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 Ihringen am Kaiserstuhl
       

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Ihringen mit Wasenweiler

Blick nach Osten über den jüdischen Friedhof (Mitte, bei den Bäumen) auf Ihringen am 13.9.2007 Jüdischer Friedhof 500 m südlich von Ihringen im April 2004  
Blick nach Osten über den jüdischen Friedhof (Mitte, bei den Bäumen) auf Ihringen am 13.9.2007 Der jüdische Friedhof ca 500 m westlich von Ihringen im April 2004 - Blick nach Norden  

 

Liste der deportierten, ermordeten und umgekommenen Ihringer Juden

Der Förderverein Ehemaliges Jüdisches Gemeindehaus Breisach e.V. hat uns eine mit Stand 17.9.2007 aktualisierte Liste der deportierten, ermordeten und umgekommenen Ihringer Juden bereitgestellt: 
Liste downloaden >ihringer-juden.doc (59 KB, update 30.9.2007)

Eine herzliche Bitte: Falls Sie in der Liste Unstimmigkeiten oder Fehler entdecken bzw. über zusätzliche Informationen verfügen - bitte mailen Sie uns diese, damit wir sie weiterleiten.
Vielen Dank, Ekkehard Kaier, 17.9.2007,

 

Gedenkminute auf dem Jüdischen Friedhof am jüdischen Neujahrstag

Blick nach Norden im Ihriger Jüdischen Friedhof am 13.9.2007
(1) Blick nach Norden im Ihriger Jüdischen Friedhof am 13.9.2007 (2) Blick nach Süden
 
(3) Blick nach Südosten
 
Blick nach Süden - Gedenkminute am jüdischen Neujahrstag 13.9.2007
(4) Blick nach Nordosten
 
(5) Blick nach Süden - Gedenkminute am jüdischen Neujahrstag 13.9.2007
 
(6) Bürgermeister Martin Obert  und Gebhard Göpfert (von links) am Friedhofstor
 
Blick nach Südosten über den Ihringer Jüdischen Friedhof am 13.9.2007 abends um 19 Uhr
(7) Blick nach Osten
 
(8) Geschichtslehrerin Frau Dienst-Demuth (links) und Familie Göpfert (9) Blick nach Südosten über den Ihringer Jüdischen Friedhof am 13.9.2007 abends um 19 Uhr

Der 70jährige Handwerksmeister Gebhard Göpfert war ein kleiner Bub, als auch über Ihringen die Schrecken der Nazi-Herrschaft hereinbrachen. Nach den erneuten Grabschändungen am 11. August wurde er gemeinsam mit seiner Frau initiativ und rief eine "Ihringer Bürgergruppe" ins Leben, die zum 13. September - für Juden der Neujahrstag (Rosh haShana, der 1. Tischri des nun beginnenden Jahrs 5768) zu einer Gedenkminute einlud. Als nach einem herrlichen Spätsommertag die Sonne begann, lange Schatten hinter die noch stehengebliebenen bzw. wieder aufgerichteten Grabsteine aus gemähte Gras zu malen, kamen immer mehr Menschen an. Und so stand man ziemlich betreten da - zwischen Friedhofsmauer, Container und Kieshaufen, durchs eiserne Friedhofstor konnte man grell orange den Betonmischer (5) sehen. Bürgermeister Martin Obert von Ihringen und Ortsvorsteher Lay von Wasenweiler begrüßten die Anwesenden. Danach begann Gebhard Göpfert zu erzählen:

  • Von einem 7-jährigen Mädchen, das viel über die umgestürzten Grabsteine wissen wollte und sich über Schule und Bibliothek zu ihm durchgefragt hatte.
  • Von einem Zettel in seinem Briefkasten mit den Namen von über 20 jüdischen Ihringern, die überlebt haben - Familiennamen wie Lion, Judas bzw. Jaburg, Wilmersdorf und Weil.
  • Vom heutigen "Sanktnimmerleinstag", zu dem man früher sagte: "Des kriegsch mol, wenn's Neujahr in de Sommer fällt." - und dies war heute eingetreten. Herr Göpfert drückte mit diesem "Sanktnimmerleinstag" die Hoffnung aus, dass so eine Schändung nie wieder passieren möge.
  • Vom Angebot eines Freiburger Historikers, eine Dokumentation über die jüdische Gemeinde Ihringens zu erstellen.
  • Von einer Gedenktafel an der Friedhofsmauer mit den Namen aller Opfer, für die bereits ein Sponsor gefunden sei.
  • Von den vielen Aktivitäten in der Ihringer Schule.

Dann die Gedenkminute ....
Als man auseinanderging, erhellte die vom Blosenberg rüberblinzelnde Sonne nur noch die Friedhofsmauer - weiß (9). Der zwischen den Gräbern postierte Betonmischer leuchtete nicht mehr orange, er ist eingetaucht ins Dunkel der steinernen Grabmale.
Ekke, 14.9.2007

Kontakt:
Rosita Dienst-Demuth, Geschichtswerkstatt Lessingschule, Tel 07662/94150, rosita.dd at web.de
Gebhard Göpfert, Bürgergruppe Ihringen, Tel 07668/384, werner.goepfert at gmx.de
Bodo Kaiser, Filmemacher Freiburg, imagofilmbk at t-online.de
Walter Mossmann, waltermossmann at aol.com
Martin Obert, Bürgermeister, obert.martin at ihringen.de
Dr. Christiane Walesch-Schneller, Tel 07667/80834, Blaues Haus, cw-schneller at t-online.de
info at juedisches-leben-in-breisach.de
Prof Wolfram Wette, Waldkirch-Kollnau, wettewolfr at aol.com

Friedhofsschändung: Vier junge Männer vom Amtsgericht FR verurteilt >Ihringen2 (23.11.2007)

 

Wie fest ist dieses Denken verankert? 

Zum Leserbrief "Wie fest standen die Steine auf ihrem Sockel?" von Hans Matt vom 22.8.2007

Wie fest ist dieses Denken verankert?
Die Vandalen, mit denen Herr Matt die Grabschänder bezeichnet, waren ein ostgermanischer Stamm, der vor rund 1500 Jahren von Hunnen bedrängt, seine Heimat verließ und auf dem Weg nach Süden Rom überfiel. Die Vandalen von Ihringen nun sehen sich wohl auch in ihrer Heimat und an ihren Arbeitsplätzen bedrängt, und zwar nicht durch asiatische Reiterhorden, sondern durch die bestimmt nicht minder gefährlichen toten Juden aus Ihringen? Dem Unsinn dieses ökonomischen Antisemitismus folgt auch Herr Matt: Während die Grabschänder durch ihre Tat die Arbeitslosigkeit bekämpfen wollen, erklärt er, dass die Juden die Kosten, die der Gemeinde durch sie anfallen, doch selbst tragen sollten. Dass die Toten dazu nicht in der Lage sind und ihre Verwandten verfolgt, vertrieben und ermordet wurden, weshalb die Gemeinde nun zuständig ist, das wird geflissentlich außer Acht gelassen. Sehr bemerkenswert ist der Vorschlag, nach der Differenzierung zwischen unseren deutschen und den jüdischen Grabanlagen, letztere zur Sicherheit doch am besten abräumen zu lassen. Tatkräftige Helfer für dieses Vorhaben wären bestimmt schnell gefunden.

BZ-Leserbrief vom 1.9.2007 von David Weiss, Mannheim

Wie konnte es passieren, dass Eltern und Freunden nichts aufgefallen ist? 
Die Ereignisse von Ihringen werfen wieder einmal viele Fragen auf, die in allen Leserbriefen und sonstigen Kommentaren bislang nicht behandelt wurden: Wie konnte es passieren, dass bei den jugendlichen Tätern, in deren Wohnungen belastendes Material gefunden wurde, den Eltern, den Freunden und gegebenenfalls den Schülern nicht aufgefallen ist, welchen zweifelhaften Gedanken diese Jugendlichen nachgehen? Warum wurde schon wieder weggesehen? Aus Angst oder aus mangelndem Mut, diese perversen Entwicklungen zu melden? Es wurde schon einmal unter einer anderen Staatsform in Deutschland weggesehen, aber in einer freiheitlich demokratischen Gesellschaftsordnung mit den vielen Möglichkeiten des Schutzes von Zeugen dürfte es doch keinen besonderen Mut mehr erfordern, diesen Umtrieben im Keim zu begegnen und die häufig eingeforderte Zivilcourage zu beweisen. Wer wegsieht unterstützt. Der jetzt aus allen gesellschaftlichen Schichten formulierte Ruf nach mehr Polizei, Engagement, politischen Aktivitäten und Aufklärung in den Schulen, die sich übrigens nicht allein auf Orte mit jüdischen Friedhöfen beschränken darf, lässt eine entscheidende Verantwortungsebene aus: das Elternhaus. Wir befinden uns im sozialen Erziehungsbereich nicht selten in einer Delegationsgesellschaft. Das Erlernen und Praktizieren von Toleranz und Würde gegenüber dem Mitmenschen, egal woher er kommt und welche Hautfarbe er hat, sollte primär im Elternhaus erfolgen. Diese Verantwortung ist unteilbar. Wenig überzeugend sind die jetzt plötzlich mit forschem Unterton geforderten "nachhaltigen Aufklärungen" der Ereignisse von 1990/91. Wo waren diese Stimmen in den letzten 16 Jahren und wären sie jemals heute erhoben worden, wenn die Ereignisse in Ihringen nicht gewesen wären? Jedenfalls haben alle gesellschaftlichen Aktivitäten gegen rechts seit dieser Zeit nicht den 100-prozentigen Erfolg gebracht. Ein "Runder Tisch" , wie vom VVN gefordert, kann ein Ansatz sein, den Entwicklungen in der Region koordiniert zu begegnen. Weder die Zeit, noch der "Flurschaden" , der durch die Ereignisse in Ihringen und in Mügeln im In- wie im Ausland entstanden ist, lässt kein Warten mehr zu. Die deutsche Industrie, die sich dieser Tage bereits besorgt um die Absatzzahlen geäußert hat, könnte einen wirksamen Unterstützungsbeitrag bei der Kampagne gegen die Neonazis leisten. Maßnahmen kosten Geld und davon ist in der Industrie reichlich vorhanden, besonders in der Führungsebene.
BZ-Leserbrief  vom 1.9.2007 von Johannes Reiner, DIG, AG Freiburg

Der Hinweis ist an Zynismus kaum zu überbieten
Der wertvolle Hinweis von Herrn Matt, die jüdischen Friedhöfe besser in Schuss zu halten und die Grabsteine durch Rüttelproben zu überprüfen, ist an Zynismus kaum zu überbieten. Woran liegt es denn, dass keine jüdische Gemeinde in Ihringen existiert, die sich darum kümmert? Erst haben wir die Juden verfolgt, vertrieben und ermordet. Und dann beklagen wir, dass sie sich nicht um ihre Friedhöfe kümmern! Der Gedanke, die Grabschändung hätte nicht stattgefunden, wenn die Steine fester auf den Sockeln gestanden hätten, ist ebenfalls zynisch. Die Täter sind über eine Mauer in einen verschlossenen Friedhof eingedrungen und haben gewaltsam 79 Grabsteine umgeworfen. Da ist kein Stein wegen mangelnder Stabilität umgefallen! Das war ein brutaler antisemitischer Gewaltakt. Der finanzielle Schaden ist das kleinste Problem.
BZ-Leserbief vom 30.8.2007 von Annette Willesch, March

 

Angriff auf Grundlagen des Zusammenlebens

"Die Schule als Teil der Gesellschaft verurteilt mit aller Deutlichkeit diese demütigende, verletzende und sinnlose Tat. Wir empfinden sie als Angriff auf die Grundlagen unseres menschlichen Zusammenlebens, sind erschüttert und entsetzt über die Gewaltanwendung und Nichtachtung der Totenruhe und sprechen uns gegen jegliche Art von Antisemitismus aus. Unter dem Stichwort "Erinnern — nicht vergessen" findet an der Neunlindenschule die Beschäftigung und Auseinandersetzung mit der Geschichte der Juden in Ihringen in den letzten Jahren kontinuierlich statt, sei es durch die Lektüre des Büchleins "Die Fahne am Pfarrhaus" von Hans Jörg Sick oder durch Begegnungen mit Zeitzeugen wie im Februar 2005 in Zusammenarbeit mit der Geschichtswerkstatt der Lessing-Realschule Freiburg. Zudem beteiligen sich die Schüler unserer Hauptschule immer wieder mit kleinen Beiträgen an der jährlichen Gedenkfeier aus Anlass der Reichspogromnacht im November. Die jüngsten Geschehnisse haben uns mit aller Deutlichkeit vor Augen geführt, wie wichtig eine Auseinandersetzung mit dieser Thematik für Schule und Erziehung ist. Kinder und Jugendliche zu informieren, zu konfrontieren, ihnen Erfahrungen und Begegnungen zu ermöglichen und sie zur Achtung des anders Denkenden und anderer Kulturen hinzuführen, muss ein Ziel unserer Arbeit an der Schule sein.
BZ-Leserbrief vom 27.8.2007 von Matthias Auer, Konrektor der Ihringer Neunlindenschule


 

Was hat die Täter zur Schändung getrieben?

