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Blick über Freiburg zum Schönberg am 12.1.2012 - ein großes Dorf

 

Entmachtung der Dörfer stoppen - Landfrust

In diesem Frühjahr hat der Journalist Axel Brüggemann sein Buch „Landfrust" mit dem Untertitel „Ein Blick in die deutsche Provinz veröffentlicht. Der 40-Jährige ist überzeugt, dass Deutschland eine Diskussion zum Thema „zukunftsfähiges Dorf" braucht - und dazu soll sein Buch Impulse geben. Entmachtung der Dörfer stoppen Im Gespräch mit der LAND & Forst schildert der Journalist seine Erkenntnisse und Ideen zur Zukunft des ländlichen Raums.

Herr Brüggemann, wie sind ausgerechnet Sie, der viele Jahre mitten in Berlin gelebt hat, auf dieses Thema gekommen?
Zunächst hatte es gar nicht danach ausgesehen, dass ich bei diesem Thema landen würde. Eigentlich wollte ich über Landlust schreiben. Ich war mitten aus Berlin in ein kleines Dorf bei Bremen gezogen. In dem Haus, in dem ich jetzt lebe, bin ich als Kind oft bei meinen Großeltern gewesen. Meine Tante wollte es abreißen lassen, und da war meine Reaktion: ‚Das darf nicht passieren!’. Also zog ich mit meiner Familie in die Provinz, renovierte (und renoviere noch) das Haus. Doch je mehr ich meinen Berliner Freunden von meinem neuen Leben im Dorf vorschwärmte, desto mehr dämmerte es mir, dass ich mir da etwas selbst „schönerzählte". Denn wenn ich raus ging aus unserem Häuschen stellte ich fest, dass nichts mehr so war wie früher. Keine Dorfgemeinschaft, kein Laden, keine Kneipe, die Menschen fahren zu Lidl oder ins Einkaufszentrum auf der grünen Wiese zum Einkaufen, es gibt kein Dorffest mehr, die Bauern kämpfen um ihre Existenz. Da ist nichts mit Landlust. Wenn die Politik das nicht bald erkennt und den Landgemeinden die finanziellen Möglichkeiten gibt, um sich zu „restrukturieren", sehe ich schwarz für die ländlichen Räume und die (noch) dort lebenden Menschen.

Ihre Perspektive änderte sich - und auch Ihre Einstellung?
Ja, ich habe dann beschlossen, mir Dörfer in ganz Deutschland genauer anzuschauen, um herauszufinden, was mit ihnen beziehungsweise in ihnen los ist. Das Ergebnis war ziemlich niederschmetternd: Nämlich nichts.

Beim Lesen Ihres Buches hat mich zwischendurch das Grausen gepackt. Sie nehmen kein Blatt vor den Mund, ist wirklich alles so schlimm?
Ich habe geschrieben, wie ich es erlebe. Ich bin kein Lobbyist, habe auch sonst wenig Einfluss, aber ich konnte dieses Buch hier schreiben und will damit Anstöße für eine breite Diskussion geben, und ich freue mich, wie viel Resonanz ich bekomme. Das Buch wird genauso in CDU- wie in SPD-Ortsvereinen diskutiert. Ich bekomme zahlreiche Einladungen für Lesungen. Das macht mich zuversichtlich, dass hier eine Debatte in Gang kommt, wie wieder Leben in die Dörfer zu bringen ist.

Wenn ich mir die Zeitschriftenregale ansehe, scheint das Thema Leben auf dem Land aber eher positiv besetzt zu sein.
Natürlich weiß ich, dass die Hochglanzmagazine übers Landleben groß in Mode sind. Ich habe überhaupt nichts dagegen, dass Großstädter es sich nach einem anstrengenden Zwölfstundentag zu Hause mit einer Zeitschrift gemütlich machen, um noch ein bisschen ländliche Idylle zu tanken. Das will ich niemandem verbieten. Nur müssen sie dabei erkennen, dass das reines Theater ist, das mit der Realität nichts zu tun hat. Die Realität ist doch, dass Landwirte, die eine bäuerliche Landwirtschaft betreiben, es immer schwerer haben. Auf dem Land zu leben ist überhaupt keine Idylle, das ist harte Arbeit für die Menschen. Und am schlimmsten ist, dass die Dorfbewohner von allem abgehängt sind: Bus, Schule, Laden, Kneipe und so weiter.

