Senioren-Trachtenkapelle St.Peter in der Kritzwirt-Schiere am 29.3.2006

Leopold Rombach
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Klug und wahrhaftig: Nachtaufnahme - biografische Spurensuche

50 Jahre hat er in diesem Haus gelebt und jetzt, nachdem auch die Mutter gestorben ist, hat er es entbeint: Öfen raus, Rohre, Muffen, alles. Dann die Türen. Dann die Fenster, 25 Stück. Jetzt ist es Nacht und er geht noch einmal — vor dem Abriss anderntags — hinein in das staubige Dunkel.

Eine Taschenlampe gibt ihm Licht und der Mond, der durch die Fensterlöcher scheint. In diesem Licht, in diesem Dunkel spürt Arnold, der Protagonist in Leopold Rombachs Roman "Nachtaufnahme" , seinem Leben nach. Das Haus: "ein einziger Fingerabdruck" seines Lebens. Die Sprache ist rauschalig und direkt. Etwas Alemannisches schwingt mit. Es geht unsentimental zu. Es ist Rechenschaft, eine Prüfung des Gewesenen, Standortbestimmung, auch eine Prüfung der Zukunftstauglichkeit. Arnold ist Kind einer "Schulratstochter" , die Chopin und Literatur liebt und eines "Pfannenflickers" , der keines von beidem liebt und zugleich der Dorffotograf ist. Rombach schildert den Vater anschaulich: "mit seinen schweren Händen, die so fein retuschieren konnten. Sie hatten auch grob sein können: zu Arnold, zur Mutter und manchmal auch zu anderen Kerlen im Dorf" . Sein Tod wird nur beiläufig vermerkt werden. Ganz anders bei der Mutter. Ihr Leben schildert Rombach als ein Ringen um Selbstbehauptung. Wie alles "von Verlust zu Verlust" und "dahin" ging: " ... das Biedermeier-Sofa, der Flügel ... ihre Freunde, die im Krieg blieben. Die Treue des Pfannenflickers, die auf der Strecke blieb" . Ganze Katastrophen beschwört Rombach mit wenigen Strichen herauf. In vier knappen Sätzen führt er die Angsterkrankung der Mutter ein. Um dann, wie beiläufig, dieses Geschehen zeitlich einzuordnen: "Es begann irgendwann nach Vaters Geschichte mit der Saarländerin." Ganze Abgründe: Mit wenigen Sätzen stellt Rombach den Leser an die Kante. Arnold wird zu einem Ankerpunkt für die Mutter und findet auf seine Weise ins Leben. Fotografie wird ihm wichtig und Literatur. Er studiert erfolgreich. Und bleibt dann doch in der Enge des Schwarzwaldhauses, um seine kranke Mutter zu pflegen, die keinen Moment allein sein kann. Die Reaktionen im Dorf sind geteilt. Die Älteren sagen: "Ich wünsch’ Dir jetzt recht viel Geduld, da liegt ein Segen darauf". Im Ringen um den eigenen Weg, der einem doch hoffentlich ein gutes Leben beschert, zeigt Rombach die ganze Ambivalenz des Lebens. Er schildert das an Arnold und an der Mutter, die sich in der Enge ihrer Lebensumstände und der Enttäuschungen immer etwas bewahrt hat von dem, was ihr keiner nehmen kann. Aber man spürt auch die Verzweiflung in diesem Festhalten. Lakonisch berichtet Rombach von derbem Pragmatismus, vom Arrangement mit der Endlichkeit: Als der Hauptstützbalken des Hauses im Keller angefault ist, sägt man den Sockel heraus, zwängt einen alten Grabstein in die Lücke. Arnold entdeckt die Freiheiten in der Begrenzung. Er weiß, dass nicht alles erkämpft sein muss. Vieles ist auch geschenkt. Etwa, "damals, spät in der Nacht" auf Mittelwelle, der Jazz, der ihn auf Anhieb überwältigt. Prägnant schildert Rombach biografische Wendepunkte. Etwa, als der halbwüchsige Arnold in der Dunkelkammer des Vaters zufällig pornografische Fotos entdeckt, zutiefst geschockt. Im Rückblick erkennt er: "Wenn du einmal zu viel gesehen hast ... dann hast du deine Kindheit verloren". Oder, als Arnold sich endlich traut, Peggy aus der Nachbarschaft zu fragen, ob er sie nackt fotografieren dürfe: "Sie sagte einfach ja. Ruhig und geradeheraus" . Was dann folgt, ist die wunderbare Schilderung der Entdeckung von Schönheit, von Eros. Man hält den Atem an und spürt den "Schmerz über die Unerreichbarkeit. Die alte Trauer über den Abstand, der immer bleibt." In seiner Wahrhaftigkeit entfaltet der Roman poetische Kraft und Geschlossenheit. Es liegt auch eine Schönheit darin, sich seinem Gewordensein so zu stellen: "... hast manchmal das Maul aufgemacht. Aber manchmal auch nicht" . Mit vielem versöhnt. Aber auch: "Elender Wicht, da hast du versagt. Hast der Mutter nicht geholfen..." In dem alten Haus hat dieser Arnold zu einem widerständigen, kontemplativen Leben gefunden. "Ständige Denkarbeit ist nötig hierfür" , schreibt er, es ist "wie Lichtstrahlen einfangen in dunklen Räumen" . Es ist Leopold Rombach, der hier Lichtstrahlen einfängt.
Thomas Lachenmaier, 23.11.2007, BZ