Die erneute Schändung des jüdischen Friedhofes in Ihringen hat deutlich gemacht, dass auch junge Menschen aus der Region nach wie vor für Rechtsradikalismus anfällig sind. Christiane Walesch-Schneller versucht als Vorsitzende des Fördervereins ehemaliges jüdisches Gemeindehaus Breisach seit Jahren, die jüdische Geschichte aufzuarbeiten und durch Kontakte zu früheren jüdischen Bürgern und deren Nachfahren zur Versöhnung beizutragen. Mit ihr sprach BZ-Redakteur Gerold Zink.

BZ: Die Täter sind gefasst, ist jetzt wieder alles in Ordnung?
Walesch-Schneller: Die Polizei hat schnell und zuverlässig gearbeitet und den Zusammenhang zwischen einem Auto im Spargelacker und der Verwüstung des Friedhofes hergestellt. Und die Täter haben ihre eigene Festnahme erheblich erleichtert. Wir sind froh über den raschen Fahndungserfolg. Und wir haben erst jetzt den Hintergrund begriffen, warum die Schändungen des jüdischen Friedhofes in Ihringen 1990 und 2007 im August stattfanden. Die Neonazis begehen rituell um den 17. August den Todestag von Hitlers Stellvertreter Rudolf Heß, in diesem Jahr den 20. Polizei und Staatsanwaltschaft haben zugesichert, dass jetzt an der Lösung der Frage gearbeitet wird, wer die Täter von 1990 und 1991 waren. Die Tatsache, dass die Schändungen nicht aufgeklärt wurden, versteht die rechtsradikale Szene als Ermutigung für weitere Taten.

BZ: Was muss jetzt geschehen?
Walesch-Schneller: Diese drei Jugendlichen und der junge Mann kommen aus unserer Region, aus der Mitte unserer Gesellschaft, aus "normalen Familien" . Jetzt wäre es wichtig, sie nicht auszuschließen, sondern zum Sprechen zu bringen, was hat sie motiviert, was hat sie getrieben, welche Reden wurden dort "im Weinberg" geführt, welche Lieder gesungen, was war das überhaupt für eine feiernde Kameradschaft? Was fehlt ihnen in ihren Familien, in der Schule, Lehre oder am Arbeitsplatz, kurz in unserer Gesellschaft, dass sie den Applaus für antisemitische Zerstörung suchen? Wie können wir sie in unsere Gesellschaft zurückholen? Unser Anliegen ist nicht die Strafe, sondern die Auseinandersetzung mit der beunruhigenden Tatsache, dass junge Menschen sich dem Hass verschreiben, sich bewusst als Nachfolger der Generation von Nazis darstellen.

BZ: Wurden in Ihringen die Geschichte der jüdischen Gemeinde und deren Vernichtung zu wenig aufgearbeitet?
Walesch-Schneller: Viele Ihringer haben die Reaktionen auf die Schändungen von 1990 und 1991 selbst als traumatisch erlebt, sie haben sich am Pranger gefühlt. Es gibt zwar viele Vorarbeiten einer Gruppe, die sich damals gebildet und Aufklärung betrieben hat, aber zum Beispiel noch keine geschriebene Geschichte der Juden von Ihringen, kein Memorial, in dem alle jüdischen Familien und die ermordeten Ihringer Bürger genannt werden. Die Gemeinde kann hier initiativ werden, so wie es in Eichstetten und Sulzburg beispielhaft geschehen ist.

BZ: Die Bürger von Ihringen haben mit einer Mahnwache auf die Schändung des jüdischen Friedhofs reagiert. War Ihnen das zu wenig?
Walesch-Schneller: Die Reaktion von 70 Ihringer Bürgern und ihres Bürgermeisters waren ein ausgesprochen wichtiges Zeichen und es war spürbar, dass es von Herzen kam. Einige engagierte Bürger aus der Region haben außerdem am 14. August eine Erklärung unterschrieben (abgedruckt in der BZ auf der Seite "Forum" am 16. August), in der sie ihr Entsetzen zum Ausdruck bringen und die Aufklärung der Schändungen von 1990 und 1991 fordern. Sie haben viel Solidarisierung und Zustimmung von Menschen und Initiativen aus der Region und aus dem Ausland erhalten sowie Hilfsangebote praktischer und finanzieller Art. Wir hoffen, dass sich Ihringens Bürgermeister Martin Obert durch die positive Entwicklung in seiner Gemeinde ermutigt fühlt, bald alle Überlebenden der jüdischen Gemeinde Ihringen, die hoch betagt sind, oder ihre Nachkommen zu suchen und sie in ihren früheren Heimatort Ihringen einzuladen. Das Blaue Haus und Frau Dienst-Demuth mit ihren Schülern haben vor einigen Jahren die ersten jüdischen Ihringer eingeladen und nach Ihringen begleitet. Diese Begegnungen haben zu Freundschaften mit Ihringer Bürgern geführt, so sind die besten Voraussetzungen geschaffen worden. Wir wissen, dass noch viele Menschen auf eine echte Einladung warten. Es wird auch der weiteren Fürsorge für den Friedhof nützen, wenn viele Ihringer wissen, wessen Vorfahren dort bestattet sind, wenn die Gräber nicht mehr anonym bleiben. Man engagiert sich leichter für etwas, das einem nicht fremd ist.

BZ: Wie sieht es mit der Aufarbeitung der Geschichte in Breisach aus? Gibt es hier noch Defizite?
Walesch-Schneller: Die Arbeit, die zu leisten ist, wird noch die nächsten Generationen beschäftigen, wir können nur, selbst mit dem Förderverein, die ersten Schritte machen. Auch Breisach hat noch keine geschlossene Publikation über die jüdische Gemeinde und ihre Zerstörung durch die Nationalsozialisten. Wir erinnern uns an die hochemotionale Diskussion vor 3 Jahren, wie mit dem sichtbaren Zeichen der Selbstverherrlichung der Nazis am Fuß des Münsterbergs umgegangen werden soll. Es ist zu hoffen, dass in Zusammenarbeit mit dem Stadtarchiv viele neue Projekte angepackt werden. Gegenwärtig arbeiten wir daran, mit Unterstützung des Stadtarchivs die 70 Namen von jüdischen Bürgern herauszufinden, deren Namenstafeln 1938 auf dem neuen jüdischen Friedhof zerstört worden sind, um neue, kleine Namenstafeln anzubringen. Das sind nur zwei Beispiele.

BZ: Sie engagieren sich seit Jahren in der Region für die Aussöhnung. Was bedeutet die erneute Friedhofsschändung für Ihre Arbeit?
W
alesch-Schneller: Ich möchte es nicht Aussöhnung nennen, denn das ist der Moment, den jeder Einzelne nur individuell und für sich bestimmen kann. Gibt es eine Aussöhnung mit dieser Geschichte? Es scheint mir eine notwendige und sinnvolle Arbeit der Annäherung, der Begegnung und Wiederanknüpfung, die unbedingt fortgesetzt werden muss. Es ist ein ebenso wichtiger wie bescheidener Versuch, mit diesem historischen Abgrund umzugehen. Wir sind sehr froh, wenn sich die Solidarität der vielen Menschen gegen Antisemitismus in Mitarbeit und Unterstützung verwandelt. Wir haben zu wenig Hände und Herzen bei unserer Arbeit im Blauen Haus. Das Blaue Haus ist der Geschichte der Juden am Oberrhein gewidmet, jede und jeder kann mitmachen. Und gemeinsam können wir eine Geschichte der Juden und des Antisemitismus am Kaiserstuhl schreiben.

BZ: Sie haben häufig Kontakt zu Überlebenden des Holocaust und zu Nachfahren von jüdischen Bürgern, die in der Region gelebt haben. Wie fühlen sich Überlebende, wenn sie von solch einer Friedhofsschändung erfahren?
Walesch-Schneller: Wir haben einen vollkommen versteinert wirkenden israelischen Bürger am Friedhofstor von Ihringen getroffen. Er war zufällig an diesem Tag als Besucher in der Region. Diese Gewalt hat eine tiefe Wirkung. Können sich jüdische Menschen hier sicher fühlen? Jüdische Familien aus der Region, die jetzt in aller Welt leben, sind schockiert, das sind katastrophal schlechte Nachrichten, aber sie haben uns gebeten, unsere Arbeit fortzusetzen. Für sie ist das Blaue Haus ein Symbol für ein Stück Heimat, sie fühlen sich willkommen geheißen, die Erinnerung an ihre ermordeten Familienangehörigen und ihre Familien ist hier aufbewahrt. Das hat dem Leben der meisten Hoffnung gegeben und sie waren ermutigt, mit ihren Kindern und Enkeln über ihre eigenen Erfahrungen zu sprechen.

BZ: Sie haben im Vorfeld der Festnahme der Tatverdächtigen die Polizei kritisiert. Stehen Sie noch zu diesen Vorwürfen?
Walesch-Schneller: Wenn Sie die Erklärung lesen, werden Sie keinen Vorwurf finden. Wir haben aus der tiefen Sorge um die fehlende Aufklärung der Verwüstungen von 1990 und 1991, die verheerende Wirkung von nicht gesühnten Verbrechen auf die ganze Gesellschaft, gefordert, dass es einen neuen Schub für die Ermittlungen gibt. Die Aufforderung geht nicht nur an die Polizei, sondern an uns alle. So wie der Bürger in Bötzingen verantwortlich handelte und das Auto im Spargelacker meldete, so wird aus dem Kreis der Täter von damals etwas in ihrer Umgebung bekannt sein. Noch einmal: Uns geht es nicht um die Strafe, das ist die Aufgabe anderer, sondern um das Verstehen, was treibt Menschen dazu, Hass auf jüdische Menschen zu empfinden und auszuleben.

BZ: Was ist Ihrer Meinung nach nötig, um künftig solche Schändungen zu verhindern?
Walesch-Schneller: Natürlich zunächst einmal die Fortsetzung unserer Arbeit in Breisach, in Mackenheim und in der Region. Wir nehmen seit vielen Jahren junge Menschen, Schüler, Studenten, junge Europäer im Rahmen der Sommerlager von Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste mit auf die jüdischen Friedhöfe, um dort ehrenamtlich zu arbeiten und dabei etwas über das Judentum zu lernen. Zum ersten Mal in 400 Jahren kümmern sich Schüler vom Kaiserstuhl um den historischen Begräbnisplatz in Mackenheim! Sie lernen, wie Juden und Christen im 17. und 18. Jahrhundert als Nachbarn gelebt haben. Aus einem Ort der Toten wird ein Lernort. Darüber hinaus sollte die Gemeinde Ihringen in der Region Unterstützung bei der Bewachung des Friedhofes bekommen. Sicher werden die neuesten technischen Möglichkeiten geprüft, die als Abschreckung dienen könnten. Andererseits setze ich lieber auf die sicherste Schiene, die menschliche: wenn 730 Menschen aus der Region sich anbieten, einmal im Jahr eine 12-stündige Wache am Friedhof zu halten, werden die Ihringer Juden eine neue Totenruhe erleben. Das scheint mir eine Demonstration von Solidarität nicht nur mit dem jüdischen Erbe, sondern auch eine Unterstützung der Gemeinde Ihringen. Ulrich Maschke hat seit 1991 solche Wachen übernommen. Leider ist er in diesem Frühjahr verstorben. Wir könnten auch ihn und sein Engagement ehren, wenn wir in seine Fußstapfen treten.

Christiane Walesch-Schneller, 24.8.2007, cw-schneller at t-online.de


 

Wie fest standen diese Steine auf ihrem Sockel?

