2008, www.rnz.de
 
Kein Schweinefutter in der Synagoge
Stef Wertheimer will seiner Geburtsstadt nicht verzeihen
"Ich bin keinesfalls daran interessiert, dass die alte Synagoge als Kulturdenkmal ersten Ranges wiederhergestellt wird. Dies würde weder meinen Gefühlen noch denen der Kippenheimer entsprechen" — auch 71 Jahre nach seiner Flucht hat Stef Wertheimer keinen Frieden mit seinem Heimatort geschlossen. Zu tief sitzt seine Enttäuschung über die Dorfbewohner. Sein Vorwurf: Die Mehrheit hätte zu lange kein Interesse an der Wiederherstellung der alten Synagoge gezeigt. Inzwischen hat die Gemeinde das Gebäude, das zwischenzeitlich als Raiffeisen-Lagerhalle diente, renoviert und in eine Gedenk-, Lern- und Begegnungsstätte umgewandelt. Mit 20 000 D-Mark hat sich auch Wertheimer daran beteiligt, die "Schweinefutterverkäufer" — wie er sie in einem Brief nannte — aus dem Gebäude zu vertreiben. Rund 1,6 Millionen D-Mark hatte allein die Außenrenovierung Stadt, Land und Spender gekostet. Ein Brief des ehemaligen Vorsitzenden des Deutsch-Israelischen Arbeitskreises Südlicher Oberrhein, Robert Krais, mit einem Zeitungsbild des Lagerhauses, hatte 1978 den ersten Kontakt hergestellt. Die Antwort folgte prompt. Bald erklärte sich Wertheimer auch bereit, bei der Renovierung der alten Synagoge zu helfen. Ihm ging es vor allem darum, das "Gotteshaus" , in dem die "Vorfahren beteten" , nicht länger"entweiht" zu sehen. In den alten Heimatort selbst zog es den Milliardär kaum. Einmal kam er noch mit einem Fernsehteam. Ein anderes Mal mit Bus und Großfamilie. "Kopfschüttelnd stand er vor den Bildern der deportierten Juden und hat gemurmelt: ,Ich versteh das bis heute nicht " , erzählt Krais. Seitdem habe er auf keine Einladung aus Kippenheim mehr reagiert. Etwas Positives hat Wertheimer dennoch aus der Heimat mitgenommen. Als Vorbild für die ersehnte jüdisch-palästinensische Versöhnung dient ihm die heutige Freundschaft der beiden Erbfeinde Deutschland und Frankreich.
Michael Brendler, 28.2.2008, BZ

www.ehemalige-synagoge-kippenheim.de
www.dreyeck-info.de


 

 

 

Zur Idee eines zweiten jüdischen Staates

Yves Kugelmann ist Chefredakteur der Zeitschrift Tachles Für NZZ Folio, das seine Januarausgabe dem "jungen jüdischen Leben" in der Schweiz widmet, verfasste er einen Text, in dem er sich für die Idee eines zweiten jüdischen Staates, "Judäa", aussprach.

Herr Kugelmann – wie wörtlich darf man Ihren Text von der Gründung eines zweiten Judenstaates lesen?
Yves Kugelmann: Der Text soll durchaus wörtlich und ebenso im übertragenen Sinne verstanden werden. Es geht ja vor allem um die Idee. Mit dem 1934 durch Stalin ausgerufenen autonomen jüdischen Gebiet Birobidschan gab es bereits einmal einen jüdischen Staat, ebenso wie andere solche. Die Idee ist also nicht neu, aber es ist wieder mal nötig, sie in Erinnerung zu rufen. Ein zweiter jüdischer Staat würde viele festgefahrene Aspekte der aktuellen Diskussionen auf allen Seiten aufbrechen.

Aber der zweite könnte auch ein virtuelles Judäa sein, beispielsweise ein Netzwerk?
Yves Kugelmann: Es könnte ein virtuelles Judäa sein. Das ganze spielt ja ein wenig mit der Provokation. Auf der einen Seite werden Juden ja immer als Weltverschwörung dargestellt - wieso nicht das wörtlich nehmen und so etwas Virtuelles kreieren. Aber es könnte durchaus auch ein Staat sein, der auf der Landkarte etabliert wird. Mir geht es aber eigentlich vor allem um eine sehr innerjüdische Diskussion, die es gibt. Und zwar um die Position der Diaspora. Seit der Gründung des Staates Israel gab es ja immer wieder die Tendenz, zu sagen, alle Juden sollen nach Israel gehen. Und viele haben meiner Meinung nach verkannt, dass der jüdische Charakter sehr stark durch die Diaspora geprägt ist. Die Dualität zwischen Israel und Diaspora ist evident für beide. Man kann sich jetzt überlegen, ob man in der Diaspora einen jüdischen Staat etablieren möchte - sozusagen als kontradiktorische Idee zu Israel, das auf einem so genannten "Heiligen Land" gegründet wurde und somit von Feinden, Freunden und Anderen immer problematisch betrachtet werden wird. Aber, sagen wir mal, dass man ein neutrales, normales, gutes, schönes Leben führen kann, dazu braucht es eigentlich einen Staat irgendwo außerhalb Israels. Und dann kann ja jeder wählen, wo er sein Seelenheil findet. Das ist die Idee.

Und warum der Name Judäa? Es gibt ja auch ein Gebiet, das als Judäa bezeichnet wird.
Yves Kugelmann: Die Westbank wir unter anderem als Judäa bezeichnet. Aber dies ist damit nicht gemeint. Es gab zu römischen Zeiten ein Judäa. Daher rührt eigentlich der Name, von diesem historischen Judäa. Aus zwei Gründen: Weil es wirklich ein jüdischer Staat sein soll. Nicht im theologisch-religiösen Sinne, aber nach jüdischem Selbstverständnis. Und deshalb dachte ich, im Namen sollte "jüdisch" oder eben "Judäa" vorkommen. Allerdings ist dieser erste Staat dann zugrunde gegangen. Deshalb hab' ich mir gedacht: Ja, nehmen wir doch diesen Namen, den gibt's schon, und versuchen es nochmal anders.

Dieser Staat würde Ihrem Text zufolge aber allen Religionen offen stehen?
Yves Kugelmann: Ja - eben. Ich meine, es ist so: Es ist ja nichts entschieden in diesem Text. Und es steht ja zur Frage: Wird so ein jüdischer Staat ein Staat für die Juden oder ein Judenstaat sein. Das ist ja eine große Diskussion - "Was ist eine jüdischer Staat in einer säkularen Welt?" Oder: "Was ist überhaupt eine Adverbiale bei einem Staatsgebilde?" Also: "Sind jetzt die Schweiz oder Deutschland christliche Staaten?" Und nachdem Israel sich immer wieder darauf beruft, ein jüdischer Staat zu sein (was historisch und im Umfeld der Gründungsjahre logisch ist) muss man sich heute fragen, was das überhaupt sein kann. Ich plädiere immer für rechtsstaatliche Demokratien - möglichst säkular, vielleicht sogar mit laizistischer Trennung von Staat, Kirche und Religion. Aber darin sollen alle Platz haben. Was dann den jüdischen oder in Frankreich den französischen Charakter ausmacht, definiert sich dann durch anderes, wie Geschichte, Kultur, Ethik, Werte.

Wenn ich Sie recht verstanden habe, dann stellen Sie in dem Text auch die Vorzüge einer Systemkonkurrenz heraus, die nicht nur Alternativen bietet, sondern auch dafür sorgt, dass beide Alternativen sich anstrengen, besser werden. Also in etwa der Effekt, mit dem Eric Hobsbawm die Blüte von Bürgerrechten und Sozialstaat in den USA und Europa während der Zeit des Kalten Krieges erklärt. Wie könnten sich Israel und Judäa gegenseitig verbessern?
Yves Kugelmann: Ich habe mir gerade gestern mit einem Fußballfan überlegt, was wäre, wenn jetzt in der Vorausscheidung zur Weltmeisterschaft die beiden aufeinander treffen würden. Wer gewinnt - Israel oder Judäa? In den nächsten zehn Jahren gewinnt natürlich Israel, weil die alle russischen Einwanderer haben. Und die können einfach besser Fußball spielen. Mit den üblichen traditionellen Juden kommt man sportlich nicht weit. Aber das Konkurrenzsystem ist eigentlich nicht unbedingt eines im Sinne von Hobsbawm, sondern es ist eines, das sehr jüdisch ist. Nämlich dieses dialektische, das überall und immer sehr präsent war. Es gibt ja nicht nur einen Talmud, es gibt natürlich zwei Talmude. Der eine von Babylon, der andere von Jerusalem. Und alle diese Denkschulen beruhten immer auf einem dialektischen Prinzip. Genau so wie heute oder früher die orientalischen Juden sich immer aufrieben an den aschkenasischen Juden und so weiter. Da gäbe es tausend Beispiele. Es war eigentlich unlogisch, dass es nur einen jüdischen Staat gibt. Das ist sehr katholisch, würde ich sagen - dass es so ein Zentrum oder zentralistisches Gebilde gibt wie den Vatikan. Eigentlich wäre die typisch jüdische Art und Weise, dass jeder seinen jüdischen Staat gründet, wie es auch tausende von Synagogen und Richtungen gibt. Zur Verwaltung in Birobidschan haben Sie aber noch keine Kontakte aufgenommen, oder?
Yves Kugelmann: Nein. Ich habe die Idee auch noch nicht patentieren lassen. Aber ich bin ehrlich gesagt auch nicht der Erste, der über so etwas nachdenkt. Man müsste das Projekt erst einmal wirklich in die Umsetzungsphase bringen. Vielleicht zuerst mal sogar im Internet, sozusagen als Second Life.... Viele sehen ja in Manhattan irgendwie einen gelungenen jüdischen Staat. Insofern gelungen, als man dort einfach leben kann wie man will und sich nicht ständig um Sicherheitspolitik oder überhaupt Politisches oder Anderes kümmern muss. Und wiederum andere sagen ja, die Diaspora als solches sei eigentlich der richtige jüdische Staat. Oder zumindest der zweite jüdische Staat. Und ganz Gefitzte finden immer noch die Schriften die eigentliche jüdische Heimat. Wie auch immer: Israel stärken heißt, den massiven singulären Fokus von heute aufbrechen, eine neue Dialektik, ein Mehrfrontenprinzip etablieren

Kompletten Text von Peter Mühlbauer vom 11.1.2008 von Telepolis bitte lesen auf
http://www.heise.de/tp/r4/artikel/27/27038/1.html

 

Literaturprojekt - Mit Schülern über Rassismus und Antisemitismus reden

Die Sozialpädagogin und Schriftstellerin Brigitte Seidel aus Lahr hat ein Literaturprojekt geschaffen, in dem sie mit Schülern über Rassismus und Antisemitismus redet. Mit der 53-Jährigen sprach Constance Frey.

