Schwarzwald für Ehrenamtliche, Geschäftige und Erholungssuchende - Volunteering, Business and Holidays in the Black Forest


Stefan Pflaum
Vum Wunderfitz - Alemannische Texte
 

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Blick vom Hagenhaus zwischen Kussenhof und Scheuerhaldenhof nach Südosten zu Moosbühlhof (links), Löwen (rechts) im Wagensteigtal hoch zum Steigweg mit Steighof (links oben)

"Vum Wunderfitz"


"Vum Wunderfitz" heißt eine Serie in der Zeitung Dreisamtäler, wo sich Stefan Pflaum allwöchentlich in alemannischer Mundart über "ebbis wundere" bzw. auf Hochdeutsch "über etwas raisonieren" wird, was mit Mundart im weiteren Sinne zu tun hat. Alemannisch und Hochdeutsch werden sich regelmäßig abwechseln, um so möglichst viele Leser zu erreichen. So möchte der Dreisamtäler einen weiteren Beitrag leisten zum Lebendigerhalten der Tradition in seinem Verbreitungsgebiet.

Alle auf dieser Seite wiedergegebenen Texte von Stefan Pflaum sind im Dreisamtäler erschienen.
 

 

 

 

 

Höchschti Zit!

Des verschtohsch du no nitte, sait mr als zu de Kinder, wenn si ebbis froge, wo mr meint, si dääde no z klein sii für mit ene drüber schwätze. Oder s dääd z schwer sii für ne s erkläre. "I könnt dr s jo erkläre", sait deno de Vater oder d Mutter, "aber du verschtoh s halt no nitte". Was machsch aber, wenn die Knäggis ploge und bittle, du sottsch ene s eneweg erkläre, du könntsch jo gar nit wisse, ob si ebbis verschtehn oder nitte, vor dass du des erklärt hättsch. Jetz schtohsch wie de Ochs am Berg. "Mach jetz, Vatter, sag schu, Muetter!" quängle si deno wunderfitzig. "I hab grad ke Zit" oder "frog mi später nomol" vertröschtet als Antwort höchschtens fünf Sekunde. "Do frogsch am beschte d Muetter", hilft au nit wittersch. Meischt kunnt zruck: " Die het gsait, i sott de Vatter froge." Un was machsch, wenn dich die Dunderkaibe erpresse? "I frog de Vater vun de Gisela un vum Jens, wenn du mir s nit erklärsch!" Jetz hucksch in de Fall. Bsunders, wenn s um ebbis goht, wo de meinsch, d Kleine dääde z klei sii für mit ene drüber schwätze. Ob Drueli, Gnattli oder Luuser, sie schenke dr d Antwort nit, nie im Läbe! Ehnder kriegsch du s Ohresuse, als dass die luck losse. Für Kinder sin die Froge lebenswichtig.

"D Lehrer erkläre nix meh hittzedags!" muule no d Vätter am Stammtisch.

"Des hätte mir uns früher nit traue froge" lamentiere d Mütter im Fitnesscenter.

D Wohret isch, dass d Eltere gar ke Antwort nit wisse, wil si als Kinder au keini kriegt hen. So pflanze sich s Halbwisse un d Lüege furt. Un s ganz Weltschlammassel.

S wurd aber höchschti Zit, dass mir uf d Kinderfroge Antworte finde. Für Kinder sin die Antworte lebenswichtig. Un für d Erwachsene erscht räächt!