Dass erneut in Ihringen auf dem jüdischen Friedhof viele Grabsteine von Vandalen umgeworfen wurden, findet mit Sicherheit jeder vernünftige Mensch eine große Sauerei. Was ich jedoch nicht verstehe, ist, wieso Bürgermeister Martin Obert erklärte, die Kosten von rund 40 000 Euro für die Sanierung zu übernehmen. Das Grab meiner Mutter wurde auch mal von Vandalen zerstört. Die Kosten hatte jedoch ich selbst zu tragen. Zu der Sanierung der umgeworfenen Steine müssten doch mit Sicherheit im Ihringer Gemeinderat noch einige Gespräche geführt werden, so zum Beispiel, wie fest standen diese Steine auf ihren Sockel. Auf jedem Friedhof in Deutschland werden die Grabsteine normalerweise laufend auf einen festen Stand kontrolliert. Viele davon werden bemängelt mit der Aufforderung, sie befestigen zu lassen. Würden unsere Grabanlagen so aussehen wie viele der jüdischen, so würden sie von der Friedhofsverwaltung abgeräumt werden. Sollte auf diesen Leserbrief hin jemand auf die Idee kommen, mich in der rechten Ecke zu vermuten, so kann ich zur Beruhigung sagen, dass in unserer Familie niemals Nazis waren.
BZ-Leserbrief vom 22.8.2007 von Hans Matt

 

Eindeutige Motive

Die für die Schändung des jüdischen Friedhofs in Ihringen verantwortlichen Täter sind gefasst. Das ist eine gute Nachricht. Mit ihrem Autounfall haben sie sich quasi selbst der Kriminalpolizei in die Hände geliefert. Die drei Jugendlichen und der 28-Jährige gehören den Ermittlungen zufolge eindeutig zur rechtsradikalen Szene. Und sie stammen aus der näheren Umgebung des Tatorts. Damit bewahrheitet sich die Analyse derjenigen, die sich auch mit den Friedhofsschändungen der Jahre 1990/91 am selben Ort auseinandergesetzt hatten: Rechtsradikaler Antisemitismus ist das Motiv.
Wie groß die heutige Szene in der Region ist, und ob sie Verbindungen zu den Tätern von vor 16, 17 Jahren hat, darüber gibt es bislang keine Erkenntnisse. Das Klima am Kaiserstuhl aber hat sich seit damals erkennbar verbessert: Eine Reihe von Menschen aus Ihringen und dem Kaiserstuhl engagieren sich schon seit Jahren ehrenamtlich in der Initiative
"Blaues Haus", dem ehemaligen jüdischen Gemeindehaus in Breisach. Sie setzen sich mit der Verfolgung und Ermordung der Juden ihrer Heimat auseinander, dokumentieren das damalige jüdische Leben in den Ortschaften, organisieren Vorträge und Ausstellungen. Und sie laden Überlebende in die Dorfgemeinschaften ein, in denen diese einst zu Hause waren. Antisemitismus bleibt so kein abstrakter Begriff — seine Folgen werden durch die persönliche Begegnung mit den Opfern erfahrbar. Und aus der Vergangenheit werden auf diese Weise Lehren für die Zukunft gezogen. Die Mahnwache am vergangenen Mittwoch hat gezeigt, dass die Bürgerinnen und Bürger nicht bereit sind, antisemitische Gewalttaten zu bagatellisieren.
Mechthild Blum, Kommentar, 18.8.2007, www.badische-zeitung.de

 

Offener Brief zur Grabschändung auf dem jüdischen Friedhof Ihringen

In der Nacht vom 11. auf den 12. August 2007 wurden auf dem jüdischen Friedhof in Ihringen von bislang unbekannten Grabschändern mehr als 70 der 200 Grabmale aus ihren Verankerungen gerissen und umgestürzt. Nach Bekanntwerden dieser bestürzenden Nachricht trafen sich spontan einige Bürger aus der Region Südbaden, die sich einer demokratischen Erinnerungskultur verpflichtet wissen, am Rande des Friedhofs, um über die Folgerungen zu beraten, die aus diesem planvoll durchgeführten Gewaltakt nach ihrer Meinung gezogen werden müssen. Die Besichtigung des Zerstörungswerks machte deutlich, dass hier eine Art "Kommandoaktion" stattgefunden haben muss, die ganz offenkundig einen Bezug zu den rechtsradikalen Anschlägen von 1990 und 1991 aufweist.

Gründliche und rasche Aufklärung ist jetzt das oberste Gebot. Die engagierten Mitbürger rufen den Regierungspräsidenten von Südbaden, Dr. Sven von Ungern-Sternberg, dazu auf, sich hierfür einzusetzen und gegebenenfalls die für die Innere Sicherheit zuständigen Ministerien in Land und Bund einzuschalten, um die Staatsanwaltschaft und die jetzt gebildete Sonderkommission der Freiburger Kriminalpolizei zu unterstützen.
Die Unterzeichner stellen mit Erstaunen und Befremden fest, dass die damit befassten Behörden keinerlei Aufklärung über die Täter von 1990/91, ihre Motive und ihr möglicherweise vorhandenes Umfeld zustande gebracht haben. Sie fragen sich, ob damals wirklich allen Spuren mit der gebotenen Gründlichkeit nachgegangen wurde. Jedenfalls zeigt die neuerliche Grabschändung, wie notwendig es gerade auch im Hinblick auf eine künftige Prophylaxe ist, derartige Fälle nach bestem Wissen und Gewissen zu untersuchen.
Die Unterzeichner fordern daher zugleich die Wiederaufnahme der Ermittlungen über die früheren Gewaltakte. Wir fragen, ob mit der Verwüstung des Friedhofs die Arbeit der vergangenen Jahre, ein Netzwerk zu den Überlebenden der jüdischen Gemeinde aufzubauen, um sie mit ihren Familien in ihrer früheren Heimat Ihringen begrüßen zu können, zerstört werden soll. Die gelegentlich zu hörende Ansicht, es seien "doch nur ein paar Grabsteine umgeworfen worden" , Menschen seien nicht zu Schaden gekommen, weisen die Anwesenden als unzulässige Abwiegelung und Verharmlosung zurück.

Die Tatsache, dass die - wahrscheinlich aus einem hasserfüllten Antisemitismus heraus handelnden - Täter nicht einmal die in Ihringen begrabenen jüdischen Bürger und Bürgerinnen ruhen lassen, ist ein moralischer, kultureller und politischer Skandal.

Prof. Dr. Wolfram Wette, Historiker, Waldkirch;
Reiner Zimmermann, SPD-Gemeinderat Breisach und Kreisrat;
Dr. Christiane Walesch-Schneller, Vorsitzende "Blaues Haus" Breisach;
Rosita Dienst-Demuth, Geschichtswerkstatt Lessing-Realschule Freiburg;
Walter Mossmann, Autor, Freiburg
16.8.2007, Offener Brief, verschiedene Zeitungen

 

Gestern gab es auf dem jüdischen Friedhof eine Mahnwache

Jüdischer Friedhof Ihringen im August 2007

Rund 70 Bürger aus Ihringen und den Nachbargemeinden versammelten sich gestern Abend zu einer Mahnwache auf dem jüdischen Friedhof in Ihringen

Bild: Christine Aniol

Gestern Abend fand am jüdischen Friedhof in Ihringen eine Mahnwache statt. Bürger der Gemeinde wollten damit zum Ausdruck bringen, dass sie die Schändung des jüdischen Friedhofs zutiefst betroffen gemacht und empört hat.

Rund 70 Einwohner von Ihringen sowie aus Nachbargemeinden hatten sich gegen 19 Uhr vor dem Friedhof versammelt. "Wir wollen unsere Empörung zeigen und ein Zeichen setzen" , betonte Bürgermeister Martin Obert. In kleinen Gruppen standen die fassungslosen Bürger zusammen und suchten nach Erklärungen. "Ich verstehe nicht, warum und bin sehr wütend" , sagte eine Ihringerin und berichtete, dass sie bereits am Dienstag am Friedhof war. "Ich wollte selber sehen, was hier vor sich gegangen ist" , erklärte sie. Auch Rosita Dienst-Demuth, die in Freiburg an der Lessing-Realschule Geschichte unterrichtet, war gekommen. Mit Schülerinnen und Schülern zwischen 14 und 18 Jahren pflegt sie im Rahmen eines Projektes schon länger den Kontakt zu jüdischen Bürgern, die früher in Ihringen lebten. "Die Jugendlichen haben einen Brief verfasst und versucht, ihre Empörung in Worte zu fassen" , berichtete sie. "Sie haben Angst, dass die Schändung des Friedhofs das entstandene Vertrauen und die guten Kontakte kaputt gemacht hat" , sagte sie. Große Stille herrschte nach der Mahnwache auf dem Friedhof. "Es ist einfach nicht zu fassen", sagten viele beim Hinausgehen. Die Sonderermittlungsgruppe der Freiburger Polizeidirektion arbeitet nach Angaben von Pressesprecher Ulrich Brecht weiter "mit Hochdruck" an dem Fall. "Die Suche nach den Tätern hat für uns höchste Priorität" , betonte Brecht auf Anfrage der Badischen Zeitung, es gebe allerdings noch keine heiße Spur.
Christine Aniol, 15.8.2007, BZ


 

Offener Brief an drei Holocaust Überlebende in Übersee

Offener Brief an Holocaust Überlebende in Übersee, die Familiengräber im verwüsteten Jüdischen Friedhof in Ihringen haben.

Lieber Carl Jaburg,
lieber Kurt Judas,
liebe Wiltrude Hene-Lavelle!

Wir schreiben diesen Brief schweren Herzens.
Wie viel haben wir Euch zu verdanken! Wir Schüler aus Freiburg haben Kontakt mit Euch gesucht, um mehr über die Geschichte unserer Schule zu erfahren. Ihr habt uns besucht und wir konnten Euch persönlich kennen lernen. Bei der Einweihung der Gedenktafel an der Lessingschule konnten wir gemeinsam sagen und fühlen: „Eure Retter sind uns ein Beispiel für Toleranz und Zivilcourage. Mit Euch Geretteten trauern wir um die Ermordeten.“
Die Begegnungen mit Euch und Euren Familien hat unser Leben geprägt. Nie haben wir so viel gelernt über die unheilvolle Geschichte in unserem Land, über uns selbst und unsere Familien. Für diese Chance sind wir Euch sehr dankbar!
Heute sind wir sehr bedrückt und sprachlos, denn der jüdische Friedhof in Ihringen ist in der Nacht von Samstag, den 11. August 2007, auf Sonntag, ein weiteres Mal geschändet worden – über 70 von 200 Grabsteinen wurden von unbekannten Tätern umgeworfen! Es ist zum weinen. Wir fragen uns: "Was läuft in unserer Gesellschaft falsch, dass sie dergestalt gewissenlose Menschen hervorbringt, die solche Untaten begehen?"
Diese Tat schockiert und berührt uns zutiefst. Sie zeigt einmal mehr, wie mühsam demokratische Prozesse unter allseitigem Respekt sind.
Shalom
! Seid besonders heute herzlich umarmt!

Rosita Dienst-Demuth,
Lehrerin der Lessing-Realschule Freiburg,
Geschichtswerkstatt Lessing-Realschule Freiburg
„Zwangsschule für jüdische Kinder 1936 – 1940 in FR“,
Schüler: u.a. Marco DeNardo, TimonLeng, Samuel Meininger, Luisa Litsch,
Marie-Luise Tröber, Stephan Möhrle (auch Rüstungsinformationsbüro und Friedensstadt Freiburg, Vorstand)
Mitarbeiter: Klaus Max Fehrenbach, Bodo Kaiser, Filmemacher.
15.8.2007

 


Nach Verwüstung des Friedhofs: Keine Wiederholung der Geschichte

Nach der Verwüstung des jüdischen Friedhofs in Ihringen wächst in der Region die Empörung über die Tat von Unbekannten. Auf dem Gräberfeld bekundeten gestern Abend 70 Bürger Solidarität mit den betroffenen jüdischen Familien. Eine Gruppe um den Waldkircher Historiker Wolfram Wette und den Freiburger Liedermacher Walter Mossmann spricht in einem Brief an die BZ von einem "moralischen, kulturellen und politischen Skandal" . Wie sie fordert auch die SPD eine rasche Aufklärung.