BZ: Wie stellen Sie sich den Schülern vor?
Brigitte Seidel: Ich sage: Als ich so alt war wie ihr, wollte ich Tierärztin werden oder Schriftstellerin. Dann erkläre ich, dass ich Sozialpädagogik studiert habe. Das verbinde ich heute in meinem Projekt mit dem Schreiben.
BZ: Wie sieht das Projekt aus?
Seidel: Ich lese aus meinen Texten vor. Die Schüler sollen Geschichte über meine Geschichten begreifen. Darin geht es um Rassismus, den Nahostkonflikt oder Antisemitismus.
BZ: Welche Wirkung hat das?
Seidel: Betroffenheit, weil die Schüler sich mit einer Figur meiner Geschichte identifizieren. In einer Novelle beschreibe ich, wie eine Jüdin von ihrem Kind getrennt wird. In einer anderen, wie der Nahostkonflikt eine Familie entzweit. Ich hoffe, damit Denkprozesse in Gang zu setzen, und dass sich die Schüler etwa den Nahostkonflikt vor Augen führen.
BZ: Zum Nahostkonflikt gibt es Ansichten, die stark voneinander abweichen&
Seidel: Ich beziehe bewusst keine Stellung. Die Schüler sollen sich selbst ein Bild machen.
BZ: Wie sind Sie auf dieses Projekt gekommen?
Seidel: Rassismus und Antisemitismus beschäftigen mich seit Jahren. In unserer Gesellschaft brodelt es wieder. Da muss man präventiv etwas machen. Also habe ich mir überlegt, die emotionale Intelligenz der Schüler zu fördern, die in der Schule fast nicht abgerufen wird.
12.8.2007, www.badische-zeitung.de

B
rigitte Seidel, Fasanengarten20, 77933 Lahr
Tel: 07821/ 990481, e-Mail: Kontakt at brigitte-seidel.de,
www.brigitte-seidel.de

 

Jüdische Stimme - Gegengewicht zum Zentralrat der Juden

Frauen und Männer jüdischer Herkunft haben sich Ende Oktober in Berlin in der "Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost" vereinigt. Sie verurteilen die seit 1967 andauernde Besetzung des Westjordanlandes sowie die Abtrennung des Gazastreifens von den übrigen Gebieten Palästinas durch Israel. Mitglied ist auch Evelyn Hecht-Galinski aus Malsburg-Marzell, Tochter des früheren Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland. Mit ihr sprach Mechthild Blum.

BZ: Was ist das Ziel Ihrer neuen Vereinigung?
Hecht-Galinski: Wir wollen sichtbar machen, dass Jüdinnen und Juden aus den historischen Erfahrungen um die Entwürdigung und den Schmerz wissen, die Menschen zugefügt werden, wenn sie systematisch ausgegrenzt und entrechtet werden. Wir setzen uns für Frieden und gegen Rassismus auf nationaler und internationaler Ebene ein, besonders innerhalb der Europäischen Union.
BZ: Tut das nicht schon der Zentralrat der Juden in Deutschland?
Hecht-Galinski: Ganz im Gegenteil. Unsere Vereinigung versteht sich als Gegengewicht zur "offiziellen Vertretung" des deutschen Judentums. Wir kritisieren den alleinigen Vertretungsanspruch des Zentralrats der Juden Deutschlands, der für uns Sprachrohr der israelischen Regierung ist und kritiklos die völkerrechtsverletzende und menschenverachtende Politik Israels unterstützt. Der Verein will das jüdische Streben nach Gerechtigkeit, Friedfertigkeit und den jüdischen Widerstand gegen Willkür und Unterdrückung in Ehren halten und in der jüdischen und nichtjüdischen Bevölkerung bekannt machen und zum respektvollen Zusammenleben von Menschen aus verschiedenen Kulturkreisen in Deutschland und Europa beitragen. Gerade jetzt, wo am 29. November der UNO-Teilungsplan 60 Jahre alt wird.
BZ: Sie kritisieren in diesem Zusammenhang auch die Bundesregierung?
Hecht-Galinski: Ja. Unserer Meinung nach macht sie sich mitschuldig an den Verbrechen, die am palästinensischen Volk begangen werden. Wir wollen, dass sie ihre Verpflichtung aus der Geschichte wahrnimmt und die israelische Regierung zu einer Abkehr von ihrem bisherigen Kurs zu bewegt.
BZ: Wie viele Mitglieder hat die "Jüdische Stimme" ?
Hecht-Galinski: Noch sind es nur 17 Mitglieder unter dem Vorsitz von Judith Bernstein aus München. Bis Ende des Jahres hoffen wir aber, auf 70 anzuwachsen.
BZ: Hat sich der Zentralrat der Juden Deutschlands zur Gründung der "Jüdischen Stimme" und der von ihr erhobenen Vorwürfen geäußert?
Hecht-Galinski: Wo denken Sie hin: Wir gelten doch als die "jüdischen Selbsthasser" !
14.11.207, www.badische-zeitung.de

Der Staat Israel garantiert das Überleben der Diasporajuden 
Das Grüpplein der 17 Aufrechten ("Jüdinnen und Juden" ) um Evelyn Hecht-Galinski hätte angesichts der 200 000 Juden in Deutschland, die vom Zentralrat der Juden in Deutschland und von der Union des progressiven Judentums vertreten werden, kaum so viel Aufmerksamkeit verdient, wenn diese jüdischen Menschen sich nicht vehement gegen die Politik des Staates Israel wenden würden. Das ist doch die Sensation, endlich ein paar Juden, die lauthals artikulierend das deutsche Judentum vertreten wollen. Nur: das deutsche Judentum gibt es nicht mehr. Israel ist der einzige demokratisch legitimierte Staat im Nahen Osten und die Bürger dieses Staates haben ihre jeweiligen Regierungen demokratisch gewählt. Ergo war die Mehrheit der Bevölkerung für die Politik der jeweiligen Regierung. Natürlich kann man gegen eine legitime Regierung und deren Politik in Opposition gehen und es gibt sicherlich nicht wenige Juden in Deutschland und in Israel, die nicht mit allem einverstanden sind, was dort passiert. Aber eine 2000-jährige Geschichte der Verfolgung und der versuchten Ausrottung der Juden hat uns auch gezeigt, dass ein Staat wie Israel ungemein wichtig für das Überleben des jüdischen Volkes ist. Wer garantiert uns denn angesichts des erstarkenden Antisemitismus in Deutschland (und des Antiisraelismus), dass in zwei bis drei Generationen nicht wieder eine Zuflucht gesucht werden muss? Aus der Geschichte haben wir doch lernen müssen, dass kein Land der Welt bereit war (ist) Juden in Gefahrensituationen aufzunehmen. Wenn meine Enkelkinder eines Tages aus Deutschland fliehen müssen, brauchen sie keinen Affidavit der USA, werden an der schweizerischen Grenze nicht zurückgewiesen, müssen nicht auf Schiffen rund um den Globus fahren, bis sie ein Staat gnädig aufnimmt. Nein, sie können ganz einfach ihr Leben retten, weil es einen Staat gibt, der sie ohne Wenn und Aber aufnimmt. Und das ist Israel. Und deshalb ist dieser Staat Israel für alle Juden auf der ganzen Welt wichtig, weil er das Überleben der Diasporajuden garantiert. Von jüdischem Selbsthass bei Frau Hecht-Galinski zu sprechen ist maßlos übertrieben und unrichtig. Der Hass auf den Zentralrat setzte erst ein, als Vater Galinski als Präsident des Zentralrats von Ignaz Bubis abgelöst wurde. Eine reine private Abrechnung.
BZ-Leserbrief vom 17.11.2007 von Klaus Teschemacher, Emmendingen
 
Würde sie in Sderot leben, würde sie anderes sagen 
Einen Dreispalter mit Bild widmet die BZ den Fantasien der Galinski-Tochter, die genauso sicher und ruhig wie die BZ-Redaktion im idyllischen Schwarzwald wohnt. Würde sie in Sderot im Süden Israels leben, wo täglich im Schnitt drei von Palästinensern abgefeuerte Raketen einschlagen, würde sie sicherlich nicht von "völkerrechtsverletzender und menschenverachtender Politik Israels" schreiben. Sicherlich auch nicht, wenn sie in diesen Tagen in Gaza das richtig menschenverachtende Gemetzel zwischen Hamas und Fatah erlebt hätte. Das sagt ein deutscher Christ, der 1972 im Olympiajugendlager der Deutschen Sportjugend selbst erlebt hat, was palästinensischer Terror bewirkt, damals die Zerstörung der friedlich — frohen Münchner Spiele, heute die Zerstörung eines friedlichen Lebens in Israel.
BZ-Leserbrief vom 17.11.2007 von Robert Krais, Ettenheim