Stefan Pflaum, 10.10.2002

  

 

Kleine Predigt zum "Kommunizieren"

"Ich will mit dir nit kommuniziere, ich will mit dir redde", hörte ich in einem kleinen Restaurant im Elsass vom Nachbartisch. Ein junger Mann sagte das laut und aufgebracht zu seiner Partnerin. Ehefrau oder Geliebte, ich weiß es nicht. Von einer vorausgehenden Auseinandersetzung hatte ich nichts mitbekommen. Aber mir war sofort klar, worum es ging. Hier war etwas Grundsätzliches ausgesprochen. Hier fühlte sich einer nicht mehr zu Hause. Zu Hause in seiner Sprache. "Kommunikation" wird im Lexikon zwar auch übersetzt mit "Mitteilung, Gespräch, Verständigung." Aber all dies war nicht das, was mein junger Nachbar wollte: nämlich "redde". Auf jeder Party, in jeder Schulpause oder eben am Nachbartisch in der Kneipe kann man heute hören: "Irgendwie kann ich mit ihr, mit ihm nicht kommunizieren." Und man meint damit nicht das Telefon oder den Computer als Medium. Wie unendlich viel mehr als diese Worthülse "kommunizieren" ist doch das schöne Verb "redde". Die ganze Welt, das ganze Leben ist meinem Tischnachbarn als Kind in dieser Sprache, in seiner Sprache, seinem Dialekt "zugeredet" worden, hat er sich selbst in dieser Sprache erfragt und angeeignet. Die erste Angst, die erste Freude, die erste Liebe haben so gesprochen.

"Redde" heißt für ihn "aus seinem tiefsten Inneren" sprechen. Nur im "Redde" ist er ganz sich selbst, sprachlich bei sich daheim, und nur durch "Redde" auch kann er sprachlich zu seiner Partnerin gelangen. Fast verzweifelt hatte es geklungen, als er schrie, "Ich will mit dir redde!" Hier begehrte einer auf gegen das Nichtssagende, gegen Sprachlosigkeit. Dagegen, dass sich seine Partnerin verleugnete hinter irgendeinem seelenlosen Jargon, den Millionen gesichtsloser Menschen in der Welt ebenso daherplappern.

Wir lesen heute vom "Umkodieren des alphabetischen ins digitale Denken". Wir hatten im Mittelalter das Umkodieren vom Gesprochenen zur linearen Schrift. Und während schon unsere Schriftsprache von neuen Sprachen der digitalen Zukunft abgelöst werden wird, um wie viel mehr muss dann das gesprochene Wort, müssen dann Dialekte, die sich ja kaum gegen die jetzige Schriftsprache zu behaupten vermögen, um ihre Existenz fürchten? Wie viele kleine und große Tragödien des einander Nichtverstehens wird es geben, wenn erst mal alles Leben aus den Wörtern gepresst ist? Was wird einst unsere Muttersprache sein, die Sprache "in die wir hineingeboren werden"? Verlieren die Dialekte ihre Rolle als Ernährerin der Hochsprachen. Werden diese selbst verschwinden und wird gesprochene Sprache ohne das Regulativ der geschriebenen Sprache zum "verantwortungslosen Geschnatter", zum "Hintergrundgeräusch der Computerkommunikation", wie der Philosoph Vilém Flusser befürchtet? Wir werden uns gegen die Evolution auch der Sprache kaum wehren können. Aber wir erlauben uns, ein wenig traurig zu sein und zu hoffen, dass wir unserer Sprachheimat nicht allzu schnell verlustig gehen.

Vielleicht beginnt das letzte Märchen so: "Es war einmal eine Sprache, die atmete und sie hatte einen wunderschönen Rhythmus und Klang."

Aber de Wunderfitz weiß des natürlig nitte. Er frogt sich s numme un wundert sich. Un er wünscht sich, dass sini beide Tischnochbere im Elsass widder redde mitenand

Stefan Pflaum, 17.10.2002

  