Gedrückte Stimmung, beredtes Schweigen: Als sich die Teilnehmer der spontanen Mahnveranstaltung über den Friedhof bewegen, ist ihnen die Empörung ins Gesicht geschrieben. Es geht vorbei an vielen umgestürzten Grabsteinen. "Ich verstehe nicht, warum, und bin sehr wütend" , sagt eine Ihringerin und erzählt, dass sie schon gestern zum Friedhof gekommen ist. Sie wollte selber sehen, was passiert ist. Damit sie es glauben kann. Die Schändung des jüdischen Friedhofs
war am Sonntagmorgen entdeckt worden. 79 Grabsteine lagen am Boden, viele beschädigt. Für die von der Freiburger Kripo eingesetzte Soko steht inzwischen fest, dass der Kraftakt nur von mehreren Tätern vollbracht werden konnte. "Viele Steine sind zu schwer, als dass einer allein sie umwerfen könnte," sagte gestern Polizeisprecher Ulrich Brecht. Werkzeuge sind offenkundig nicht benutzt worden. Und Brecht ließ keinen Zweifel an der möglichen Motivation: "Wir werten die Tat als politische Tat." Dabei spielt für die Ermittler keine Rolle, dass die Täter auf Schmierereien verzichteten: "Manchmal lässt sich auch ohne Hakenkreuze sagen, ob eine Tat rechtsradikal motiviert ist." Die Unterzeichner des offenen Briefes (siehe Forum) sind sich ebenfalls sicher: "Das war eine Kommandoaktion aus rechten Kreisen."

Sie sehen zudem einen klaren Bezug zu den zu 1990 und 1991. Damals war der Ihringer Friedhof in einem für den Südwesten bis dato ungekannten Ausmaß verwüstet worden. Im August 1990 waren 177 der 200 Grabsteine umgeworfen und mit Nazi-Parolen beschmiert worden. Wenig später die zweite Attacke: Sie galt vor allem dem Grab des früheren Vorstehers der jüdischen Gemeinde. Aus dem Beet ragte ein Pfahl heraus, der zwei Meter tief im Boden steckte. Wette, Mossmann und Co. haben jetzt — wie auch die SPD Freiburg und Breisgau-Hochschwarzwald — Regierungspräsident Sven von Ungern-Sternberg aufgefordert, sich für eine schnelle Aufarbeitung des neuen Vorfalls einzusetzen. Denn mit Befremden hätten sie festgestellt, dass die Behörden bis heute keine Aufklärung über die Täter von damals erreicht haben. Zwar war man zunächst von Jugendlichen, dann von Skinheads aus dem Bodenseeraum, schließlich von rechtsesoterischen Gruppierungen ausgegangen. Sicher schien außerdem, das es sich um Ortskundige handeln musste. Doch kein einziger Verdacht hat sich je erhärtet. "Wie kann das sein, in Zeiten moderner kriminologischer Methoden?" fragt sich Wette. Und: "Wer deckt hier wen?" "Unbegreiflich, dass die Polizei heute jeden Sprayer findet, aber nicht die Verursacher einer solchen Friedhofschändung" , findet auch Christiane Walesch-Schneller, Vorsitzende des Blauen Hauses in Breisach. Wie Wette ist auch sie überzeugt, dass die Aufklärung solcher Fälle nur klappen kann, wenn die Menschen am Ort das wollen. Aber wollen sie das in Ihringen? In der Kaiserstuhlgemeinde kennt man solche Argumente nur zu gut. Denn dass man sie in einen Topf wirft mit den möglichen Tätern — das haben die Ihringer auch 1990 und 1991 erlebt. Je länger die Ermittlungen ergebnislos blieben, desto stärker sahen sie sich dem Verdacht ausgesetzt, an dem Frevel beteiligt gewesen sein.

Dass Ihringen in der Hitlerzeit als Nazi-Hochburg galt, gab den Skeptikern zusätzlich Futter. Ein Schweigemarsch, zu dem sich 1990 mehr als 6000 Menschen in Ihringen trafen, wurde von vielen als offener Vorwurf empfunden. "Die Angst vor so etwas, ist natürlich wieder da," gibt Bürgermeister Martin Obert zu. Doch er ist zugleich überzeugt, dass "Ihringen viel dazu gelernt hat" . Das hätten sogar die ehemaligen jüdischen Einwohner, die vor zwei Jahren zu Besuch waren und mit denen man freundschaftliche Kontakte pflegt, anerkannt. Nun könne es sein, dass durch die unsinnige neue Tat viel von der Arbeit gegen das Vergessen zerstört worden ist. Das wollte er eigentlich nicht miterleben. "Umso mehr müssen wir nun dafür sorgen, dass unser Kontakte nicht abreißen", sagt Obert, der seine Einwohnern in den vergangenen Tagen immer wieder aufgefordert hat: "Geht offensiv mit der Sache um. Sagt laut, dass ihr diese Tat verurteilt. Zeigt Solidarität." 70 Menschen, die gestern auf den Friedhof kamen, sind für den Bürgermeister auch ein Beweis, dass die Zeiten sich geändert haben. Dass Ihringen heute bereit ist, sich seiner Geschichte zu stellen. Ein anderer sind die Briefe, die jetzt an die überlebenden Juden aus Ihringen gehen werden. Darin die tiefe Empörung über das Geschehene und die Hoffnung, dass die neue Freundschaft darüber nicht wieder vergehen möge.
Maikka Kost, 16.8.2007, www.badische-zeitung.de

 

Ein Pfahl im Löß - Essay von Walter Mossmann aus dem Jahr 1991

"Ein Pfahl im Löß" hat durch die neue Grabschändung in Ihringen im Jahr2007 wieder an Aktualität gewonnen - leider, muß man sagen. Der Essay von Walter Mossmann wurde am 3.August 1991 anlässlich der Anschläge auf den Jüdischen Friedhof Ihringen in der Badischen Zeitung in einer verkürzten Version veröffentlicht. Danach wurde der Text in verschiedenen Büchern nachgedruckt und von Walter Mossmann erweitert. Der Autor stellt uns die folgende authorisierte Version "Ein Pfahl im Löss" vom 16.8.2007 freundlicherweise zum Download bereit:

"Ein Pfahl im Loess" >EinPfahlimLoess070816.pdf (150 KB)

 

Ein Pfahl im Löß aus dem Jahr 1991

UNBEKANNTE TÄTER. ABSCHAUM. FREMDE.

Offenbar rechtsextremistische Täter haben in der Nacht zum Sonntag in Ihringen den jüdischen Friedhof geschändet. Nach Mitteilung ... / ... einen Tag nach der Schändung der Gedenkstätte für die Nazi-Opfer auf dem Tübinger Stadtfriedhof hat die Polizei am Montag ... / ... im Falle der Grabschändungen auf dem jüdischen Friedhof in Stuttgart-Bad Cannstatt hatte die Polizei am Sonntag noch keine ... / ... der jüdische Friedhof in Kusterdingen-Wankheim ist vermutlich über den Jahreswechsel von bisher Unbekannten ... / ... in der Nacht zum Sonntag schändeten Täter die KZ-Gedenkstätte in Türkheim im Unterallgäu. Vergangene Woche wurden auf den jüdischen Friedhöfen in München Gräber verwüstet, in Frankfurt Grabmale verschmiert und in Wuppertal Grabsteine umgestoßen. Die in der Regel jugendlichen ... /... der im August vergangenen Jahres von nach wie vor unbekannten Tätern verwüstete Friedhof in Ihringen am Kaiserstuhl ist jetzt zum zweiten Mal geschändet worden. Arbeiter, die noch immer mit den Aufräumungsarbeiten nach dem letzten ...

Seitdem ich lesen kann (d.h. seit Gründung der BRD) liefern die Frühstückszeitungen periodisch solche Nachrichten. Bisher habe ich sie nicht sonderlich beachtet. Vielleicht bin ich doch auf die dumme Redensart von den sogenannten „ewig Gestrigen" hereingefallen. Als ob der Antisemitismus bloß die Mode von „gestern" wäre, abgelegt zusammen mit Braunhemd und Parteiabzeichen. Der jüdische Friedhof von Ihringen ist ein Ort, dessen Außenansicht ich ganz gut kenne. Gelegentlich fahre ich hinüber mit unklarer Absicht. Von der Weinbergkante hinunterschauen in diesen fremdartigen Friedhof ohne Kreuze: Kastanienbäume, Gras, Unkraut, Moos. Verwitterte Steine mit hebräischen Schriftzeichen. Unsereiner kann sie nicht entziffern. Der erste Überfall auf den jüdischen Friedhof fand statt im August 1990, wenige Tage vor meinem Geburtstag. (Ich bin Jahrgang 41, in meiner Geburtsurkunde steht: rassisches Merkmal: deutschblütig.) Die Zeitung hat nachgezählt: 177 von 200 Grabsteinen seien umgeworfen worden. Das Zeitungsfoto zeigt: Die Steine wurden umgelegt in Reih & Glied. Eine Exekution. Schwerarbeit. Kommando der Nacht. SS-Runen, Hakenkreuze, Graffiti. Alle öffentlich geäußerten Vermutungen über die Herkunft der Täter weisen in die Fremde: Auswärtige seien es gewesen, auf jeden Fall, vielleicht Skinheads aus dem Bodenseeraum, oder Rechtsradikale aus dem Elsaß, oder vielleicht die Palästinenser. Ein Sprecher aus Ihringen, laut Badische Zeitung: „Wir wehren uns dagegen, daß da 79 Einheimische beteiligt sind!" Und ein ältere Herr mit großen Verdiensten aus den Kämpfen gegen das AKW Wyhl: „Wahrscheinlich waren es die Juden selber, daß sie noch mehr aus uns herauspressen können!" Der Mann distanziert sich selbstverständlich von einer Tat, die alle Welt verurteilt. Aber gleichzeitig bestätigt er die Denkart der Täter: Angeblich haben mal wieder die jüdischen Blutsauger den unschuldigen Deutschen auf heimtückische Art und Weise etwas in die Schuhe geschoben, um besser abzocken zu können. Wer von der „Auschwitz-Lüge" redet, denkt  genauso. Während einer Veranstaltung des Arbeitskreises ERINNERN UND BEGEGNEN in Ihringen habe ich mir notiert, welche Gruppen alle als „Fremde" bezeichnet wurden. Es waren sehr viele, nämlich Türken, Asylanten, Friedhofschänder, Demonstranten, Mahnwachen, Journalisten, Juden und Nazis. Auf die verblüffte Nachfrage: „Wie, die Nazis waren Fremde hier?" bekam ich zu hören: „Ja, das war ein Lehrer, ein ganz fanatischer, der war von auswärts." – Und woher dann? – „Aus dem Schwäbischen!" Es herrscht hier eine merkwürdige Angestrengtheit, das Heim der Einheimischen abzugrenzen gegen das Fremde in jeglicher Gestalt. Der eigentliche Ort, das Nest, wird durch eine völlig unglaubwürdige, geradezu komische Reinheit charakterisiert. Scheinbar wäre das Nest ohne fremde Einflüsse so intakt wie die Heilige Familie und die Heile Welt. Auch die Erinnerung ist in der Lage, unermüdlich das Nest von Schmutzflecken zu säubern. Ich lese z.B. in der Zeitung: „Die Juden, die waren doch immer ein Bestandteil des Dorfes", erzählt der Zweite Bürgermeister von Ihringen, Theo Willig, „die gehörten dazu, und es gab immer gut nachbarschaftliche Beziehungen." Die vergoldete Erinnerung stimmt nun leider überhaupt nicht mit der Tatsache überein, daß bei den Reichstagswahlen im Jahre 1932 rund 78 Prozent der Wähler in Ihringen ihre Stimme der Nazipartei gaben.
 