Die Kritik richtet sich nicht gegen Israel als Staat
Der Begriff "Antiisraelismus" dient eher der Vernebelung von Sachverhalten als der Aufklärung über die wirklichen Gründe für das Anwachsen einer israelkritischen Haltung. Sie richtet sich in der Regel weder gegen Israel als Staat noch gegen dessen Bürger. Mehrheitlich abgelehnt wird dagegen die völkerrechtswidrige Besetzung und Aneignung angrenzender Territorien.
Den Mitgliedern der "Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost" geht es erklärtermaßen nicht um eine Parteinahme für die Palästinenser, sondern um eine gewaltfreie und gerechte Lösung des Nahostkonfliktes auf der Grundlage des Völkerrechts. Nachzulesen in der "Berliner Erklärung" der Online-Petition "Shalom 5767" .Dies dürfte nicht zuletzt im eigentlichen Interesse Israels sein. Vor dem Hintergrund, dass die israelische Regierung das Ergebnis der international überwachten, demokratischen Wahlen in Palästina nicht anerkennt, ist der Verweis Teschemachers auf Israel als den "einzigen demokratisch legitimierten Staat im Nahen Osten" nicht ohne Komik. Dagegen stimmt es traurig, dass nach den Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit das Eintreten für die Prinzipien der Völker- und Menschenrechte nicht auf uneingeschränkte Unterstützung stößt.
BZ-Leserbrief vom 21.11.2007 von Karin Hamacher, Rheinfelden

Das Schüren von Verfolgungsängsten ist kein geeignetes Mittel
Die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit für die "Jüdische Stimme" wäre sicher hinfällig, wenn auch die Vertreter des Zentralrats der Juden in Deutschland nicht unablässig, im Stile von "Good or bad, my country" ungebrochene Solidarität zu Israel, bei seinen alltäglichen Verbrechen gegenüber der angestammten Bevölkerung Palästinas eine nur schwer zu ertragende Solidarität übten. Das Schüren von Verfolgungsängsten zur Durchsetzung einer unmenschlichen Politik Israels ist sicher nicht das geeignete Mittel zur Herbeiführung eines gerechten Friedens in Nahost — wie auch der Fortsetzung des friedlichen Miteinanders in der deutschen, in unserer europäischen Demokratie. Frau Hecht-Galinski, anders als Ihr Leser dies zu vermitteln versucht, ist mit ihren klaren Stellungnahmen im Verein mit der "Berliner Stimme — Deutsche Sektion der EJJP (Europäische Juden für einen gerechten Frieden)" zur Rolle einer deutschen Jüdin in unserer Demokratie tatsächlich Vertreterin vieler Tausender deutscher Juden, in der Tat einer schweigenden Mehrheit. Die erhebliche Zahl auswandernder israelischer Juden widerspricht im Übrigen der These vom "garantierten Überleben..." Ihres Lesers Teschenmacher — sie alle haben längst erkannt, dass ein Staat, in Unfrieden mit seiner Ursprungsbevölkerung und seinen Nachbarn nicht die gewünschte Sicherheit bieten kann. Siehe "Sderot" — genannt in Ihrem Leserbrief von Robert Krais.
BZ-Leserbrief vom 21.11.2007 von Günter Schenk, Beinheim, membre du "collectif judeo-arabe et citoyen pour la paix" Strasbourg,

 

Holocaust-Überlebende Max Mannheimer bei Breisacher Schülern

Max Mannheimer, bekannter jüdischer Überlebender des Holocausts, war jüngst zu Besuch in der Münsterstadt. Im Martin-Schongauer-Gymnasium berichtete er im Zeitzeugengespräch über sein Leben und stellte sich den Fragen der Schüler des Gymnasiums und der Hugo-Höfler-Realschule. Anschließend besuchte er mit einigen Realschülern die Gedenkstätte für die deportierten Juden von Breisach.

"Ich will kein Mitleid wecken, sondern euch die Gefahren der Diktatur deutlich machen" , betonte Mannheimer, der im Jahre 1920 in Neutitschein in Nordmähren, im heutigen Tschechien, geboren wurde. Der heute 87-Jährige erzählte in Breisach über sein Leben vor und im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, und auch von der Situation der Juden während der NS-Diktatur in Deutschland: "Juden durften nach 20 Uhr ihr Haus nicht verlassen und es war ihnen nicht erlaubt, etwas zu besitzen. Sie brauchten eine Genehmigung um die Stadt zu verlassen und ihnen wurde der Buchstabe "J" für Jude in die Ausweise gestempelt." Und die Juden mussten einen Davidstern an ihrer Kleidung befestigen. Mannheimer verlor in der Nazizeit fast die ganze Familie: seine erste Frau, seine Eltern, seine Brüder Erich und Jakob und seine Schwester Käthe. Nur sein Bruder Edgar überlebte den Holocaust. Der Gast las im Martin-Schongauer-Gymnasium auch einige Passagen aus seinem Werk "Spätes Tagebuch" vor. Danach durften die Schüler Fragen stellen. Zunächst herrschte Schweigen. Es brauchte zuerst eine Ermutigung durch Max Mannheimer. Dann wollte eine Schülerin wissen, ob Mannheimer noch oft an die damalige Zeit denke. "Ich denke jeden Tag daran. Vor allem natürlich, wenn ich darüber spreche" , antwortete der Gast. Jahrzehnte nach Kriegsende habe er auf einer Mauer ein Hakenkreuz entdeckt. Daraufhin sei er zusammengebrochen. "Ich kam nicht von der Vorstellung los, dass aus Duschen statt Wasser Gas kommt" , erzählt der 87-Jährige. Um diese Halluzinationen los zu werden, habe er einige Zeit in einer psychiatrischen Klinik in Amerika verbracht. Auch das Malen habe ihm geholfen, Erlebtes zu verarbeiten.

Auf die Frage eines Schülers, ob er während der schrecklichen Zeit im KZ trotzdem an Gott geglaubt habe, antwortete Mannheimer: "Ich betete, obwohl ich meinen Glauben verloren hatte. Ich dachte mir, sicher ist sicher." Eine Schülerin wollte außerdem wissen, wie Mannheimer das Kriegsende erlebt hat. "Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie es ist, nach so vielen Wochen Krieg wieder in einem sauberen Bett zu liegen. Ich wollte danach nie wieder deutschen Boden betreten und nie wieder in einem Land leben, indem Menschen aufgrund ihrer Religion in Gaskammern gesteckt werden", erzählte der Zeitzeuge. Kurz nach Kriegsende verliebte er sich jedoch in eine Deutsche und kehrte 1946 nach Deutschland zurück. Seine zweite Frau starb mit 47 Jahren an Krebs. Heute lebt Mannheimer mit seiner dritten Frau, einer Amerikanerin, in Haar bei München.
Nach dem Gespräch im Breisacher Gymnasium besuchte der Gast, zusammen mit Christiane Walesch-Schneller, der Vorsitzenden des Fördervereins ehemaliges jüdisches Gemeindehaus, einigen Schülern der Hugo-Höfler-Realschule und ihrem Lehrer Rainer Zimmermann die Gedenkstätte für die deportierten Juden von Breisach. Auch einige Realschüler, die jüngst zum Austausch in Oswiecim gewesen waren, waren darunter. Das Breisacher Mahnmal ist mit verschiedenen Symbolen versehen. Zum Beispiel steht darauf die Zahl 34, sie soll die Zahl der deportierten Breisacher Juden angeben. Heute wisse man aber, dass viel mehr Juden aus Breisach deportiert wurden, informierte Walesch-Schneller. Mittlerweile kenne man bereits 57 Namen. Es sei jedoch wahrscheinlich, dass es noch weitere gibt. Auf dem Gedenkstein sind unter anderem auch Blutstropfen, ein Davidstern und der Buchstabe "J" zu erkennen. Max Mannheimer sprach am Mahnmal zum Abschluss seines Besuchs in Breisach das jüdische Totengebet "Kaddisch" . Danach verabschiedete er sich von den Schülern, die laut Zimmermann froh waren, die Gedenkstätte zusammen mit Mannheimer besucht zu haben.
Johanna Grab , 3.11.207, www.badische-zeitung.de
 

 

 

Die Generation der "Täter" saß vor mir und schwieg

Freiburg war um kein Haar besser. Was hatte sich in unserer idyllischen Stadt abgespielt? Wie nahe waren Wohlanständigkeit und Grausamkeit beieinander gewesen? Vierzig Jahre danach, durfte man annehmen, war wohl alles bekannt über das Jahrhundertverbrechen. Und auch die Freiburger werden ihren Beitrag zum Holocaust längst bekannt haben - dachte der SPD-Politiker, der 1982 zu ihrem Oberbürgermeister gewählt wurde. Doch dann, im Amt, stieß er auf so viele Tabus und so viel Schweigen, dass er manchmal erschrak. Jetzt, nach dem Ende seiner Amtszeit, hat Rolf Böhme darüber ein Buch geschrieben. Er kommt darin zu der nüchternen Erkenntnis: "Freiburg war offensichtlich im Dritten Reich moralisch um kein Haar besser als viele andere Städte." Das Buch erscheint in der nächsten Woche. Mit freundlicher Erlaubnis des Autors und des Verlages drucken wir hier Auszüge.