D Bürgerversammlung als Konzert

Bürgerversammlung isch abghalte wore in Kirchzarte. De Bürgermeischter un usgwiesini Fachlit hen informiert über d mögliche Änderunge vum Stroßeverlauf am Pfaffeeck. Alli hen gluschdert, spanniiferd, ufbasst. Kei Mickserli hesch ghört. Vier Plän sin gegeänander abgwoge wore. Wie d Stroße am beschte dääde gführt were, wer Vorfahrt hätt, wie de Verkehrsfluss könnt gschteuert were, de Verkehr us em Zentrum an de Rand nus drängt, d Sicherheit vun de Fußgänger gwährleischtet, d Anwohner zfriedegschtellt, un wie nit zletscht der Verkehrsknote au no so billig un schön wie möglich könnt gschaltet were mit Pflaschter, Bäum un Blume. So ä Huffe Zahle hesch do könne lese an de Wand über Quell – un Zielverkehr, Lärm – un Abgasbeläschtigung, Verkehrsuffkomme, Innerort – un Durchfahrtverkehr, dass de kaasch sicher sii, do hen ernschthafti Lit lang ghirnt un au ans kleinschte Fizzili denkt für de Kirchzartener ä gaddigi, also ä gueti Lösung aabiite. Enneweg isch des Vorschlagsbündel nit so eng gschnürt gsii, dass nit ä paar Häftlimachr, also sonigi, wo alles ganz gnau welle wisse, noch die ei oder ander Verbesserung hätte dezwische stecke könne. Reschpektabli Iifäll, sapperlot! Un d Fachlit hen s notiert. Nätürlig hen au Anwohner ihri guet vorbereitete Iiwänd un Bedenke vortrage, hen welle wisse, was ene degege, was ene zweg kummt, weller Kompromiss könnt möglich sii, ob die ei oder ander Befürchtung könnt usgruumt were. Ob mr nit könnt no ä weng warte mit dere Sach die eine, ob mr nit sott no vil meh in Aagriff nämme, die andere. Wenn schu, denn schu! Froge, Antworte, Noochfroge. Un de Wunderfitz het gschpickt, wie des ohni Stritt abglaufe isch, keiner sich eschoffiert un de Burgermeischter des souverän dirigiert het. Regie gführt wie ne Bühnechef, d Stimme verteilt wie ne Chorleiter, Iisätz gen wie de Konzertmeischter in de Berliner Philharmonie, un jedi Melodie, wo het welle abschweife vum Thema, schnell widder zruckgholt, moderiert zwische Fachlit un Bürger, zwischem Wünschbare un em Machbare, beschwichtigt, si Meinung gsait, zur Kritik uffgforderet, s Für un Wider dargschtellt, un vum Dischkeriere im Gmeinderat berichtet. "Danke", "bitte", "noch Fragen?" Un s Hochditsch vum Bürgermeischter un des vun de Fachlit het sich mit em alemannische Akzent vun de Kirchzartner wie d verschiedene Instrumente ime Orcheschter uf s Schönschte vertrage.

Um s Rumgucke sin die zweiehalb Stunde vorbei gsii, un wu ni heim bin, hab i bi mr denkt, die were sich einige, s Pfaffeeck wurd ä schöns Fleckli, wu de Pfaff Salesi jede Morge mit de erhobe Hand vun sinem Podescht am Brunne kaa raaschpickle un mit eme liise, verschmitzte Lächle zue sich selber sage: "S isch ene guet groote!" De Wunderfitz meint, de Verkehr sott so gscheit gführt were, dass mr s Brünnli plätschere hört.

Stefan Pflaum , 24.10.2002

  

 