DIE IHRINGER PFÄHLUNG. HÄNDE IN UNSCHULD. JOH. 4, VERS 22

„Ihringen, Dienstag, 14.30 Uhr. Knapp 30 Zentimeter ragt der Pflock über das Grab hinaus. Ein Kriminalbeamter der Staatsschutzabteilung des Landeskriminalamtes Stuttgart versucht, ihn herauszuziehen. Der Pflock, rot angemalt, sitzt fest. Ein zweiter Beamter packt mit an. Gemeinsam rucken sie ihn Stück für Stück aus der Erde. Stumm sehen ihnen die übrigen Fahnder, Pressefotografen, Journalisten und ein paar Bürger aus der Umgebung zu. Über zwei Meter ist der Holzpfahl lang. Mitten durch das Grab des 1934 verstorbenen letzten Vorstandes der jüdischen Gemeinde dieses Winzerdorfs am Kaiserstuhl ist er in der Nacht von Montag auf Dienstag getrieben worden" (BZ, 16.1.1991).
Vermutlich kennen die unbekannten Täter von Ihringen keine realen Juden, aber sie kennen Dracula aus dem Kino. Und damit kennen sie den Phantasie-Juden, den sich das Christliche Abendland seit den Kreuzzügen erfunden und zugerichtet hat. Der Vampir Dracula lähmt seine Opfer durch magische Faszination und saugt ihnen das Blut aus den Adern. Nach dem Akt gehen die Opfer der gesunden Volksgemeinschaft verloren, ja, sie bedrohen ihrerseits unsere Körper als blutsaugerische lebende Leichname. Ein Vampir ist im Prinzip ebenso unsterblich wie der „Ewige Jude", welcher bis zum Jüngsten Tag auf der Erde herumzuwandern verdammt ist. Allerdings gibt es bekanntlich eine Methode, wie man mit Hilfe christlicher Magie den Vampir vorzeitig erledigen kann: Ein energischer Mann muß dem Monster, solange es noch im Sarg schläft, unter dem Schutz des Christenkreuzes einen Pflock aus Erlenholz ins Herz treiben. Der evangelische Pfarrer aus Ihringen sagt: „Diese Tat zielt ins Herz des christlichen Glaubens!" Einspruch! Der über zwei Meter lange Pfahl zielt ins Herz des jüdischen Gemeindevorstehers Meyer, er zielt auf den „jüdischen Blutsauger". Der Pfarrer zitiert aus der Bibel, Johannes 4, Vers 22: „Das Heil kommt von den Juden." Mit diesem Satz habe es die Kirche schon immer gehalten, nur manchmal habe sie die Wahrheit „nicht deutlich genug bezeugt". Einspruch! Den zitierten Satz sagt die Jesus-Figur im Johannes-Evangelium keineswegs, um die Juden zu rühmen, sondern nur, um sich selber als Heiland zu legitimieren. Aus dem jüdischen Messias-Glauben zieht er zwar seine Autorität, aber er benutzt sie dann, um das Judentum für überwunden zu erklären. Um so schlimmer, daß ausgerechnet die Juden ihm die Gefolgschaft verweigern, das wird ihnen nicht verziehen. Bei Matthäus, Markus und Lukas heißen die Feinde Jesu noch „Schriftgelehrte und Pharisäer". Das Johannes-Evangelium dagegen spricht ganz pauschal von „den Juden", die Jesus verraten, verfolgen und ihm ständig nach dem Leben trachten. Im Johannes-Evangelium wird das folgenschwere Bild der Juden als der „Christus-Mörder" festgeschrieben. Warum also, frage ich mich, beruft sich der Pfarrer ausgerechnet auf das judenfeindlichste Evangelium, um die Judenfreundschaft der Kirche zu beweisen? In den unglaublich sadistischen Passions-Spielen des 14. und 15. Jahrhunderts werden die Juden (=Christusmörder) dann eindeutig als Marionetten des Teufels vorgeführt. Und in seinen großen Passionen läßt Johann Sebastian Bach „die Juden wunderbare und wüst verzerrte Chöre unversöhnlichen Hasses singen, in extremen rhythmischen Zusammenballungen und schneidenden Dissonanzen, von stechenden Instrumentalstimmen begleitet."

So beschreibt der Musikwissenschaftler Peter Schleuning sein Hör-Erlebnis. In der Karwoche 1991, während ich die Zeitungsausschnitte über Schändungen jüdischer Friedhöfe durchsehe, höre ich im Radio die Johannes-Passion von Bach. Beim Hören fällt mir ein Begriff des Historikers Léon Poliakov ein: „Propaganda der Erinnerung". Diese Tat ziele ins Herz des christlichen Glaubens, hat der evangelische Pfarrer gesagt. Mir scheint, auch er trachtet vor allem danach, sein Nest als ein sauberes herzuzeigen. Er hätte doch auch über den Judenhaß des alten Martin Luther predigen können, wenn er gewollt hätte ... Der junge Luther hatte sich zeitweise den Juden als dem „Volk der Bibel" mehr verbunden gefühlt als den Papisten und gehofft, die Hebräer doch noch zur Anerkennung des christlichen Messias zu überreden. Als ihm das nicht gelang, schlug seine Sympathie um in Haß. Im Jahre 1543 veröffentlichte er eine Schrift VON DEN JUDEN UND IHREN LÜGEN. Vierhundert Jahre später brachten die Nazis diesen Text mit großem Erfolg unter die Deutschen: „... Daß man ihre Synagogen oder Schulen mit Feuer anstecke, und was nicht verbrennen will, mit Erde überhäufe und beschütte, daß kein Mensch einen Stein oder Schlacke davon sehe ewiglich ... Daß man ihnen verbiete, bei uns öffentlich Gott zu loben, zu danken, zu beten, zu lehren, bei Verlust Leibes und Lebens."
 

EIN VAMPIRISMUSKULT IN ENDINGEN

Propaganda der Erinnerung ... Im Ohr die Haßgesänge der Bachschen Juden, im Kopf einen merkwürdigen Bildersalat: der zwei Meter lange, rot angemalte Pfahl im Löß; Christopher Lee als Ewiger Jude; eine Lagerstraße in Auschwitz; mein Vater als Nazi uniformiert; ein Männergesangverein im deutschen Wald; ein Pfarrer, mit ausgebreiteten Händen Unschuld beteuernd ... Und schließlich erwische ich den Zipfel der Erinnerung an eine Geschichte, die ich vor 15 Jahren einmal in Wyhl gehört, aber nicht weiter beachtet habe. Sie handelt vom jüdischen Blutdurst und von gottseligen unschuldigen „Kindlein", und sie spielt in der Stadt Endingen am Kaiserstuhl. Tatsächlich finde ich die Geschichte dann abgedruckt in der Endinger Stadtchronik von 1988. Der Erzähler heißt Karl Kurrus, Heimatforscher und Mundartdichter. „In der Pfarrkirche von St. Peter von Endingen wurden bis 1967 in einem Glasschrein auf dem rechten Seitenaltar mumifizierte Leichen von zwei Kindern aufbewahrt. Sie erfuhren rund 500 Jahre Beachtung und Verehrung. Nach den Quellen und Überlieferungen hat eine vierköpfige Familie fahrender Leute im Jahre 1462 in Endingen um Herberge gebeten und ist tags darauf nicht mehr gesehen worden. Erst acht Jahre später, als 1470 das Beinhaus vom Kirchhof St. Peter baufällig wurde, fanden sich vier Leichen ohne Köpfe in den Beinhaufen vergraben. Man verdächtigte die Juden eines Ritualmordes und folterte sie bis zum Schuldbekenntnis. Sie wurden verurteilt, durch die Straßen der Stadt zur Richtstätte (heute noch als „Judenbuck" bezeichnet) geschleift und 82 dort verbrannt. Gleichzeitig wurde allen Juden das Betreten der Stadt und des Bannes Endingen verboten. Das Endiger Geschehen aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts blieb trotz mancher Berichte von Autoren sowohl christlicher wie jüdischer Herkunft jahrhundertelang in mystisches Dunkel gehüllt." Was soll das heißen, „blieb in mystisches Dunkel gehüllt"? Was heißt das überhaupt: „mystisch"? Und vor allem, was heißt „Ritualmord"? Nachdem die Kreuzzüge grausige Leidenschaften gegen Andersgläubige entfesselt hatten, also gegen die Muselmanen als den äußeren, gegen die Juden als den inneren Feind, kam im christlichen Abendland des 12. Jahrhunderts die Ritualmord-Phantasie auf, eine Greuelpropaganda, die sich bis ins 20. Jahrhundert gehalten hat. Zunächst argumentierte die antijüdische Propaganda mit Berufung auf die Passionsgeschichte: Die Christus-Mörder seien selbstverständlich auch begierig danach, Christen zu ermorden. Zusätzlich zur platten Mordabsicht wurde den Juden unterstellt, sie würden nach dem Muster der rituellen Schlächtung von Tieren auch lebendigen Christenmenschen das Blut abzapfen, um es dann als Medizin oder als Aphrodisiakum oder auch als Desodorant gegen den Judengestank zu nutzen. Der Glaube an die heilende Kraft des Blutes hat eine lange Tradition. Aber in der Ritualmord-Phantasie bekommt er noch eine theologische Pointe: Weil ja das Christentum um so viel höher stehe als das Judentum, sei logischerweise Christenblut sehr viel wertvoller als Judenblut und deshalb ein von Juden besonders begehrter Saft. Im Endinger JUDENSPIEL, einem Volksschauspiel aus der Renaissance, treten die Juden als wahre Vampire auf:

„Den al mein sinn und mein gedenckhen /
auf christenbluot thut stetigs henckhen ...
will ich gedenckhen tag und nacht /
nachsetzen auch mit aller macht /
damit mir christen bluet bekhumen/
und solt es lauffen wie die brunen."

Ich frage mich, ob die Menschenköpfe im finsteren Mittelalter tatsächlich so verfinstert waren, daß sie diesen Schwachsinn für Realität nahmen. Immerhin haben doch seit dem 13. Jahrhundert die allerhöchsten geistlichen und weltlichen Autoritäten die Ritualmord-Phantasie als Aberglauben verurteilt, so die römischen Päpste Innozenz IV., Gregor X., Martin V. und Nicolaus V. Und die deutschen Kaiser Friedrich II., Rudolf von Habsburg und Friedrich III. Auch kannten zumindest die Gebildeten jenen Satz aus dem Buch Leviticus, der den Juden den Genuß von Blut ganz generell verbietet: „Darum habe ich den Kindern Israel gesagt: Keiner unter euch soll Blut essen, auch kein Fremdling, der unter euch wohnt." Bekannt war in den finsteren Zeiten zudem die Argumentation christlicher Aufklärer, wie sie z.B. Andreas Ossiander, Prediger der St. Lorenz-Kirche in Nürnberg (um 1530), vortrug: Er lüftete ein offenes Geheimnis, wenn er die Christen anklagte, sie versuchten doch nur mit Hilfe des Ritualmord-Märchens jüdische Gläubiger loszuwerden. Die Hinrichtungen der beschuldigten Juden seien in Wirklichkeit Raubmord, begangen von Landesherren, Räten, Richtern, Schöffen und verschuldeten Untertanen. Mitwisser und Nutznießer seien Pfaffen und Mönche, welche nach jedem angeblichen Ritualmord sofort irgendwelche Wunder inszenierten und einen Wallfahrtsort gründeten, um einträgliche kirchliche Geschäfte zu betreiben.

Auch das Endinger Geschehen – laut Karl Kurrus „jahrhundertelang in mystisches Dunkel gehüllt" – ist nach dem bekannten Muster als kollektiver Raubmord an Juden geplant und durchgeführt worden. Von dem Komplott gegen den Rabbi Elias und seine Brüder haben Mittäter profitiert, Mitwisser und Mitläufer. Die Stadt war pleite. Viele Endinger Bürger waren mit Zahlungen in Verzug an christliche Obrigkeit und christliche Gläubiger. Um diese Schulden zu bezahlen, mußten sie Schulden machen bei jüdischen Geldverleihern. Gegen die Macht der christlichen Gläubiger half keine Gewalt, wohl aber gegen die Juden, und wenn das Fleisch des jüdischen Sündenbocks auf dem Scheiterhaufen brennt, verbrennt auch der Schuldschein aus Papier. Nach jeder Hinrichtung von Juden blieb Beute übrig, Bargeld und Wertsachen. Die Mörder verteilten diese Erbschaft unter sich, wobei der Vorsitzende des Gerichts den Löwenanteil einstrich. Zu den Profiteuren gehörte auch die Kirche Sankt Peter. Denn unverzüglich verrichteten die Reliquien der angeblichen Judenopfer die klassischen Wunder (sie heilten Lahme und Blinde), worauf die Kirche den Kult der „unschuldigen Kindlein" einrichtete als zusätzliche interessante Einnahmequelle. Und schließlich: Profitiert hat die herrschende Ordnung ganz generell. Denn in der vollkommen destabilisierten Gesellschaft gegen Ende des 15. Jahrhunderts herrschte dicke Luft, da und dort wetterleuchteten schon die Vorzeichen des kommenden Bauernkrieges, Klöster und Paläste spürten die Aggressivität der damaligen Modernisierungsverlierer. Eine solche Situation schreit nach Entladung, nach Blitz und Donner, Triebabfuhr, nach einem Tötungsfest. Freud definiert die Übertretung eines Tabus als einen „gestatteten, vielmehr einen gebotenen Exzeß, den feierlichen Durchbruch eines Verbots". Die öffentliche Hinrichtung war ein Tötungsfest, ein gemeinschaftlich verabredeter Justizmord, feierlich vollzogen nach christlichem Ritual, also ein christlicher Ritualmord an Juden. Zur Inszenierung gehört das Gemeinschaftserlebnis, d.h. die in einer dichtgedrängten Menge gemeinschaftlich erlebte Mordlust. „Dass man sy umbschleuff in der statt / bitz man ein guot vergnuegen hadt" fordert ein Schöffe im Endinger „Judenspiel". „Vergnügen", ja, das ist sehr gut ausgedrückt. Und damit solche Veranstaltungen inszeniert werden konnten, lag eine Anzahl stereotyper Beschuldigungen bereit. u.a. eben die Phantasie vom Juden als Vampir. Dabei ist es gleichgültig, ob die Phantasie geglaubt wurde,  oder nur halb, oder gar nicht. Sie war einfach unverzichtbar, und deshalb stieß jeder Versuch von Aufklärung jahrhundertelang an seine Grenzen. Der Heimatdichter Kurrus schreibt: „Sie (die mumifizierten Leiche) erfuhren rund 500 Jahre Beachtung und Verehrung". Wie harmlos so ein salbungsvoller Satz tut! „... erfuhren Beachtung und Verehrung." Ich möchte denselben Tatbestand anders ausdrücken: 500 Jahre lang wurde in Endingen ein Kult des jüdischen Vampirismus gepflegt. Dieser Kult entspricht der Formel von Léon Poliakov „Propaganda der Erinnerung".