Der Wiederaufbau der Synagoge sollte ein Zeichen setzen, dass wir im Wissen und Gedenken an zwölf Jahre unseliger faschistischer Diktatur eine bessere Gegenwart und Zukunft gestalten wollen. Am 16. Juni 1985 erfolgte der erste Spatenstich. Die Stadt übergab durch Mitglieder des Gemeinderates das Portal der alten Freiburger Synagoge, welches nach deren Brand 1938 gerettet worden war. Es hatte in einem städtischen Bauhof gelagert und dort die NS-Zeit überdauert. Anwesend waren der damalige Präsident des Oberrates der Israeliten Badens, Werner Nachmann, Landesrabbiner Nathan Levinson sowie Vertreter der Freiburger Jüdischen Gemeinde. Die wichtigsten Teilnehmer waren allerdings die früheren Freiburger jüdischen Mitbürger. Das Besuchsprogramm für sie dauerte eine ganze Woche und hinterließ ein bewegendes Echo in der Öffentlichkeit und bei allen Beteiligten. Die Gastfreundschaft der Bürgerschaft war groß und wurde dankbar vermerkt. Aber die Erinnerung hielt auch auf Distanz: Der Eintrag der Gäste ins Goldene Buch der Stadt wurde als Ehre empfunden, aber es war das "Buch des Überlebens" , wie Heinz Altmann, der Vorsitzende der Israelitischen Gemeinde in Freiburg, bitter vermerkte. Und ein Besucher im Jahr 1986 antwortete der Presse auf die Frage nach der alten Heimat: "Freiburg ist meine Geburtsstadt. Ich liebe Freiburg. Aber Heimatstadt? Nein. Meine Heimatstadt hat mich vertrieben." Während der Begegnungswochen lief die tägliche Rathausarbeit weiter. So fand zeitgleich ein Seniorenfest mit rund 2500 alten Menschen in der Freiburger Stadthalle statt. Ich hatte dort ein Grußwort zu sprechen und die Seniorenveranstaltung zu eröffnen. Es gab Kaffee und Kuchen, Vesper und Viertele, serviert von Bediensteten des Städtischen Sozialamtes. Die Stadt war gastfreundlich und entsprechend heiter und guter Laune waren unsere Senioren. Mehrfach war ich als Bürgermeister bei solchen Seniorenveranstaltungen gewesen, kannte viele der Senioren persönlich und konnte sie mit wenigen Sätzen zu Applaus und guter Stimmung bringen.
Bei diesem Seniorennachmittag kam ich gerade von einem Treffen mit den früheren jüdischen Mitbürgern. Ich ging in der Stadthalle arglos auf das Podium und trug meine Begrüßung vor. Ohne jede Absicht erzählte ich vom Besuch der jüdischen Mitbürger in der Stadt und hatte eine positive Reaktion erwartet. Je engagierter ich jedoch davon berichtete, desto größer wurde das Schweigen im Saal. Es war nicht zu "überhören" , man hätte die sprichwörtliche Stecknadel fallen hören können. Es war eigentlich kein Schweigen, sondern vielmehr eine eisige Stille. Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich diejenigen Bürgerinnen und Bürger vor mir hatte, die damals die Situation erlebt und vielleicht auch selbst Hand angelegt hatten. Die Generation der "Täter", wie immer dies zu verstehen ist, saß vor mir und schwieg. Ich dachte für mich: "Das also ist die Realität" , und verstummte für einen Moment. Dann ließ ich das Thema fallen und wich aus in die Routine der üblichen Seniorenansprache. Später habe ich diese Begebenheit Michel Friedman, dem damaligen Vizepräsidenten des Zentralrates der Juden erzählt. Er kritisierte mich sofort, dass ich diese Gelegenheit nicht genutzt hätte, um der Bürgerschaft die Meinung zu sagen. Vielleicht hatte er recht. Ich konnte dies damals aber nicht, weil ich auf eine solche Reaktion überhaupt nicht vorbereitet und selbst sprachlos war.
Rolf Böhme , 20.10.2007, www.badische-zeitung.de

Rolf Böhme war von 1982 bis 2002 Freiburgs Oberbürgermeister. Er wurde 1934 in Konstanz geboren, hat Jura studiert und in Freiburg promoviert. Von 1972 bis 1982 saß der Sozialdemokrat im Bundestag, von 1978 bis 1982 war er Staatssekretär im Bundesfinanzministerium. Heute arbeitet er in Freiburg wieder als Anwalt.
Das Buch "Orte der Erinnerung — Wege der Versöhnung. Vom Umgang mit dem Holocaust in einer deutschen Stadt nach 1945" . Herder- Verlag, Freiburg 2007.
128 Seiten, 14,90 Euro


Platz der Alten Synagoge als Forum der Bürgerschaft >Freiburg4 (20.10.2007)


Nazi-Terror-gegen-Jugendliche.de - Schüler recherchieren

Über 100 Jugendliche aus Freiburg und Umgebung beteiligen sich an dem Projekt "Naziterror gegen Jugendliche" . Sie recherchieren das Leiden verfolgter Kinder und Jugendlicher im Dritten Reich. Initiator Christoph Schwarz erzählt im Gespräch mit Silvia Faller, worum es geht. Der 32-jährige Lehrer unterrichtet an der Albert-Schweitzer-Hauptschule Gundelfingen.

BZ: Jugendliche erforschen das Schicksal Gleichaltriger in der Zeit des Nationalsozialismus. "Was war der Auslöser für das Projekt?
Schwarz: Das ist eine lange Geschichte. Vor zwei Jahren war ich auf eine Ausstellung aufmerksam geworden. Die Journalistin und Aufklärerin von Nazi-Verbrechen, Beate Klarsfeld, hat auf 18 französischen Bahnhöfen gezeigt, wie der Transport der Juden in die Konzentrationslage mit der Französischen Staatsbahn organisiert war. Sie wollte eine solche Ausstellung auch in Deutschland zeigen, die Deutsche Bahn AG aber wollte davon nichts wissen. Da gründete sich die Initiative "11 000 Kinder" , viele Engagierte kamen aus Freiburg. Aus Materialien von Beate Klarsfeld und aus eigenen Recherchen habe ich dann die Ausstellung "11 000 jüdische Kinder. Mit der Reichsbahn in den Tod" erarbeitet, die im vergangenen Jahr in sechs deutschen Großstädten gezeigt wurde.

BZ: Gibt es eine Verbindung zum aktuellen Projekt?
Schwarz: Inhaltlich schon, aber es ist eine vollkommen eigenständige Aktion. Im vergangenen Jahr war die Katholische Akademie auf mich zugekommen und fragte, ob sie die Ausstellung nicht in Freiburg zeigen könnte. In den Gesprächen kam die Idee auf, die Arbeit von Jugendlichen einzubinden. Aus pädagogischer Sicht ist es sinnvoll, wenn Schüler sich selbst ein Thema erarbeiten. Es findet eine weitaus intensivere Auseinandersetzung statt als wenn sie einem Lehrer zuhören. Mitglieder der Initiative haben dann einen Arbeitskreis gebildet, dem auch ich angehöre.

BZ: Und wie war die Resonanz?
Schwarz: Wir waren überrascht. 70 Jugendliche waren zur Auftaktveranstaltung am 16. Juli gekommen. Mittlerweile sind es über 100, die an einzelnen lokalen Projekten arbeiten.

BZ: Können Sie Beispiele nennen?
Schwarz: Eine Gruppe aus Freiburg erstellt eine Dokumentation über die Stolpersteine, eine andere einen Stadtplan der Orte, an denen sich NS-Verbrechen vollzogen haben. Wieder andere recherchieren zum Thema Euthanasie oder über die Verfolgung der Sinti und Roma. Stets liegt der Focus auf Kinder und Jugendliche. Eine Ausstellung in der Katholischen Akademie wird die Projekte bündeln. Sie wird am 28. Januar 2008, am Holocaust-Gedenktag eröffnet.

BZ: Leiten Sie selbst eine Gruppe?
Schwarz: Ja, an meiner Schule in Gundelfingen. Wir beschäftigen uns mit Einzelschicksalen von Kindern aus Freiburg und Umgebung.

BZ: Jüngst wurde der jüdische Friedhof in Ihringen geschändet. Was hat das bei Ihnen ausgelöst?
Schwarz: Betroffenheit und Bestürzung. Es ist schlimm, dass es heute Rechtsradikale gibt, die in die Fußstapfen der Nationalsozialisten treten. Ich denke, solche Leute wird es immer geben. Es ist wichtig, dass sich ihnen couragierte Menschen entgegenstellen. Dieses Projekt wird dazu beitragen, dass viele Jugendliche sich das schlimme Geschehen damals vergegenwärtigen und darin bestärkt werden, Zivilcourage zu zeigen, wenn es darauf ankommt.

BZ: Warum beschäftigen Sie sich so intensiv mit der NS-Vergangenheit Deutschlands? Hatten Sie ein Schlüsselerlebnis?
Schwarz: Ja, Auslöser war die Ausstellung über das Leben Kurt Georg Kiesingers des Stuttgarter Hauptstaatsarchivs im Jahr 2004. Im begleitenden Katalog heißt es, dass Kiesinger eine "weit verzweigte und außerordentlich erfolgreiche Widerstandsarbeit geleistet" hätte. Diese Aussage hat mich wütend gemacht. Im Dritten Reich war Kurt Georg Kiesinger im Auswärtigen Amt für die Propaganda zuständig. Aber ich bin schon mein ganzes Leben mit den NS-Verbrechen konfrontiert. Meine Großmutter war als Halbjüdin im Konzentrationslager Ravensbrück interniert. Sie hat überlebt.

www.nazi-terror-gegen-jugendliche.de , 17.10.2007

 

 

 

Alemannia Judaica besucht Ruhestätten in Ihringen und Mackenheim

Am Wochenende traf sich die Alemannia Judaica, eine Arbeitsgemeinschaft von Mitarbeitern von Gedenkstätteninitiativen und singulär forschenden Einzelpersonen, in Breisach und im elsässischen Mackenheim. Dabei besuchten die Teilnehmer der Jahrestagung Orte, die bereits im 17. Jahrhundert, als sich in Breisach eine jüdische Gemeinde ansiedelte, für diese Bevölkerungsgruppe in Zusammenhang standen.