Äpfel und Wörter

Meinen Großvater nannten wir "Apfel - Opa". Er war der Verfasser eines Standardwerks für Obst - und Gartenbau. Da findet man wunderschöne Namen für eine Vielzahl von Obstsorten: "Ingrid Marie", "Winter - Glockenapfel", "Zabergäu Renette" für Äpfel. "Bunte Juli", und "Gute Luise" für Birnen. "Coburger Mai", "Haumüller Mitteldicke", "Schneiders Späte" und "Ludwigs Frühe" sind Kirschen. Da läuft einem schon beim Aussprechen der Namen das Wasser im Mund zusammen. Oder kennen Sie die "Lützelsachser Zwetsche", die "Mirabelle von Nancy", den "Rekord von Alfter" Pfirsich und die Aprikose mit dem Namen "Ungarische Beste"? In einem Werk über den berühmten russischen Pflanzenzüchter Mitschurin traf ich noch auf die Namen "Sowjetapfel" (wie der heute wohl heißt?), die Pflaumensorte "Schöne aus dem Osten", die "Mongol - Aprikose" und "Mitschurins Winterbutterbirne". Wenn es schon kaum aufzuhalten ist, dass immer mehr Sorten verschwinden, sollte man wenigstens die Namen unter "Natuschutz" stellen, wie Insekten, Vögel, Bäume, Blumen und Früchte, denn auch diese Namen summen, singen, rauschen, blühen, duften und schmecken. Geben Zeugnis von gewachsener Kultur, und sei es auch "nur" eine "Apfel -, Birnen -, Kirschen -, Pfirsich - und Aprikosenkultur."

Auch Sprachen verschwinden. Mit ihnen regionale Dialekte und lokale Mundarten. Millionen Wörter, Ausdrucksweisen, Mitteilungsformen, Wort - und Satzmelodien und damit alles, was an Seele und Weltverstehen in ihnen aufbewahrt ist.

Nun rede ich nicht einer paradiesischen Sprachvergangenheit, die es nie gab, das Wort. Ich meine jene Menge an Wörtern und Ausdrücken, mit denen jeder einen ganz bestimmten Augenblick seiner Kindheit verbindet, Ängste, Hoffnungen, Tröstungen, das Aufblühen erster Liebesgefühle und das Erfahren erster Enttäuschungen. All das hat eine Stimme, einen Duft, eine Farbe, einen Ton, eine Melodie.

So hab ich bei Bruno Schäuble in "Wwäärerdütsch" gefunden: "Du machsch jò wiê d’Muus am Fade." Welch ein Unterschied zu: "Du übertreibst"! Oder: "Dèmm haa-n-y e Pfanne vòll aaghänkcht" für "ordentlich Bescheid geben". In der "Petite Anthologie de la Poesie Alsacienne" heiß es im Gedicht "Jungi Brüt" von André Weckmann: "sâ/ welli welli hawi gsàhn/ un welli welli éschs/ gewân/ zàll naacht én mine draim?" Sprache oder Musik? Nathan Katz schreibt in einem Gedicht: "Alli Lieder sin in dinere Seel./....Alli alti eifachi Wort sin in dinere Räd." Im Kleinen Pfälzischen Wörterbuch von Rudolf Post habe ich acht Realisationen von "nachher" entdeckt: "noocher, nooher, noodher, nood, nooder, noodert, noochert, noochdert." Im bayrischen Lexikon ist "Fleischbflànzl" die Übersetzung für "Frikadelle" und österreichisch "Halawachl" bedeutet "leichtsinniger Mensch". Beim Schweizer Werner Marti las ich: "...chönne schloofe heig (habe) er scho drei Wuche nümme."

Die Voralbergerin Inge Dapunt würde sagen: ""Was ma alls hört: da könnt ama z Höra und z Saha vergo." Und damit uns das Hören und Sehen nicht vergeht und auch nicht das Schmecken, müssen wir sie bewahren: die Vielfalt der Äpfel und der Wörter.

Stefan Pflaum, 21.11.2002

  

 

 

Vu wege Weltstadt!