  • Bis ins Jahr 1967 ließen die Pfarrherren von St. Peter die Reliquien der angeblichen Judenopfer in einem Glasschrein unter dem rechten Seitenaltar zur Schau stellen und verehren.

  • Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts wurde regelmäßig am 28. Dezember (dem Tag der „unschuldigen Kinder") der Glasschrein in einer Prozession durch die Stadt getragen, um – so die Begründung einer Predigt von 1754 – „die jährliche Gedächnuß zweyer unschuldiger Kinder, samt ihrer von den Juden allda grausamst ermordeten Eltern feierlich zu begehen".

  • Noch heute zeigt das Oberbild über dem Sebastiansaltar die angeblichen Judenopfer, und auf der großen Glocke OSANNA sind ebenfalls die „Kindlein" ohne Köpfe abgebildet.

  • Bis zum Jahr 1834 war am sogenannten „Judenhaus" eine große Tafel angebracht, auf der eine Bildergeschichte das Lügenmärchen als historische Wahrheit erzählt. Die Tafel wurde regelmäßig renoviert. Eine Inschrift lautet: „Die Mordtat ist in diesem Haus von den Juden vollbracht, anno 1462".

  • Ein Jahr nachdem die benachbarte Kirche St. Martin mit Hilfe eines Marienwunders zur Wallfahrtskirche aufgestiegen war, brachte 1616 die Pfarrgemeinde St. Peter sehr nachdrücklich ihre wundersamen Reliquien in Erinnerung. Vor Tausenden von Zuschauern aus der gesamten Region wurde das JUDENSPIEL aufgeführt, ein Schauspiel, das die Realinszenierung des Tötungsfestes von 1470 auf der Bühne nachinszenierte als theologisch argumentierende Greuelpropaganda. Ende des 19. Jahrhunderts fanden sich in Endingen noch acht Abschriften des JUDENSPIELS sowie mehrere Versionen eines „Volksliedes" von derselben Machart.

  • Im Jahr 1870 verfaßte der Endinger Bürgermeister Kniebühler ein Verspoem, das ohne jede Einschränkung die Geschichte nacherzählt: „Die Juden nahmen sicher an, / Daß Christenblut curiert, / Drum haben sie den Mord getan, / Vier Christen massakriert." – nachgedruckt 1923 in dem Blättchen: MEIN KAISERSTUHL, HEIMATKLÄNGE AUS ALTER UND NEUER ZEIT.

  • Das antisemitische Journal DER KULTURKÄMPFER von Otto Glagau aus Berlin veröffentlichte 1882 unter der Rubrik „eingesandt" eine Nacherzählung des JUDENSPIELS. Zum Dank dafür bekam Glagau zum ersten Mal eine Verlagsanzeige der Herderschen Verlagsbuchhandlung in Freiburg, sinnigerweise für ein Buch mit „Tabellen zur schnellen und richtigen Berechnung der Zinsen".

  • 1903 erzählt der badische Heimatdichter Heinrich Hansjakob die Geschichte noch einmal nach, und zwar als „glaubhaft". Er fügt hinzu: „Auch in unseren Tagen spricht man von solchen Ritualmorden, denen die Endinger Geschichte einigen Hintergrund gibt. Merkwürdig in unserer Zeit ist nur, daß man der Sache nie richtig auf den Grund kommt."

Damit wir uns nicht mißverstehen: Ich nehme nicht an, daß irgendein Bürger aus Endingen mit von der Partie war, als nächtens im Ihringer Judenfriedhof das Grab des Gemeindevorstehers Meyer nach Dracula-Art gepfählt wurde. Sowas kann ich mir überhaupt nicht vorstellen. Aber offenkundig waren es die Bürger von Endingen, die 500 Jahre lang mit Ihrem Kindlein-Kult den Glauben an den jüdischen Vampirismus gehegt und gepflegt und aus dem finsteren Mittelalter in unsere Gegenwart herübergeschleppt haben, als kirchliche Tradition, als Brauchtum, als Volkskultur. Nur nach und nach wurde der Kult auf Druck von oben abgedrängt in die Zone des Unanständigen, weil Verbotenen. Aber selbst die Entnazifizierung hat er im Schutz der Kirche überlebt. Gewiß, die Bürger von Endingen können darauf verweisen, daß vor 1933 – im Gegensatz zu Ihringen – nicht die Nazis, sondern das katholische Zentrum stärkste Partei am Ort war. Andererseits, ein antijüdisches Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes, wie es die Nazis dann erließen, brauchte Endingen ja gar nicht mehr, sowas hatte man schon seit 1470. Seither war Endingen in einem Zustand, den der Nazijargon mit judenfrei bezeichnete. Bleibt noch zu erwähnen, daß im Jahre 1967 der Endinger Stadtpfarrer Gäng die Reliquien der „Kindlein" aus dem Schrein entfernen ließ. Kurz zuvor hatte nämlich der Heimatdichter Kurrus, offenbar beflügelt vom kritischen Zeitgeist, den Prozeß gegen die drei angeblichen jüdischen „Ritualmörder" noch einmal eröffnet und die Angeklagten mangels Beweises freigesprochen: „Mein Versuch, alle Quellen zu erschließen und alle Stimmen zu hören, kann keinen Beweis für die Schuld der angeklagten und hingerichteten Juden erbringen." Dann aber wies er die Zumutung weit von sich, nun endlich um der Erkenntnis willen den Prozeß zu eröffnen gegen kirchliche Tradition, gegen Heimat- und Brauchtumspflege, gegen den Antisemitismus als Grundmuster deutscher Volkskultur. Die notwendige Nestbeschmutzung fand nicht statt. Kurrus schließt seinen Text mit einem Zitat der von den Nazis ermordeten katholischen Klosterfrau jüdischer Herkunft, Edith Stein: „Laßt uns nicht richten, daß wir nicht gerichtet werden." So groß ist offenbar die Angst vor Aufklärung, die Angst vor Erkenntnissen, das eigene Nest betreffen: „... daß wir nicht gerichtet werden."
 

PROTOKOLL EINER STAMMTISCHRUNDE. MAI 1991

Was man hier im Ort von der Sache in Ihringen halte?
„Ihringen? Ach ja, die Sache mit dem Judenfriedhof. Ja, davon ist etwas in der Zeitung gestanden, und zwar mehrmals. Ja, in Ihringen war das."
Wie das früher hier gewesen sei mit den Juden, hier in Endingen. Ob es da Probleme gegeben habe ... „Nein. Bei uns in Endingen nicht. Hier haben ja überhaupt nur drei Juden gewohnt. In Eichstetten drüben, ja. Dort hat es viele gegeben. Sogar eine Synagoge. Aber hier ... Sehen Sie, da war die Blum Rosa mit ihrem Lädeli. Und dann die beiden Hausers. Aber die waren überhaupt nicht typisch jüdisch, die haben ja feste Preise gehabt. Und er, der Hauser, Siegfried Hauser, der war ja sogar im Krieg gewesen für Deutschland, grad so wie d’Unseri. Der ist auch nicht weggezogen später, weil er gedacht hat, sein Eisernes Kreuz erster Klasse würde ihm helfen. Hat er gedacht."
Und in Eichstetten?
„Da war zum Beispiel der Isaak. Der ist hier öfter vorbeigekommen. Ein Viehhändler, und eigentlich auch gar nicht typisch jüdisch. Der hat dir ein Stück Vieh in den Stall gestellt, und wenn es nicht gepaßt hat, also wenn es meinetwegen nicht gefressen hat, dann ist der gekommen und hat es anstandslos wieder mitgenommen. Der war immer unterwegs, aber reich geworden ist der auch nicht." Ob die jiddisch geredet hätten, oder mit Akzent? „Nein, da hat man nichts gemerkt. Die haben geschwätzt wie mir." Und was dann ein „typisch jüdischer" Viehhändler sei? Den schmeißt man hinten raus, und vorn kommt er wieder rein. Wie man so sagt."
Und ein christlicher Viehhändler?
„Das paßt nicht. Das geht nicht gut. Der Vater hat immer gesagt: Viehhändler, das ist nicht für d’Eigene."
Ob es in Endingen auch Asylanten gebe?
„Oh ja! Mehr als genug! Die haben ja nichts zu tun! Deshalb schleichen sie auch um unsere Frauen herum. Unsere Frauen trauen sich überhaupt nicht mehr zum Baden an den Weiher, weil dort die Asylanten hinterm Busch sitzen. Also das will ich ganz klar sagen: Es ist nicht recht, daß die nicht arbeiten dürfen, im Gegenteil, sie sollen arbeiten. Sonst sind es ja letztendlich wir, die denen den Hotelaufenthalt in Deutschland bezahlen müssen. Für die wird überall was freigemacht, die werden zwangsweise einquartiert. Die Aussiedler übrigens auch."
In welcher Rangfolge müßte man gerechterweise die Wohnungen vergeben?
„Also zuallererst kommen d’Eigene. Und dann die Aussiedler, jedenfalls dann, wenn sie nachweisen können, daß sie deutschstämmig sind. Und dann zum Schluß die Fremden. Aber die brauchen wir doch überhaupt nicht! Die werden uns zugeschoben, weil sie niemand haben will! Warum nimmt  das Ausland keine auf?"
(Einer der drei Herren hat ausgetrunken, erhebt sich. Im vollen Bewußtsein daß er seinen Abgang mit einer riskanten Pointe würzt, formuliert er das, was ihm schon lange auf der Seele liegt. Er erntet keinen Widerspruch.)
„Und ich sag Ihnen eines: Mit den Juden war das damals genauso. Das Ausland hat sie nicht gewollt, Amerika zum Beispiel, Amerika hätte sie doch nehmen können, aber uns, uns sind alle zugeschoben worden. Wenn der Amerikaner damals, ich sag’s Ihnen, wie es war, wenn der Amerikaner damals mehr Juden aufgenommen hätte, dann hätte sich der Adolf ein paar Gaskammern gespart."