 Jüdischer Friedhof Ihringen 10/2007 - Bild Uri Scheer-Nahoor Jüdischer Friedhof Ihringen 10/2007 - Bild Uri Scheer-Nahoor

Im Dezember 1638 war es, als im Zuge des Dreißigjährigen Krieges die vorderösterreichische Stadt Breisach an den für die Franzosen kämpfenden Herzog Bernhard von Sachsen-Weimar fiel, zu dessen Gefolge ein Jude gehörte. Mit diesem namentlich nicht genannten Pferdehändler, der als Lieferant für die Breisacher Garnison tätig war, soll die erneute Entstehung einer jüdischen Gemeinde nach 200jähriger Unterbrechung in Breisach ihren Anfang genommen haben.
Das Ansiedeln und Wachsen einer jüdischen Gemeinde ist die eine Sache, aber wo wurden die Toten bestattet? Wer weiß, dass ein jüdischer Friedhof auf Ewigkeit angelegt sein muss, kann ermessen, dass diese Frage in Breisach kaum innerhalb weniger Jahre geklärt werden konnte. Deshalb griff man auf einen jüdischen Friedhof zurück, der schon lange bestand, jedenfalls so lange, dass man sich einem Schriftstück von 1629 zufolge, nicht genau an die Anfänge erinnern konnte. Im 18 km nördlich gelegenen elsässischen Dorf Mackenheim, ganz in der Nähe von Marckolsheim, gab es diesen „Judengarten“, der bis ins Jahr 1755 als letzte Ruhestätte für die jüdischen Toten der inzwischen längst schon wieder vorderösterreichisch gewordenen Stadt Breisach fungierte.

Hier kam die Orientierung der Breisacher Juden nach Westen mehr oder weniger freiwillig zustande, in einem anderen Fall stand Zwang dahinter. Laut einer Bittschrift der Breisacher Zunftmeister an den königlichen Intendanten wollte man 1681 die Ausweisung der Juden aus der Stadt Breisach erwirken. Das gelang nicht vollständig, aber ein Großteil der jüdischen Familien wurden zwangsweise auf eine im Rhein gelegene Insel umgesiedelt, im Volksmund „Strohstadt“ oder „Ville de Paille“ genannt. Nur 7 jüdischen Familien wurde der Verbleib in der Altstadt gestattet. Diese „Ville neuve de Brisach“ hatte Bestand bis 1699 und wurde dann im Zuge der Rückgabe Breisachs an Vorderösterreich abgerissen. Heute erinnert wenig an die Ansiedlung. Dennoch ist sie in Folge der Rheinregulierung auf elsässischem Boden auszumachen und war eine der Anlaufstellen, die die Teilnehmer der Jahrestagung der Alemannia Judaica ansteuerten.
Hauptsächlich aber weilte man in diesem Jahr in Mackenheim. Eingeladen hierzu hatte der Bürgermeister Jean-Claude Spielmann, der zugleich Vorsitzender des zur Erhaltung des Friedhofs gegründeten Vereins „Les Amis du Judengarten“ ist. Zum ersten Mal übrigens in den 20 Jahren, in denen der Arbeitskreis zusammenkommt, fand das Treffen im Elsass statt. Lange musste man darauf warten, sagt Günter Boll, der ausgewiesenen Kenner der jüdischen Geschichte hierzulande. Dabei kamen seiner Einschätzung nach die Hauptimpulse zur Erforschung des Landjudentums von dort.
Zum Abschluss der Tagung wechselte man wieder auf die deutsche Seite: Auf dem
Ihringer jüdischen Friedhof trafen sich die Teilnehmer mit weiteren engagierten Bürger und dem Regierungspräsidenten Dr. Sven von Ungern-Sternberg zu einem Gedenken, das als stiller Protest gegen die erneute Schändung des Friedhofs im vergangenen August ein Zeichen setzen sollte.
Friedel Scheer-Nahor , 8.10.2007

 

 

Geschichte der Juden in Freiburg

1230
: Zum ersten Mal werden Juden in der Stadt erwähnt.
1300  gibt es hier das erste jüdische Gotteshaus.
1349: Juden werden beschuldigt, für die Pest im Jahr zuvor verantwortlich zu sein — und werden verbrannt.
1424: Die Juden werden aus der Stadt vertrieben.
1520: Das Stadtrecht erlaubt Juden das Betreten Freiburgs nur in Begleitung des Stadtknechts (galt bis ins 18. Jahrhundert hinein).
1791: Simeon Hochheimer von Veitshöchheim erhält die medizinische Doktorwürde der Universität.
1808: Die großherzoglichen Erlasse zur Gleichstellung der Juden bleiben in Freiburg ohne Folgen.
1846: Die Volkszählung erfasst 20 Juden in der Stadt.
1849: Der Advokat Naphtali Näf wird erster jüdischer Gemeindebürger
          (wird aber ein Jahr später wieder aus dem Bürgerbuch gestrichen).
1865: Gründung der ersten Israelitischen Gemeinde und in der Folge Anlage eines Friedhofs.
1870: Einweihung der Synagoge am Werderring.
1925: In Freiburg leben etwa 1400 Jüdinnen und Juden.
1938: Am 10. November zünden andere Deutsche die Synagoge an.
1940: Im Oktober werden die Juden aus der Stadt ins Konzentrationslager Gurs deportiert.
1942: Die letzten jüdischen Freiburger werden ins KZ Theresienstadt abtransportiert.
1945: Im Dezember gründet sich die Jüdische Gemeinde neu.
1953: Einweihung des Betsaals in einem Haus an der Holbeinstraße.
1987: Einweihung der neuen Synagoge an der Engelstraße (5. November).
1991: Die ersten Juden aus Osteuropa kommen und lassen in den Jahren danach die Gemeinde von 200 auf 900 Mitglieder wachsen.
1998: Jüdinnen und Juden tun sich zu der Egalitären Jüdischen "Chawurah Gescher" zusammen, die 2004 zu einem eingetragenen Verein wird und heute Kontakt zu 80 Menschen hat.
2002: Nach den Gemeindeneugründungen in Emmendingen und Lörrach hat die Freiburger Jüdische Gemeinde (die Einheitsgemeinde) knapp 700 Mitglieder.
29.9.2007, BZ

20 Jahre Synagogen-Jubiläum in Freiburg  >Kirchen3 (29.9.2007)

 

Chawura Gescher: Jüdisch-christilicher Kalender - Bilderverkauf

Heute ist der 1. Tischri — nach jüdischer Zeitrechnung. Und es ist der erste Feiertag, den der neue jüdisch-christliche Kalender der Liberalen jüdischen Gemeinde Freiburg, Chawura Gescher, vermerkt: Denn, was für Christen einfach der 13. September ist, ist für Juden der Neujahrstag — Rosh haShana — mit ihm beginnt am heutigen Tag das Jahr 5768.

Da beide Kalender geringfügig abweichend zählen, verändert sich von Jahr zu Jahr, wie die Tage beider Zeitrechnungen zueinander liegen. Im kommenden Jahr 2008 wird das jüdische Neujahrsfest (für 5769) wie immer am 1. Tischri beginnen, der dann aber auf den 30. September fällt.
Im Kalender der Chawura Gescher, werden von September 2007 bis Dezember 2008 für jeden Tag beide Daten genannt — jüdische und christliche — und es sind alle Festtage beider Religionen eingetragen, ausgestattet mit Kinderzeichnungen aus einem interreligiösen Projekt für ein Dutzend Kinder im Grundschulalter. Die gehören entweder zur Chawura Gescher oder zu deren Förderkreis und haben in einem fünfmonatigen Projekt viel über christliche und jüdische Feste und Feiertage gelernt — und das Ganze anschließend in Bilder gepackt. Judith Franz (5) erklärt: "Auf meinem Bild sind Wein und Honig und ein Horn" — farbenfroh in Szene gesetztes Zubehör zu Rosh haShana — "das Horn heißt Shofar und der Honig soll das ganze Jahr versüßen." Ihr Bruder David (8), hat das Chanukkah-Bild für 2008 gemalt, "ein Mann zündet die Kerzen am Chanukkah-Leuchter an" , das Tischtuch kräftig gemustert, die Stuhlbeine geringelt. "Bei uns zu Hause feiern wir Weihnachten" , erzählt David, im kommenden Jahr fallen beide Feste auf dieselben Tage. Welches der Feste das schönste ist? Clara Jael Krüger (8) findet alle schön — und hat etliche ins Bild gesetzt, inklusive dem Pessach-Seder-Teller. Was da draufgehört — zum Beispiel Petersilie, die in Salzwasser getunkt wird, haben die Kinder von Monika Miklis (Jüdische Studien, Heidelberg) gelernt. Fürs Bildermalen gab es dann anschließend einen Malkurs bei Viktor Knack von der Freiburger Kunstschule.
Gefördert wurde das Ganze von der "Aktion Mensch" — und zu sehen sind sämtliche Bilder in einer Ausstellung, die am Sonntag, 16. September, 15.30 Uhr in der Fürstenbergstraße 6 eröffnet mit der Versteigerung einiger Bilder und - versteht sich - mit Kalenderverkauf.
123.9.2007,
www.gescher-freiburg.de

Warum das Jahr 5768 anstelle von 2007?
Am Mittwochabend hat nach dem Jüdischen Kalender das Jahr 5768 begonnen. Und natürlich war sofort die Frage da: Woher weiß die Jüdische Religion so genau, dass alles im Jahre 3761 vor der üblichen Zeitrechnung begann? Ganz einfach: Gelehrte rechneten anhand der in der Bibel aufgeführten Geschlechterfolgen und Lebensjahre bis auf Adam zurück — und schon waren sie bei der Schöpfung der Welt im Jahre 3761 vor Christus angekommen. Da war auch Patriarch Hillel II. im Jahre 359 nach Christus mit seinen systematischen Berechnungen gelandet. Das kommt davon, wenn Bibel und Mathematik sich paaren!

 

Evelyn Hecht-Galinski - Du darfst das sagen

BZ-Interview mit Evelyn Hecht-Galinski über jüdische Kultur in Deutschland, den Einfluss der Israel-Lobby und ihren Vater, den ersten Zentralratsvorsitzenden

Nach Krieg und Holocaust hat ihr Vater Heinz Galinski den Juden in Deutschland wieder zu einer Stimme verholfen. Tochter Evelyn Hecht-Galinski (58) dagegen gilt dem Zentralrat der Juden eher als Enfant terrible. Mechthild Blum und Stefan Hupka sprachen mit ihr anlässlich des bevorstehenden "Europäischen Tages der jüdischen Kultur" .