Bin i doch in Münche, in de bayrische Hauptstadt mit Herz - als ob andri Hauptstädt kei Herz hätte oder Münche kei Kopf - bin i in ä großi Bank niischpaziert. Ä international bekannti Bank, wo, wie vieli Banke, au immer widder wege Kunschtusstellunge vun sich Rede macht. Ä ganz honorigi Bank -des soll s jo au no gäh - ä vornehmi Bank, wo de dich kuum niitrausch ohni Krawatt un Sunndigsgwand. Nit wegem Geld bin i nii. Geld hab i keins brucht. Also, i mein, keins abhebe bruche. Wenigschtens nit an dem Tag. Un Geld abhebe isch hitzedags jo so ne hundsgwöhnlige Akt, dass de für denne Zweck numme selte ins Gebäude vun ere Bank niigohsch. Des holsch um d nächscht Eck us em Automat, zahlsch mit Credit - Card oder machsch home - banking. "Geld" isch, nimmi lang, numme no de Namme für ä früheri Art vu Zahlungsmittel. Also hit gohsch in d Bank wege größere Transaktione. Oder für s Schulde mache. No bisch aber no längscht kei Schuldemacher, sundern Kreditnehmer. Des isch ä riese Unterschied. Au wenn i denne bis hit nit kapiert hab.

Also i bin im Zentrum vu Münche in die Bank niiglaatscht, wil mir des Gebäude mit sinne durchsichtige Glasfronte, galerieartige Zuegäng un Iigangshalle schu vun usse so mordsmäßig imponiert het, dass es mi magisch niizoge het, als könnt ich do in mim Alter no hinter ä Geheimnis kumme. Un git s ebbs Schöners, als in ä Bank niibummle, we mer gar nix brucht? Des miener au mol probiere: eifach uf d Bank goh un gar nix welle! Ä richtigs Wellnes – Erlebnis. Un alles koschtelos. Solang de in ere Bank nix unterschriebe hesch, kann dr gar nix passiere.

Us bludder Wunderfitzigkeit isch also de Wunderfitz do plötzli im ä endlos breite un lange Foyer gschtande un schier us de Laatsche kippt vor lutter Lichtspiel us Tausend poschtmodern gschtylte Lampe un Lämpli, Möbeldesign, elegant gschwungini Treppeuffgäng un überall Teppichböde, wo jeds Gräuschli gschluckt hen, dass de gmeint hesch, siehsch ä Videofilm ohni Ton. Un alli Aagschtellte dir so ufmerksam zuegneigt un friindlig, ohni, dass de ebbs gfroogt hättsch, dass de glii weisch, die sinn alli numme do für dir s Lebe schöner mache. Also, wenn s mir ä mol so richtig liedrig isch, fahr i nach Münche un hau mi eifach ä Stund in d Vorhalle vun dere Bank.

Aber i hab mi no nit naaghuckt gha, für alles mit em gebührende Reschpekt uf mi iiwirke z losse, isch minner Blick a me Hinweisschild hänge bliebe, wo druf gschtande isch: "Kundenberatung". "Kundenberatung"! Un des in de Weltstadt Münche! Des ditsche Wort "Kundenberatung". Vu wege Weltstadt, hab i denkt. Die solle mol zu uns uf Kirchzarte. Do hen mir nämlig mitte in de Sparkass kei "Kundenberatung", sundern ä "Service Point". Wie in New York, Los Angeles un Salt Lake City.

I hab fascht de Verdacht, die hen des de Kirchzartner abguckt!

Stefan Pflaum

  

 

 

 

Heimat. Heimet?

Gedanken zu einem missbrauchten, schwierigen, wichtigen Begriff.