 

CORPUS CHRISTI. RAHELS BRIEF

Dem gebildeten Publikum fällt es natürlich leicht, die Neonazis von Ihringen als „Abschaum" und den Vampirismus-Kult von Endingen als „Provinz" weit von sich zu schieben. Überhaupt ist es ja üblich, die ordinären Antisemiten mit den Augen von Insektenforschern zu betrachten. Als ob diese Figuren aus dem Gulli gekrochen wären und nicht aus dem Schoß der abendländischen Zivilisation. Deshalb ein Griff ins Bücherregal. Dort finde ich, auf der Höhe der deutschen National-Literatur, irgendwo eingeordnet zwischen Novalis, E. Th. A. Hoffmann und Tieck, ein Buch mit dem wundersamen Titel DES KNABEN WUNDERHORN. Es enthalte, sagt Heine, „die holdseligsten Blüten des deutschen Geistes", und die Literaturgeschichte rühmt es als „lange verschütteten Born echter Poesie". Erschienen ist die berühmte Volksliedersammlung zum ersten Mal 1806/1808, Herausgeber sind der katholisch-romantische Antisemit Clemens Brentano und der preußisch-aristokratische Antisemit Ludwig Achim von Arnim. Beide befinden sich mit ihren Anschauungen auf der Höhe der Zeit, will sagen: auf dem Niveau eines Denkens, das den Inhalt des künftigen deutschen Nationalstaats völkisch definiert, ganz und gar im Gegensatz zu den Ideen der Französischen Revolution. Und es überrascht mich gar nicht, wenn ich lese, daß in der von Arnim gegründeten „Christlich-Deutschen Tischgesellschaft" folgenden Personengruppen der Zutritt verboten war: „Frauen, Franzosen, Philistern und Juden". Frauen, Franzosen und Juden stören den deutschen Patriotismus, das ist bekannt. Aber Philister? Warum werden die ausgegrenzt? Nun, Achim von Arnims Männerbund verstand sich eben modern, als

Avantgarde, und gerade nicht als „ewig-gestriger" Spießbürgerverein. Achim von Arnim war der Ansicht, die Liedersammlung DES KNABEN WUNDERHORN sollte eine nationale Aufgabe erfüllen. In einem Aufruf im „Reichsanzeiger" schrieb er 1805: „Wären die deutschen Völker in einem einigen Geiste verbunden, sie bedürften dieser gedruckten Sammlungen nicht, die mündliche Überlieferung machte sie überflüssig. Aber eben jetzt, wo der Rhein ... einen schönen Teil los löst vom alten Stamme, andere Gegenden in kurzsichtiger Klugheit sich vereinzeln, da wird es notwendig, das zu bewahren und aufmunternd auf das zu wirken, was noch übrig ist, es in Lebenslust zu erhalten und zu verbinden."

Bei Durchsicht der Liedersammlung stelle ich fest, daß zu den Überlieferungen, die bewahrt und in Lebenslust erhalten werden sollen, auch der abendländische Judenhaß gehört. Arnim/Brentano drucken unter dem Titel DIE JUDEN VON PASSAU ein Hetzlied ab, ganz offensichtlich, weil sie es gut finden. (Auch Goethe fand es zwar „bänkelsängerisch" aber „lobenswert".) Die Ballade bezieht sich auf einen Fall von angeblicher „Hostienschändung" aus dem Jahr 1477. Clemens Brentano hat eine Liedversion in einem katholischen RÜEFBÜCHL gefunden, Arnim hat sie gekürzt und sprachlich leicht modernisiert. Die Beschuldigung der Hostienschändung kam auf im 12. Jahrhundert, fast gleichzeitig mit der Ritualmord-Phantasie. Als dann im Jahr 1215 das IV. Laterankonzil die Transsubstantiations-Lehre zum Dogma erhob, bekam die Beschuldigung noch mehr Gewicht. Denn von nun an war Hostienschändung kein bloß symbolischer Akt, sondern die Ermordung des leibhaftigen Christus, der sich im Mysterium der „Wandlung" in die Hostie hineinverwandelt. In der Folge kam es im 13. und 14. Jahrhundert zu grausigen Pogromwellen, bei denen zehntausende Juden als Hostienschänder (= Christusmörder) abgeschlachtet wurden. Bis ins 20. Jahrhundert hat die Phantasie der Hostienschändung in der christlichen Volkskultur überlebt. Das Volkslied DIE JUDEN VON PASSAU erzählt in der Fassung von Arnim/ Brentano, wie ein christlicher Judas den Juden die Hostien verkauft und was die dann damit anstellen:

Die Juden ließens zum Tempel,
Bald tragen auf den Altar,
Ein Messer sie auszogen,
Und stachen grimmig drein.
Bald sahen sie herausfließen,
Das Blut ganz mild und reich,
Gestalt sich sehen ließe,
Eim jungen Kindlein gleich.

Was Arnim/Brentano hier als Ausdruck rührender Volksfrömmigkeit verkaufen, ist in Wirklichkeit Ergebnis harter Predigerarbeit. Denn das „Wunder von Passau" ist hervorragend dazu geeignet, zweierlei zu beweisen:
(1) Daß die schwer begreifbare Transsubstantiations-Lehre nicht gelogen ist. Beweis: die wundersame Fleischwerdung Christi als Christkind in der Hostie.
(2) Daß die Juden, jene alten Christus-Mörder aus dem Johannes-Evangelium, immer noch dasselbe im Sinn haben:

Sie meinten und verhofften,
Christum auszutilgen gar,
Drum heizten sie ein Ofen,
Worin die Hostien warn.

Schon im Mittelalter unterstellt die christliche Greuelpropaganda den Juden immer exakt die Mordlust, welche offenkundig die Propagandisten beherrscht: Die Hostienschändungs-Phantasie zeigt die Juden, wie sie das Christkind mit Messern stechen und im Ofen verbrennen. Und dasselbe werden die Christen, dann allerdings sehr real, mit den Juden machen: Erschlagen mit dem Schwert, verbrennen auf dem Scheiterhaufen.

Zwar vier aus den Gefangnen,
Haben sich weisen lahn,
Die Seeligkeit zu erlangen,
Den Glauben genommen an.
Die andern sind verbrennet:
Die vier, so sich bekehrt,
Die Christen sich genennet,
Die gab man zu dem Schwert.

Ich finde also in DES KNABEN WUNDERHORN unter den „holdseligsten Blüten des deutschen Geistes" ein antijüdisches Hetzlied, millionenfach gedruckt, bis auf den heutigen Tag immer wieder kommentarlos neu aufgelegt, genauso dumm und platt und folgenreich wie der Vampirismus-Kult in Endingen: Propaganda der Erinnerung. Der Fund löst überhaupt keine Entdeckerfreude aus, allenfalls ein paar rhetorische Fragen: Warum haben Clemens Brentano und Achim von Arnim nicht zusätzlich zu diesem Dokument christlicher Greuelpropaganda die tatsächlich 1477 in Passau begangenen christlichen Greuel dokumentiert? Warum haben sie nicht in ihre Sammlung wenigstens eines der jüdischen Klagelieder aufgenommen, in denen der christliche Ritualmord an Juden aus der Perspektive der Opfer geschildert wird? Und schließlich: Warum haben sie sich nicht belehren lassen über die Verantwortlichkeit der Intellektuellen, und zwar von einer Frau, in deren Berliner Salon sie verkehrten, von Rahel Levin, später: Rahel Varnhagen. Auszug aus einem Brief von Rahel Levin an ihren Bruder über die ersten modernen Judenpogrome in Deutschland, die sogenannten „Hep-hep-Unruhen". Geschrieben am 29.8.1819.
„Ich bin grenzenlos traurig; und in einer Art, wie ich es noch gar nicht war. Wegen der Juden. Was soll diese Unzahl Vertriebener tun." „Vertriebene"! Die antisemitische Meinung würde niemals zugeben, daß die Juden jahrhundertelang periodisch aus ihrer jeweiligen Heimat vertrieben worden sind, aus Endingen, Breisach, Freiburg, Basel. Stattdessen deutet das Gerede den äußeren Zwang der Vertreibung um in einen zwanghaften Wandertrieb, in die angebliche Mentalität des „Ewigen Juden". „Was soll die Unzahl Vertriebener tun. Behalten will man sie: aber zum Peinigen und Verachten; zum Judenmauschel schimpfen; zum kleinen dürftigen Schacher; zum Fußstoß und Treppenrunterwerfen." Die Mehrheit der Deutschen empfand die bürgerliche Gleichberechtigung der Juden im 19. Jahrhundert als Verletzung einer sozialen Norm. Bisher hatte es als gerecht gegolten, daß Juden in allen Lebensbereichen eine mindere Stellung einnahmen, daß es also immer jemanden gab „zum Treppenrunterwerfen". Solang ich unter mir Sklaven seh, ertrag ich über mir die Herrn. „Die Gesinnung ist’s, die verwerfliche gemeine, vergiftete, durch und durch faule, die mich so tief kränkt, bis zum Herzerkalten? Schreck. Ich kenne mein Land! Leider. Eine unseelige Cassandra! Seit 3 Jahren sag’ ich: die Juden werden gestürmt werden: ich hab Zeugen. Dies ist der deutsche Empöhrungs Muth..." Keinen König geköpft, keinen Kaiser, und erst recht keinen Führer. Aber die entrechteten Juden getötet unter der Fahne der „Deutschen Revolution". „Dies ist der deutsche Empöhrungs Muth". „Was es (das Volk) zu fordern hätte, weiß es nicht: nur Unterrichtete unter diesem Volk möchten es ihm lehren: unter diesen sind aber viele Ungebildete mit rohem Herzen; wo auch Raum für Neid ist ..." Viele deutsche Akademiker, die „Unterrichteten", reagierten empört auf die Gleichberechtigung der bildungshungrigen Juden in Ausbildung und Beruf. Und sie reagierten antisemitisch, von den deutschtümelnden Burschenschaften bis zur braunen Universität.
„... wo auch Raum für Neid ist, gegen eine große Anzahl solcher Juden – die man kraft Religionsauswüchse als Untergeordnete Wesen hassen, verachten und verfolgen dürfte. Einige Weise Fürsten Deutschlands, und lange Zeit, in der immer Irrthümer untergehn, hatten dieser Ausrede ein Ende gemacht."

Die aufgeklärte Reformpolitik Joseph II. prallte an den katholischen Städten Freiburg und Endingen zunächst ab, – und kaum waren einige Ideen der Aufklärung bekannt geworden, sorgte schon die politische, völkische Romantik für das Comeback des Mittelalters. „Die Gleißnerische Neuliebe zur Kristlichen Religion Gott verzeih mir meine Sünde!, zum Mittelalter, mit seiner Kunst, Dichtung und Gräueln, hetzen das Volk zu dem einzigen Gräuel zu dem es sich noch an alte Erlaubnis erinnert, aufhetzen läßt! Judensturm." „An alte Erlaubnis erinnert ..." sagt Rahel Levin, im Rückblick zu den christlichen Ritualmorden an Juden. Freud 100 Jahre später: „Ein gestatteter, vielmehr ein gebotener Exzeß, ein feierlicher Durchbruch eines Verbots". „Die Insinuatzion (Einflüsterungen) die seit Jahren alle Zeitungen durchlaufen. Die Professoren Fries und Rühs, und wie sie alle heißen. Arnim Brentano, unser Verkehr; und noch höhere Personen mit Vorurtheil." Die Verantwortung der Intellektuellen, der Dichter, der Professoren ... Von dem Heidelberger Professor Fries stammt die Hetzschrift: „Über die Gefährdung des Wohlstands und des Charakters der Deutschen durch die Juden", von dem Berliner Professor Ruess eine andere: „Über die Ansprüche der Juden an das deutsche Bürgerrecht". Ruess forderte für die Juden eine äußere Kennzeichnung, eine Volksschleife, wie er sagt. Im Mittelalter hieß das Ding Judenfleck, bei den Nazis Davidsstern, und immer war es ein Mittel, das die designierten Opfer markieren sollte. „Kurtz wozu die Worte die ich ohne Ende häufen kann: es ist lauter Schlechtes; That, und Motif; und nicht die That des Volks, das man hep schreien lehrte." Vielleicht geht das „HEP" auf die Initialen des Hohnrufs zurück, mit dem die römischen Soldaten seinerzeit Jerusalem eroberten: „Hierosalyme est perduta" – Jerusalem ist hin. Vielleicht ist das „HEP" ein üblicher Ruf der Ziegenhirten – immerhin wurden ja seit dem Mittelalter die Juden als geile, stinkende Ziegenböcke dargestellt, und damit entmenscht und verteufelt. Wie dem auch sei: Rahel Levin beharrt darauf: es ist „nicht die Tat des Volks, das man ’HEP’ schreien lehrte". Die Verantwortung der Intellektuellen. „Eine herrschende Religion taugt nicht. Das ist unreligiös. Dies war der faule Flek im Judenthum, dies die Politik in dieser Religion etc."

 

VOLKSKÖRPER.