BZ: Frau Hecht-Galinski, andere Religionen setzen unübersehbare Zeichen in Deutschland, mehr und mehr auch die Muslime, siehe Kölner Moschee. Kann man da als Jüdin eifersüchtig werden?
Hecht-Galinski: Dazu besteht kein Anlass. Denken Sie an die jüdischen Gemeindezentren in Deutschland, gerade das neue in München. Wenn aber die Zentralratsvorsitzende, Frau Knobloch, sagt, wir seien damit "endlich in der Mitte der Gesellschaft angekommen" , muss ich lachen. Gemeindezentren gibt es hier seit Jahrzehnten. Aber ist die jüdische Kultur in Deutschland wieder angekommen? Ich sage Nein.
BZ: Wieso nicht?
Hecht-Galinski: Dass die ursprüngliche deutsch-jüdische Kultur von den Nazis ausgerottet wurde, muss ich nicht erwähnen. Heute haben wir zwar eine Inflation jüdischer Kulturtage, aber die meisten sind eigentlich israelische Tage und werden von der Lobby und dem Zentralrat dazu benutzt, aktuelle Israelpolitik zu verkaufen. Wir als "Jüdische Stimme" gründen uns jetzt als Verein, um mitreden zu können. Wir wollen nicht missbraucht werden als Juden für eine Politik, die wir für menschenrechtswidrig halten.
BZ: Was muss passieren, damit jüdische Kultur in Deutschland wieder ankommt?
Hecht-Galinski: Für mich ist jüdische Kultur heute erst wieder erreicht, wenn die hiesigen jüdischen Gemeinden und der Zentralrat der Juden in Deutschland die Tradition des liberalen deutschen Judentums in den Vordergrund stellen. Dazu gehört auch konsequente Integration der Einwanderer. Das Berliner Gemeindeblatt erscheint zur Hälfte in russischer Sprache und Schrift. Das kann es ja nicht sein, so sieht für mich keine gelungene Integration aus.
BZ: Wenn man die Neuen noch nicht auf Deutsch erreichen kann, ist es vielleicht nicht schlecht, es wenigstens auf Russisch zu probieren.
Hecht-Galinski: Gut. Aber es geht auch um die Inhalte. Und da wird schon den Jugendlichen der zionistische Gedanke vermittelt, dass das Heil im Staate Israel liegt und sie doch besser alle nach Israel gehen sollten. Das finde ich sehr bedenklich.
BZ: Es gibt aber auch Gegenstimmen.
Hecht-Galinski: Ja, aber nicht unter dem Dach des Zentralrats. Stattdessen haben in Berlin jetzt amerikanische Chabad-Gemeinden mit Billigung des Zentralrats und Geldern der Lauder-Stiftung ein großes Bildungszentrum errichtet, das an diesem Sonntag eingeweiht wird, und einen großen Teil der Jugendarbeit an sich gezogen. Das sind Vertreter eines ganz orthodoxen Judentums, eigentlich eine Sekte.
BZ: Sie selbst sind doch eine Gegenstimme, Sie bezeichnen sich als Antizionistin.
Hecht-Galinski: Ja, aber das Problem ist, dass Israelkritiker und Zentralratskritiker diffamiert werden. Ich bin zum Beispiel eine "voller Selbsthass steckende Jüdin"

BZ: So etwas bekommen Sie zu hören?
Hecht-Galinski: Sicher. Auch die Holocaust-Opfer werden missbraucht für diese Politik. Wobei nicht wenige von ihnen aus Israel nach Deutschland kommen, um hier einen besseren Lebensabend zu verbringen, als in diesem militärisch hochgerüsteten Israel, das jeden Cent für die Rüstung ausgibt.
BZ: Sind Sie eigentlich schon Ihrem Vater gegenüber als Dissidentin aufgetreten, dem früheren Zentralratsvorsitzenden Heinz Galinski ?
Hecht-Galinski: Sicher, mein Vater war ja auch in dieses System eingebunden, aber wir haben viel darüber diskutieren können. Und wenn ich eine andere Meinung hatte, gab es auch mal Krach, aber damit hatte sich das. Wenn ich heute vom Deutschlandfunk interviewt werde, schreibt der Zentralrat anschließend an den Intendanten, dass diese "Einzelstimme" und "Minderheit" im Deutschlandfunk nichts verloren habe. Das habe ich schwarz auf weiß.
BZ: Dass Sie in der Minderheit sind, würden Sie aber nicht bestreiten?
Hecht-Galinski: Nein, das ist wahr. Aber inzwischen schließen wir uns in ganz Europa zusammen und auch in den Vereinigten Staaten. "Europäische und amerikanische Juden für einen gerechten Frieden." Viele haben mal klein angefangen.
BZ: Verpflichtet nicht das Jahrhundertverbrechen, das im deutschen Namen vor siebzig Jahren an den Juden verübt wurde, jede Bundesregierung zu einer wohlmeinenden Haltung gegenüber Israel?
Hecht Galinski: Nein, das kritisieren und dagegen protestieren wir. Dass man gute Beziehungen pflegt, ist ja in Ordnung. Aber das darf nicht zur Billigung einer Politik führen, die Menschenrechte mit Füßen tritt. Das wäre eine Schande für Deutschland.
BZ: Aber das Existenzrecht Israels steht für Sie nicht zur Debatte?
Hecht-Galinski: Nein. Wohl aber das Existenzrecht des Staates, der jetzt so in diesen Grenzen existiert.
BZ: Wie sind Sie in die Rebellenrolle geraten. Gab es da Schlüsselerlebnisse? Hat das mit Israelbesuchen zu tun?
Hecht-Galinski: Ja, auch das. Die Beobachtung etwa, dass und wie man dort über Palästinenser die Nase rümpfte, zumal auf angeeignetem Land.
BZ: Wie lange ist das jetzt her?
Hecht-Galinkis: Mehr als zehn Jahre bestimmt.

BZ: Keine Lust, mal wieder hinzufahren und die Meinung zu überprüfen?
Hecht-Galinski: Nein, ich will da nicht hin. Nicht, solange die Politik sich dort nicht ändert
BZ: Denkt der Zentralrat eigentlich demokratisch?
Hecht-Galinski: Nicht die Spur. Er hat es etwa geschafft, jegliche Kritik als Antisemitismus zu diffamieren. Damit hat er selbst Nachkriegsgenerationen so eingeschüchtert, dass sie den Mund nicht mehr aufmachen. Meine Freunde sagen immer: Ja, du darfst das sagen, aber wir nicht. Das Schlimmste in Deutschland ist ja, als Antisemit zu gelten.
BZ: Die Antisemitismuskeule wird zu früh herausgeholt? Dann hätte Martin Walser ja recht.
Hecht-Galinski (lacht): Ja, obwohl ich kein Freund von Herrn Walser bin — denn er ist nicht die richtige Person, so etwas anzuprangern, und er hat es am falschen Ort getan, in der Paulskirche — , aber da hat er mal etwas Richtiges gesagt.
BZ: Prägt der Zentralrat die Wahrnehmung der jüdischen Kultur in Deutschland?
Hecht-Galinski: Leider ja. Und die israelische Botschaft prägt mit, samt Organisationen wie "Honestly concerned" , "I like Israel" und andere.
BZ: Fürchten Sie nicht, Antisemiten und Rechtsradikalen in Deutschland als Kronzeugin zu dienen?
Hecht-Galinski: Nein, die wird es immer geben. Was da in Ostdeutschland vorgeht, dagegen nützen nicht immer mehr Millionen für die Bildung sondern nur eine harte Polizeihand. Und viele Leute wird man auch nicht ändern können, egal was der Zentralrat sagt oder was ich äußere. Im Gegenteil, das ist ja die Politik des Zentralrats, gegen die wir uns wehren, dass wir alle schweigen sollen mit dem Argument, immer wenn Ihr den Mund aufmacht, spielt Ihr den Antisemiten in die Hände. Ich sehe dagegen Israels Politik den Antisemitismus stärken.
BZ: Trifft Deutschland in Israel den richtigen Ton?
Hecht-Galinski: Nicht immer. Und nehmen Sie nur die Gedenkstätte Yad Vashem. Die wird instrumentalisiert. Es ist richtig, dorthin zu gehen und sie auf sich wirken zu lassen. Aber es wird zum Ritual, dass ein Politiker sofort nach der Landung dahin gekarrt wird. Das legt die israelische Regierung den deutschen Besuchern nahe, und wehe, die sagen, ich gehe da nicht mehr hin. Joschka Fischer war bestimmt 35-mal dort.
BZ: Eine Bußübung?
Hecht-Galinski: Ja, man geht hernach schon eingeschüchtert in die anstehenden Gespräche.
BZ: Wenn Sie sich die Zentralratschefs so anschauen, Galinski, Lewin, Nachmann, Bubis, Spiegel oder jetzt Frau Knobloch, wer überzeugt Sie da am meisten?
Hecht-Galinski: Ehrlich gesagt keiner. Mein Vater hatte da noch am ehesten originelle Motive. Er kam aus dem KZ und nahm sich vor, wieder jüdisches Leben in Deutschland aufzubauen. Er hat auch nie auf gepackten Koffern gelebt. Und ich wuchs deshalb völlig integriert auf. Meine Mutter wollte immer nach Amerika auswandern, mein Vater nur sehr ungern. Dann kam ich glücklicherweise zwei Monate zu früh zur Welt, damit war der Fall erledigt und mein Vater konnte seine Arbeit hier weitermachen.
BZ: Sie wären nicht gern Amerikanerin geworden?
Hecht-Galinski: Nein, heute erst recht nicht.
BZ: Allerdings ist jüdische Kultur in New York, Boston oder Chicago viel präsenter, selbstverständlicher und selbstbewusster als in Deutschland.
Hecht-Galinski: Das schon. Allerdings hatte ich Pech mit meiner amerikanischen Gastfamilie in New York, in der ich als Jugendliche war. Da wurde von morgens bis abends nur über Auschwitz gesprochen. Es war die Hölle. Ich habe es nicht mehr ertragen.