Dialektliteratur ist Heimatliteratur. Sagt man. Nur, was ist Heimat, Heimet? Ist Heimat nur Erinnerung, nur ein "Woher" oder auch Zukunft, Ziel,? Wie lange dauert Heimat? Ist Heimat immer an einen bestimmten Ort gebunden oder gibt es auch grenzenlose Heimat? Heimat sind Gefühlgeschichten in der Kindheit und Jugend, tausendmal wiederholte Stimmen, Farben, Gerüche. Kann sich nach dieser Zeit keine Heimat mehr in uns entwickeln? Heimat ist Geborgenheit, Vertrauen, Verlässlichkeit. Heimat haben heißt aber auch: sich Neuem öffnen können. Heimat ist kein Museum. Heimat ist kein Ersatz für verpasste, verweigerte Lebensmöglichkeit. An der Heimat halten wir fest. Hält Heimat uns fest? Wir sagen, sie schafft einen Teil unserer Identität, was immer das ist. Heimat ist Zugehörigkeit. Ist sich wahrgenommen fühlen und angenommen. Heimat macht mich unverwechselbar. Nur bei mir sind ein fester Ort, eine begrenzte Zeit und bestimmte Personen so und nicht anders im Gedächtnis gespeichert. Familie, Landschaften, Rituale, Ereignisse, Sprache, Sprachen. Durch meine Heimat rette ich mich in einer zerfließenden Welt. Ist Heimat das intakte Leben? Das Behauste, das Haus, das Natürliche, die Natur, das Überschaubare, Bleibende? Ja, ist das so? In Heimat wird man hineingeboren. Wenn man Glück hat. Heimat muss man sich aber auch schaffen.. Sich schaffen dürfen. Niemand hat meine Heimat, durch meine Heimat bin ich der andere. Entferne dich von der Heimat, wenn du ihr nahe kommen willst. Heimat: das dir Nächste und Entfernteste. Heimat entsteht und vergeht zugleich.

Ach ja, Heimat! Sehnsucht nach Glück im Winkel. Sonntagsredenheimat. Mystifikation, Idylle, Schrebergarten, Teddybär, Sofakissen, Kulisse. Schwarzwaldmädel, Schwarzwaldklinik, Fallerhof. Aber auch Landsmannschaften, Vertriebenenverbände, Heimatvereine. Überall Sehnsucht nach Heimat, Heimatpflege. Kann man Heimat pflegen? Ostalgie, Datschenheimat, Nischenkultur, "Rotkäppchensekt". Europa ist Heimat. Die Währung, die Partei. Die Kirchengemeinde, die Bibel, der Koran, die Firma, der Sportclub, die Kawasaki, die Brieftaube. Lebensstil und Wohlstand – Kleider, Musik, Gastrokultur. Heimat als Konstruktion, individuelle Wahlmöglichkeit, Kaufangebot, Kaufentscheidung. Heimat als Collage aus dem globalen Waren - und Multi - Kulti - Angebot. Postkartenheimat, Heimat als Sehnsucht in die Ferne, Heimatkitsch, Heimatlüge. Heimat gegen Moderne, Staat, Kapitalismus, Technik. Heimat als Subkultur, Gegenkultur. Das Exotische als Heimat, das Archaische. Heimat als Karikatur. Wahlheimat. Die Flucht ins Private als Heimat. Stadtteilromantik. Heimat als Entfremdungsfurcht. Als Öko - Ethno - Toskana – Esoterikmischung, Folkloremix, Massenprodukt. Volkstümlichkeit als Heimatersatz. Heimat verkommen zu Gaudi und Spaß, nachdem sich Mobilität gegen Lokalität durchgesetzt hat. Quotenheimat im Privatsender. Gibt es Heimat im Internet?

Dem Flüchtling wurde Heimat zum Feindesland. Für wie viele ist Heimatlosigkeit die erste Heimat! Erste Heimat, zweite Heimat, Exilheimat. Recht auf Heimat? Zerstörte Bilder, zerstörte Heimat. Neid auf Heimat. Welche Heimat haben Millionen Flüchtlinge? Heimat ist auch dort, wo Menschen Rettung fanden, finden. Zwischenheimat. Überlebensheimat. Wenn man sie in Frieden lässt.

Im Französischen Wörterbuch gibt es den Ausdruck "la petite patrie", die kleine Heimat. Nicht einmal die gönnen einem manche. Wenigstens "die kleine Heimat" aber müsste man in die Menschenrechte aufnehmen. Denn wie soll es je Frieden geben, wenn nicht jeder zumindest seine "kleine Heimat" hat!

Heimat, Heimet? Ein missbrauchter, schwieriger, wichtiger Begriff.

Stefan Pflaum, 28.11.2002

  

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