Liegt es nicht auch daran, dass die Dorfbewohner zu wenig Eigeninitiative zeigen, um bestimmte Dinge zu erhalten?
Ich glaube nicht nur. Früher waren die Dörfer die Zentren. Doch die Politik hat in den vergangenen Jahrzehnten die Metropolisierung vorangetrieben, anstatt die Regionalisierung zu stärken. Es findet eine Entmachtung der ländlichen Räume statt. Früher hatte jedes Dorf einen Bürgermeister. Heute hat ja kaum noch ein Dorf einen Dorfvorsteher. Die Dörfer werden von den Gemeinden mitverwaltet - viele Gelder fließen nicht ins Dorf, sondern in Gemeinden und Städte. Besonders schlimm ist, dass gut ausgebildete Frauen die Dörfer verlassen. Wir haben somit die erste Völkerwanderung, die von Frauen angeführt wird! Weil diese Frauen nur dort Arbeit und eine arbeitsplatz- und wohnortnahe (pädagogische) Betreuung für ihre Kinder finden. Wenn wir nicht bald anfangen darüber zu diskutieren, geht das Thema - und damit das Landleben - unter.

Malen Sie da nicht ein bisschen zu schwarz?
Nee, überhaupt nicht, da setze ich noch eins drauf: Das Buch von Thilo Sarrazin „Deutschland schafft sich ab" ist zum Modebuch geworden, und alle regen sich auf. Tatsächlich, Deutschland schafft sich ab, aber nicht in den Ghettos der Großstädte, nicht auf dem Kiez, sondern auf dem Lande, in der Provinz. Dorfschulen werden zugunsten von großen, oft anonymen Schulkomplexen in den Kreisstädten geschlossen, etwa 30 % aller Kirchen werden in den nächsten Jahren geschlossen - Sportvereine lösen sich auf - und es gibt dort keine psychologischen Dienste mehr. Anders als in Problemvierteln der Großstädte, die mit einem dicht gesponnenen Netz aus Sozialarbeitern und Psychologen ausgestattet sind, ist die schulpsychologische Betreuung in der Provinz eher eine Ausnahme. Fast alle Amokläufe in Deutschland - mit Ausnahme von Erfurt - haben in der Provinz stattgefunden. Die Jugendlichen haben weitgehend unauffällig auf Dörfern oder in Kleinstädten gelebt oder in Speckgürteln der Städte. Und fast alle diese Jugendlichen waren in psychologischer Behandlung, haben sie aber abgebrochen, weil der Weg in die nächste Kreisstadt zu weit war. Verhält sich ein Jugendlicher in der Großstadt auffällig oder wird kriminell, sind mehrere Sozialarbeiter um ihn herum. Auf dem Land werden Sorgen gern tabuisiert. Da müssen die Jugendlichen alles mit sich abmachen, das sind Schnellkochtöpfe. Und da sehe ich eher die Gefahr für Amokläufe und Gewalt.

Und wo sehen Sie Lösungsansätze?
Wir müssen eine politische Sensibilisierung für die heutige Realität des Landlebens schaffen und uns überlegen, ob wir weiterhin das Landleben romantisieren oder endlich ehrlich sein wollen. Wir müssen die Dörfer finanziell so stellen, dass wir ihnen ihr Selbstgestaltungsrecht zurückgeben, damit sie ihre Dorfschulen wiederkriegen.
3.2.2011, Forum Pro Schwarzwaldbauern
http://landundforst.agrarheute.com

Axel Brüggemann
http://www.operatext.com/

Axel Brüggemann: Landfrust, Kindler Verlag, Hardcover, 272 S., 11.03.2011
14,95 €, ISBN 978-3-463-40592-6

 

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