BZ: Stört es Sie eigentlich, wenn man Sie als Nestbeschmutzerin bezeichnet?
Hecht-Galinski: Nein, damit kann ich wunderbar leben, weil es nicht stimmt.
BZ: Und fühlen Sie sich manchmal bedroht?
Hecht-Galinski: Nein, ich werde auch weiter öffentlich auftreten. Ich fühle mich ganz normal und kein bisschen verfolgt. Das hat auch mit meiner Herkunft zu tun. Mein Vater war zwar im KZ, aber ich bin danach ganz "normal" erzogen worden, wir hatten ein offenes Haus und auch immer nichtjüdische Freunde und Besucher.
BZ: Wann waren Sie zuletzt in einer Synagoge?
Hecht-Galinski: Schätzungsweise 1992.
BZ: Was bleibt vom Jüdischsein, wenn man nicht religiös ist? Eine Weltanschauung?
Hecht-Galinski: Die Abstammung. Und eine Wertegemeinschaft, wenn auch eine zerstrittene.

Badische Zeitung Freiburg, 1.9.2007

Evelyn Hecht-Galinski, geboren 1949 in Berlin, ist Tochter des ersten Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Heinz Galinski (1912— 1992). Sie lebt mit ihrem Ehemann in Malsburg -Marzell.
Mitglied bei www.juedische-stimme.de

 

Kein Jude wird dazu gezwungen, sich orthodox ausbilden zu lassen
Evelyn Hecht-Galinski regt sich über die neue Berliner Ausbildungsstätte aus, sei diese doch ausgesprochen orthodox. Nun, soweit es religiöse Fragen betrifft, gebe ich zu, dass auch ich damit so meine Mühe habe. Aber warum sich gleich darüber aufregen? Es sollte Evelyn Hecht-Galinski doch bekannt sein, dass kein Jude dazu gezwungen wird, sich orthodox ausbilden zu lassen. Wer das aber will, der soll die Freiheit haben, das auch uneingeschränkt zu machen. Das nennt man Toleranz, eine Eigenschaft, die sie unmissverständlich nicht besitzt! Und noch etwas sollte Evelyn Hecht-Galinski bekannt sein: Die jüdische Religion, orthodox und liberal, ist wohl die einzige Religion, die nicht nur kein Missionieren kennt, sondern dies auch klar ablehnt. Und somit gibt es einen weiteren Grund, sich über die Orthodoxie nicht aufzuregen. Die Antwort Evelyn Hecht-Galinskis auf die Interview-Frage nach dem "Jüdischsein" möchte ich kurz streifen: Was (ihr) davon bliebe, sei "die Abstammung. Und eine, wenn auch zerstrittene, Wertegemeinschaft" , sagt sie. Sie kämpft gegen alles, was jüdisch ist: Das Gerede über den Holocaust, die orthodox-religiöse Ausbildung, den Zentralrat der Juden, gegen den Staat Israel und vieles mehr. Sie scheut sich dabei nicht einmal, das ärmliche Muster der Nachkriegsdeutschen zu verwenden, demzufolge damals keiner Parteimitglied oder gar nazifreundlich gewesen sei, man habe ja sogar mal einen jüdischen Freund oder Nachbar gehabt. Ins gleiche ärmliche Horn bläst Evelyn Hecht-Galinski, wenn sie als Beweis ihrer Weitsicht erwähnt, dass ja bei ihr auch immer "nicht-jüdische Freunde und Besucher" ein- und ausgingen. Nein, mir ist nicht zum Lachen — eher zum Heulen! Aber dazu bin ich inzwischen wohl zu alt. Und habe zu viel überlebt — auch den Holocaust. Wenn ich Frau Hecht-Galinski aufgrund meines Alters, einen Rat geben darf: Kämpfen Sie nicht länger gegen etwas, sondern für gute Ideen! Kämpfen Sie dafür, dass es in Deutschland keine 2,5 Millionen arme Kinder mehr geben darf. Dass es im reichen Deutschland nicht länger Menschen geben darf, die sich tagtäglich abrackern und von ihrem Lohn ihre Familie nicht ernähren können. Und da gäbe es sonst noch vieles, wofür es sich für eine junge Frau zu kämpfen lohnen würde! Dann würden Sie sich endlich die Achtung und Aufmerksamkeit verschaffen, wonach Sie so offensichtlich lechzen. Gerade wegen Ihrer Abstammung und der (angeblichen) Wertegemeinschaft!
BZ-Leserbrief vom 13.9.2007 von Siegmund (Simon) Beck, Grenzach-Wyhlen
 
Ich hoffe, dass an die Tradition liberalen Judentums angeknüpft werden kann
Jedes mal freue ich mich, Frau Hecht-Galinskis Stellungnahmen zu lesen in Bezug auf den Druck, den Israel und seine Interessenverbände gegenüber jeglicher Kritik an der Politik des Landes ausüben. Auf mehreren politischen Reisen nach Israel habe ich das Land und seine Menschen lieben gelernt und bewundere nach wie vor die gewaltige Leistung des Aufbaus eines funktionierenden modernen Staates. Jedoch bleibt bekanntlich die palästinensische Frage eine offene Wunde in dieser Erfolgsbilanz. Noch immer scheint das problematische Diktum Theodor Herzls unhinterfragt zu gelten von "dem Volk ohne Land, das in ein Land ohne Volk" komme. Bei meinen israelischen Freunden vermisse ich ein Verantwortungsgefühl für den Tatbestand der Vertreibung des anderen Volkes, ebenso wie in der Politik nach 1967 produktive politische Ansätze zu einer friedlichen Lösung. Sämtliche Angebote seitens der jeweiligen israelischen Regierung betreffs der Westbank waren Lippenbekenntnisse, ohne die Absicht einer Verwirklichung. Meine Freunde dort verbitten sich von mir, was sie als unbefugte Einmischung von außen ansehen, speziell von einer nicht-jüdischen Deutschen. Als sie mich in die antisemitische Ecke stellten, brach der Kontakt ab. Wenn sich Frau Hecht-Galinski mit der Gründung ihres Vereins auf die große Tradition des liberalen deutschen Judentums beruft, das auf so entsetzliche Weise unterging, dann hoffe ich, dass an diese Tradition angeknüpft werden kann im Sinn einer intelligenteren Lösungssuche für das israelische Problem.
BZ-Leserbrief vom 13.9.2007 von Margret Roesler, Lörrach
 
Vielen ist die moderate "Jüdische Stimme" nicht bekannt
Ich kann Evelyn Hecht-Galinski voll und ganz zustimmen: Auch mir wurde von einem jüdischen Gemeinderatsvorsitzenden gesagt, dass sich seine jüdische Gemeinde mit den Ansichten des Zentralrats der Juden identifiziere. Dass dabei die hier angekommenen Juden Russlands in ihrer Abhängigkeit und Neuorientierung vollständig vereinnahmt werden, konnte ich zu meinem Entsetzen feststellen. Ein Gesprächskreis zwischen Deutschen und neuangekommenen Juden Russlands wurde dabei zerstört. Somit blieb hier ein Versuch der Integration der jüdischen Einwanderer mit Deutschen aus. Ich denke, dass diesen eingewanderten Juden (und ebenfalls vielen Deutschen) die moderate "Jüdische Stimme" nicht bekannt ist, die das Vorgehen der Israelis gegen die Palästinenser als Menschenrechtsverletzung kritisiert. Insofern einen herzlichen Dank für diesen Artikel. Möge der Mut von Evelyn Hecht-Galinski erhalten bleiben.

BZ-Leserbrief vom 13.9.2007 von Inge Mertes, Lörrach
 
Wo soll bei dieser Frau denn der Hass stecken?
Eigentlich traue ich mich gar nicht, auf dieses lange Interview mit Evelyn Hecht-Galinski zu antworten, zu groß scheint mir die Gefahr zu sein, missverstanden zu werden. Ich finde es erschreckend, dass es Menschen gibt, die Evelyn Hecht-Galinski als eine "voller Selbsthass steckende Jüdin" bezeichnen. Wo soll bei dieser Frau, die sich für einen umfassenden Dialog und echte Meinungsfreiheit einsetzt, denn der Hass stecken? Ich habe gleich die Website ihrer Organisation besucht (www.juedische-stimme.de) und bin beeindruckt, was diese Menschen erreichen wollen. Danke an die BZ, dass sie mit diesem Interview dazu beigetragen hat, eine differenziertere Diskussion zum Judentum fortzuführen. Es werden so viele Fragen aufgeworfen, die nach Klärung verlangen: Was wollen denn Chabad (-Lubawitsch) -Anhänger überhaupt? Warum sind manche Juden solche Gegner von Zionisten? Was will der Zionismus erreichen? Was bedeutet "jüdisch sein" ? Evelyn Hecht-Galinski zeigt deutlich auf, dass es nicht "die" Juden gibt, sondern sehr unterschiedliche Strömungen, die gerade Deutsche nicht nur oberflächlich wahrnehmen sollten. Wir brauchen mehr denn je eine Vielfalt an Stimmen und eine faire Diskussion auf der Basis der universalen Menschenrechte. Aus Angst vor Diffamierung zu schweigen, kann nicht zu wirklicher Verständigung und Konfliktlösungen führen.
BZ-Leserbrief vom 13.9.2007 von Michael Bergis, Kenzingen

 

 

Tag der jüdischen Kultur am 2.9.2007: Drei Führungen

Die "Spuren" jüdischer Kultur - so das diesjährige Motto - entdecken können Interessierte am "Europäischen Tag der Jüdischen Kultur" am Sonntag, 2. September, auch in Freiburg gleich bei mehreren Veranstaltungen.