Während einer Fernsehdiskussion vernichtet ein Politiker die Ausführungen eines anderen Politikers mit dem Satz: Was Sie hier betreiben, das ist Brunnenvergiftung! Der andere weiß, was gemeint ist, und streitet ab. Alle Zuschauer wissen, was gemeint ist. Und was ist eigentlich gemeint mit der Metapher „Brunnenvergiftung"? Wenn jemand hinterhältig schlechte Stimmung macht. Wenn jemand Giftstoffe, als da sind: Lügen und Mißtrauen und zersetzende Ideen, heimlich einträufelt in den guten Brunnen Öffentliche Meinung, an dem wir alle uns laben. Die antisemitische Metapher „Brunnenvergiftung" geht zurück auf die dritte mittelalterliche Beschuldigung gegen die Juden, aber damals war sie noch nicht metaphorisch gemeint. Sie taucht erstmals auf 1321, und während der Pestjahre 1348/49 begründete sie dann ein allgemeines Judenschlachten. Beispiel Freiburg im Breisgau. „In Freiburg legte der Jude Maiger Natze unter der Folter das Geständnis ab, daß er in der Brunnenstube der Stadt ein Säckchen mit Gift eingelegt und danach die ausgebrochenen Steine an der Brunnenstube wieder zusammengefügt habe. Der Jude Jokeli Jolieb gestand, ein Jude aus Basel mit Namen Swendewin habe 24 Gulden dafür erhalten, daß er Gift in die Brunnen legte. Das Gift hätten die Juden in Basel mit dem ausdrücklichen Verlangen geliefert, alle Brunnen zwischen Freiburg, Breisach und Endingen zu vergiften. Auch aus Waldkirch sollten die Freiburger Juden Brunnengift erhalten haben, das angeblich Anselm von Veringen aus Jerusalem mitgebracht hatte und das nur den Christen den Tod brächte, wenn sie von dem Wasser tränken, während es den Juden unschädlich sei."
Die Sache ging aus wie üblich: vielfacher christlicher Ritualmord an Juden, Beraubung & Vertreibung; Schulden waren annulliert, kaufmännische Konkurrenz war ausgeschaltet. Außerdem aber hat die christliche Phantasie ihr Feindbild erweitert: Sie erfand sich eine weltweit verzweigte jüdische Verschwörung, welche die Endlösung der Christenfrage anstrebt, ein Genozid quasi mit chemischen Waffen. Nicht mehr nur einzelne Christenleiber oder das Corpus Christi in der Hostie sind bedroht, sondern der Kollektivleib der Christenheit, das „Wir", „d’Unseri", „d’Eigene" schlechthin. Ideologisch heißt das Nest noch „Christenheit", später wird es „Deutschland" heißen oder „Nation Europa", aber gleichbleibend über sieben Jahrhunderte fühlt sich der Volkskörper vom jüdischen Gift lebensgefährlich bedroht.
 

BERUF: JUD. VOLKSMUND HEUTE

Alle Eigenschaften, die das christliche Mittelalter dem Feindbild „Jude" angedichtet hat, sind auf eine fürchterliche Art prägnant und prägend, und sie sind auch nicht mit der Aufklärung verblaßt, sondern sie wurden immer wieder neu metaphorisch umgedeutet, was die Sache überhaupt nicht besser macht. Am Beispiel der „Brunnenvergiftung" habe ich davon gesprochen. Ganz ähnlich verhält es sich mit dem jüdischen „Vampirismus". Die metaphorische Bedeutung von „Blutsauger" meint einen Geschäftsmann, der auf Zins Geld verleiht, altmodisch ausgedrückt: den „Wucherer". Diese häßliche und traurige Figur ist längst ausgestorben, ersetzt durch das moderne Bank- und Kreditwesen. Jahrhundertelang bevor sich die kapitalistische Produktionsweise entwickelt hat, existiert schon das zinstragende Kapital, der Wucherer, wenn auch nur marginal und destruktiv. Marx formuliert so:
„Er (der Wucherer) ändert die Produktionsweise nicht, sondern saugt sich an ihr als Parasit fest und macht sie miserabel. Er saugt sie aus, entnervt sie und zwingt die Reproduktion, unter immer erbärmlicheren Bedingungen vorzugehen." Der Wucherer, offenkundig ein rechter Vampir, hat auf gut altdeutsch einen Namen: „Der Jud".
Noch in der Karolingerzeit waren die Juden die Handeltreibenden schlechthin, die „wagenden Kaufleute", die einzigen mit dem Kontakt nach dem Orient. Aber gegen die später aufkommende Konkurrenz der christlichen Kaufleute hatten sie schlechte Karten, weil sie, seit den Kreuzzügen ständig bedroht und auf der Flucht, ihre Geschäfte weder militärisch noch rechtlich schützen konnten. Zudem ausgeschlossen aus der Landwirtschaft und dem zünftigen Handwerk, fielen sie nach und nach zurück in die Branche, die ihnen allein noch offenstand: Kleinhandel und Handel mit der Ware, die auf der Flucht am wenigsten Platz wegnimmt: Handel mit der Ware Geld. Selbstverständlich waren die Juden niemals die einzigen, die mit der Ware Geld handelten. Und im 16. Jahrhundert, als besonders heftig gegen den jüdischen Wucher gepredigt wurde, hatte der christliche Welthandel der Fugger & Welser & Co. längst mit Hilfe des Römischen Rechts die Kapitalnutzung durchgesetzt. „Aber aufgrund ihres historischen Erbes und ihrer gewaltsamen gesellschaftlichen Abgeschiedenheit blieben sie (die Juden) die einzigen Identischen – und damit Identifizierbaren" (Detlev Claussen). Als des Kaisers Kammerknechte mußten sich die sogenannten „Schutzjuden" das Recht auf Leben in regelmäßigen Abständen erkaufen, d.h. sie zahlten Schutzgelder, um nicht jederzeit und überall erschlagen zu werden. Die Mafia arbeitet bekanntlich nach demselben Prinzip, nur mit dem Unterschied, daß sie normalerweise ihre Klienten sehr viel besser schützen kann. Beim Schutzgeld ist es nicht geblieben. 1343 führte Kaiser Ludwig der Bayer unter dem hübschen Namen „der güldene Opferpfennig" eine Kopfsteuer ein, und nach und nach wurden die Juden durch steuerliche Sonderbehandlung soweit ausgesaugt, wie es gerade ging: Zahlen für Gehen und Kommen, für das Kaufen und Verkaufen, für das Recht des gemeinschaftlichen Gebets und für die Verehelichung, für das neugeborene Kind und auch für die Toten, die man auf den Friedhof tragen muß. Zahlen für ein Konzil, für einen Krieg, für die Feier eines Regierungsantritts, zahlen auf Reichs-, Landes- und Ortsebene. Die christliche Geldgier kannte keine Grenzen. Wenn dann der jüdische Wucherer beim Bauern oder beim Handwerker Zinsen eintreibt, handelt er sozusagen als Medium der christlichen Habgier. Aber der Schuldner sieht nur den jüdischen Wucherer, der vor ihm steht beziehungsweise er will nur diesen sehen. Denn eine Widersetzlichkeit gegen die christlichen Machthaber käme ihn teuer zu stehen, aber der Haß gegen den Juden darf sich austoben, periodisch sogar beim Tötungsfest. Die unbekannten Täter von Ihringen haben das wahrscheinlich alles nicht gewußt, und ich nehme an, sie wollen es auch nicht wissen. Denn die antisemitische Meinung will von der Wirklichkeit der Juden gar nichts wissen. Das Vorurteil redet zwar angeblich über Juden, tatsächlich aber enthüllt es die Heimlichkeiten des Redenden. Herr X. aus Ihringen, 1975: „Ich will noch anführen, daß der Jude nach seinem Gesetz und Glauben dem Christen gegenüber sich viel erlauben durfte. Er konnte besonders beim Viehhandel viele Tricks anwenden. Er konnte lügen, wie er wollte. Er konnte den Bauern anschmieren. Nach seinem Glauben war das eine Wohltat für ihn." Herr X. aus Ihringen kennt weder Gesetz noch Glauben der Juden, sonst würde er nicht derartigen Unsinn erzählen. Aber er artikuliert eine lustvolle Phantasie: Was wäre, wenn wir dürften, wie wir wollten, wenn uns Gesetz und Glauben erlaubten, zu lügen und zu betrügen und zu stehlen, wenn nicht das gesellschaftliche Tabu des Gewaltverzichts über dem Handel läge, nicht die Fessel der Verträge und Verbote? Na, dann würden wir uns doch auch lieber eine Ware aneignen, ohne das herzugeben, was wir so lebensnotwendig brauchen: Geld. Aneignen durch List, Gewalt, Tricks, wie auch immer. Aber so, wie die Dinge stehen, müssen wir leider die gewalttätige Seite des Aneignungswunsches in uns unterdrücken, hinunter ins Unbewußte. Sichtbar wird der aggressive Trieb nur dann, wenn wir ihn aus dem Unbewußten heraus auf einen Fremden projizieren, dem „nach alter Erlaubnis" alles Schlechte zugetraut werden darf. So etwas nennt man „antisemitische Projektion".

Frau Y. aus Breisach, 1991: „Ich kenne eine Frau, die ist jüdischer Herkunft. Und ich muß schon sagen, die kann wirklich gut handeln, die kann Geschäfte machen und mit Geld umgehen, das macht ihr richtig Spaß. Und sie sagt selber, das läge ihr eben im Blut." Die Kunst, zu handeln, läge im Blut. Und all die guten deutschen Christen der Deutschen Bank z.B., liegt denen auch das Geld im Blut? Nein, bei denen handelt es sich um deutsche Tüchtigkeit. Die antisemitische Meinung identifiziert nur die Juden mit dem Geld. Anlaß ist die Tatsache, daß die Christenheit jahrhundertelang die Juden durch äußeren Zwang zum Handel mit Waren und Geld verurteilt hat. Daraus zieht das Vor-Urteil den Schluß, daß Juden von einem inneren Zwang beherrscht werden, von einem Trieb. „So was liegt im Blut" will sagen: So was beruht auf Vererbung. Die jüdische Rasse ist auf Geld abonniert, die deutsche hingegen bleibt davon unversehrt. Herr Z. aus Endingen, 1991: „Viehhandel, das ist nichts für d’Eigene!" Der moderne Antisemitismus hat die kapitalistische Realität aufgespalten in Gut und Böse, in zwei Sphären, die angeblich nichts miteinander zu tun haben bräuchten, in eine Produktions-Sphäre (Landwirtschaft, Handwerk, Industrie) und eine Zirkulations-Sphäre (Handel mit Waren und Geld), hier das „schaffende", dort das „raffende" Kapital; hier das Gesunde, Blut und Boden, dort das Kranke, Zersetzende, Vampire & Parasiten; hier die gute Identität, dort der böse Fremde, hier die Deutschen, dort die Juden. Es gehört zur Normalität, Regungen, die wir als eigene in uns nicht zulassen wollen, auf Fremde zu projizieren. Für die Notdurft der Projektion hat unsere Kultur gewisse stereotype Fremd- und Feindbilder entwickelt, und das für europäische Bedürfnisse komplette Bild heißt „Jude". Die Normalität der Projektion, sagt Adorno, kann nur entschärft werden durch Reflexion nach beiden Richtungen, auf den Gegenstand (auf reale Juden, auf den realen Zionismus, auf den realen Staat Israel) und auf das Ich. Solche Reflexion nimmt zwangsläufig dem Ich die täglich behauptete Stimmigkeit und nimmt sie erst recht jenem erweiterten und überhöhten Ich, dem „Wir", „d’Eigene", „d’Unseri". Die kollektive Identität kriegt Risse, zeigt Flecken, Abgründe tun sich auf. Das Nest wird ungemütlich. Kurz gesagt: Die Aufgabe heißt Nestbeschmutzung. Allerdings gar nicht so einfach in einer Epoche, in der gerade wieder die Wunschbilder von sämtlichen Nestern auf Hochglanz poliert werden: Heimat, Volk, Deutschland, Christenheit & Europa. Gar nicht so einfach.
 

LITERATUR

Léon Poliakov (o.J.). Geschichte des Antisemitismus. Worms: Verlag Georg Heintz.
Detlev Claussen (1987). Über Psychoanalyse und Antisemitismus. In: Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen. XLI. Jahrgang, Heft 1 (Januar).
Rahel Varnhagen (1983). Gesammelte Werke, Band IX. München: Matthes + Seitz Verlag.

Walter Mossmann, 16.8.2007, waltermossmann at aol.com

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