Zum einen bietet die Israelitische Gemeinde um 11 Uhr eine Führung in der Synagoge an der Engelstraße 1 mit Rabbiner Benjamin D. Soussan an.
Und um 14 Uhr kann man den Jüdischen Friedhof, der an der Elsässer Straße 35 liegt, bei einer Führung besichtigen.
Außerdem kann man sich anhand der "Stolpersteine" , die in viele Gehwege in Freiburg zum Gedenken an ehemalige jüdische Freiburger und Freiburgerinnen, die von den Nationalsozialisten deportiert wurden, erinnern, "Spuren" entdecken. Die Freiburger Stolperstein-Initiative bietet eine Führung zu all jenen Steinen an, die in der Nähe der ehemaligen, alten Synagoge, die auf dem Platz gegenüber vom Stadttheater stand, zu finden sind. Der Treffpunkt zu dieser Führung ist am Sonntag, 2. September, 12 Uhr in der Bertoldstraße 31. In diesem Haus hatte der in Freiburg geborene Metzgermeister Max Mayer gelebt, der im Alter von 54 Jahren im Konzentrationslager Auschwitz ermordet wurde.

Der "Europäische Tag der Jüdischen Kultur" wird seit 1996 in 31 Ländern begangen. Die Veranstaltungen, die Einblick in vergangenes und gegenwärtiges jüdisches Leben geben, finden sich für Baden-Württemberg und das Elsass in einem gemeinsamen Programm. Damit soll auch auf die historischen und kulturellen Verbindungen entlang des Rheins hingewiesen werden. Besucht werden können (ehemalige) Synagogen, Mikwen oder Friedhöfe, es gibt unter anderem Führungen, Vorträge, Konzerte, Lesungen. Mehr zum Programm im Internet unter www.gedenkstaetten-bw.de/gedenk.htm
31.8.2007

 

Biografie würdigt die Freiburger Widerstandskämpferin Gertrud Luckner

Zu ihrem 100. Geburtstag vor sieben Jahren widmeten die "Freiburger Rundbriefe" ihr ein Themenheft - jene Zeitschrift, die sie mitbegründet und noch 86-jährig herausgegeben hatte. Zahlreiche Aufsätze über Gertrud Luckner sind erschienen, und selbst die Ermittlungsakten der Gestapo gegen sie liegen inzwischen in Buchform vor. Eine Biografie über Luckner, die die BZ-Leser vor Kurzem zur bedeutendsten Freiburgerin wählten, gab es dagegen lange nicht. Der schmale Band "Gertrud Luckner. ,Botschafterin der Menschlichkeit" füllt diese Lücke wenigstens notdürftig und vorläufig aus.

Autor des Buchs ist Hans-Josef Wol-lasch, Direktor des Archivs des Deutschen Caritasverbandes in Freiburg. Wollasch hat nicht nur große Teile des Nachlasses der vor zehn Jahren verstorbenen Freiburger Ehrenbürgerin archiviert, sondern in Vorträgen und Publikationen Gertrud Luckners Leben beleuchtet. Das aktuelle Buch besteht zur einen Hälfte aus einer von Illustrationen begleiteten Lebensbeschreibung, die den Fokus auf die politische und karitative Arbeit legt und Privates weitgehend ausklammert. Die andere Hälfte des Buchs bietet Dokumente aus Luckners Zeit im Frauen-Konzentrationslager Ravensburg, wo die Gegnerin des Nationalsozialismus als "Politische" festgehalten wurde, sowie ein erstmals im vollen Wortlaut publiziertes tagebuchartiges Notizheft aus der Phase des Kriegsendes und der unmittelbaren Nachkriegszeit. Angefügt sind eine Lebenschronik und eine Bibliografie.

1900 in Liverpool geboren, kommt Gertrud Luckner als Siebenjährige mit ihren späteren Adoptiveltern nach Deutschland. Ein Studium der Volkswirtschaft in Königsberg und Frankfurt am Main schließt sie 1931 mit der Promotion in Freiburg ab, wo sie eine Anstellung beim Deutschen Caritasverband findet. Als Pazifistin und kritische Leserin von Hitlers "Mein Kampf" verfolgt sie die politische Entwicklung in der Endphase der Weimarer Republik aufmerksam. Durch ihre Hilfe für Juden und Entrechtete, bei der sie die heimliche Unterstützung von Erzbischof Conrad Gröber findet, gerät sie ins Visier von Gestapo und Reichssicherheitshauptamt; im März 1943 wird sie festgenommen. Sie habe ihm "den Glauben an die Menschheit" zurückgegeben, schrieb ihr jemand, dem sie geholfen hatte, sie selbst aber notiert kurz nach Kriegsende: "Wir haben ja alle viel zu wenig getan, die Schuld ist ungeheuer". Nach dem Krieg leitete Gertrud Luckner das Referat "Verfolgtenfürsorge" bei der Caritas; ihre übrige Energie widmete sie der christlich-jüdischen Verständigung. Annähernd 30-mal besuchte sie Israel, das ihr 1951 den Ehrentitel "Botschafterin der Menschlichkeit" , 15 Jahre später auch die Yad-Vashem-Medaille als einer "Gerechten unter den Völkern" verlieh. Der Rabbiner Leo Baeck nannte sie "eine der edelsten, tapfersten und opferwilligsten Persönlichkeiten, die mir in meinem Leben begegnet sind" . Am 31. August 1995 ist Gertrud Luckner in Freiburg gestorben.
Hans-Dieter Fronz, 16.8.2007, BZ

Hans-Josef Wollasch: Gertrud Luckner. "Botschafterin der Menschlichkeit".
Herder Verlag, Freiburg, Basel, Wien 2005. 144 Seiten, 14,90 Euro.


 

Der erste Stolperstein Freiburgs erinnert an Else Liefmann

Das Schicksal der jüdischen Kinderärztin Else Liefmann, die in der Goethestraße 33 wohnte

Als Else Liefmann 1885 mit ihrer Mutter und vier Geschwistern nach Freiburg kam, ahnte sie nicht, was - nach glücklichen Anfangsjahren - in der neuen Heimat auf die Familie zukommen sollte. Susanne Breisinger zeichnet in ihrer Freiburger Dissertation "Die niedergelassenen jüdischen Ärzte in Freiburg 1933-45" die Lebensstationen der jüdischen Kinderärztin auf. Else Liefmanns Schicksal ist ein bedrückendes Beispiel für das Unrecht, das der Nationalsozialismus den jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern Freiburgs zufügte. Else Liefmann wurde 1881 als Tochter des wohlhabenden Kaufmannes Semmy Liefmann in Hamburg geboren, wo sie mit ihrer Familie die ersten Jahre ihrer Kindheit verbrachte. Die Eltern waren zum evangelischen Glauben konvertiert und hatten auch die Kinder evangelisch taufen lassen. Nach dem Tod des Vaters zog die Mutter mit den Kindern nach Freiburg und kaufte 1894 in dem begehrten Stadtteil Wiehre eine Villa in der Goethestraße 33. Zwei der Geschwister starben früh. Elses älteste Bruder Robert wurde ein international anerkannter Wissenschaftler im Fach Nationalökonomie, 1904 Lehrstuhlinhaber für diesen Fachbereich an der Universität Freiburg. Die jüngste Schwester Martha studierte Kunstgeschichte.

Else Liefmann musste den für Frauen damals üblichen Umweg zurücklegen und Primarschullehrerin werden, bevor sie 1904 endlich mit dem Medizinstudium in Freiburg beginnen konnte. 1908 schloss sie es mit dem Staatsexamen ab. Nach einer gründlichen Ausbildung in verschiedenen Kliniken eröffnete sie 1915 in der Gartenstraße 30 eine Praxis für Säuglings- und Kinderkrankheiten sowie für "Ärztliche Erziehungsberatung" . In den folgenden Jahren engagierte sie sich in den verschiedensten Bereichen: Sie arbeitete mit der Universitätskinderklinik zusammen, engagierte sich als Stadtverordnete für die Deutsche Demokratische Partei, arbeitete bei Mütterberatung, Kinder- und Jugendhorten sowie Frauenbildung, war Mitbegründerin des "Deutschen Ärztinnenbundes" in Berlin und Gründerin des "Deutschen Akademikerinnenbundes" Ortsgruppe Freiburg. 1928 promovierte sie zusätzlich auf dem Gebiet der Psychotherapie. 1933 endeten die glücklichen und erfolgreichen Jahre jäh. Else Liefmann wurde die Kassenzulassung entzogen. Sie musste ihre Praxis aufgeben. Ihr Bruder Robert wurde zwangsweise emeritiert. Am 22. Oktober 1940 deportierte die Gestapo die Geschwister Else, Robert und Martha in das südfranzösische Lager Gurs. Die Familie wurde enteignet. In die Goethestraße 33 zog die Gestapo ein. 1941 erreichten Schweizer Freunde und Verwandte, dass die kranken Geschwister in eine Klinik nach Morlaas, ein Städtchen in der Nähe von Gurs, verlegt wurden. Robert starb kurz darauf. Er hatte die unmenschlichen Lagerbedingungen nicht verkraftet. Martha gelang die Ausreise, Else floh mit Hilfe der Freunde über die Berge in die Schweiz. In Zürich verbrachten sie die letzten Jahre ihres Le-bens. Martha starb 1952, Else 1970. Sie hatte zwar das von den Nationalsozialisten beschlagnahmte Haus in der Goethestraße zurückerhalten, wollte aber nicht mehr in ihr ehemaliges Heimatland Deutschland zurückkehren. Seit 2002 ist das ehemalige Liefmann-Haus das Gästehaus der Freiburger Universität. Der erste Stolperstein in Freiburg, der an die Opfer des Nationalsozialismus erinnern soll, wurde vor dem Haus der Familie Liefmann eingelassen. 1954 besuchte Else Liefmann Freiburg noch einmal kurz. Auf ihre Initiative hin wurde 1962 auf dem Gelände der ehemaligen Synagoge eine Gedenktafel errichtet.
Ingrid Kühbacher , 20.7.2007, BZ

Die Autorin ist Verfasserin des Buches "Sie lebten in Freiburg - Erinnerungen beim Gang über den Alten Friedhof"
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