Leopold Rombach: Nachtaufnahme, Maienstein Verlag Kirchzarten, 94 Seiten, 13 Euro.

 

Gegenwort und Sinnentwurf - Literatur als Lebensgabe
 

Ein Essay von Leopold Rombach

Der Text ist die leicht überarbeitete Fassung des Beitrags, welchem beim 1999 anlässlich des Goethe-Jubiläums von der Baden-Württembergischen Landesregierung ausgeschriebenen Essay Wettbewerb mit dem Thema „Werden die Menschen durch die Literatur beeinflusst?“ der 1. Preis verliehen wurde.

Ich kann mich nicht erinnern. Doch was damals geschah, hatte größte Bedeutung für mein ganzes späteres Leben. Ein Psychologe sagte mir, dass ich dieses  Erleb­nis etwa im Alter von acht Monaten hatte. Es war nichts Dramatisches, nur ein un­scheinbares Ereignis, das nicht weiter bemerkt wurde, doch gab es mir den Anstoß, eine meiner kostbarsten Fähig­keiten zu entwickeln, nämlich die Fähigkeit zu sprechen. Eines Tages sah ich mich damals im Spiegel wiedergegeben, zusammen mit meiner Mutter. Plötzlich wurde ich stutzig. Ich entdeckte: Das Gesicht der Mutter ist ein anderes als meines. Ich habe ein eigenes. Es besteht ein Unterschied zwischen ihr und mir und überhaupt zwi­schen der Welt und mir. Wir sind getrennt. Welch ungeheure Kluft gibt es da. Und ich bin ganz für mich. Aber es gibt ein Zaubermittel, die Trennung wieder aufzuheben: das ist, wenn ich Zeichen gebe und spreche. Ich kann den Dingen Namen geben und dann behalten, was sie mir bedeuten. Ich habe auch selbst einen Namen und kann den Leuten sagen, wer ich bin. Durch dieses Namengeben lässt sich eine Verbindung herstellen zwischen mir und den Dingen und Menschen um mich herum. Ich und die Anderen werfen einander Bedeutungs­päckchen zu, und das geht immer so hin und her, die Bedeutungen werden reflektiert, wie der Lichtstrahl der Taschenlampe, mit der ich so gern spiele.
Inzwischen ist mir das Reflektieren, d.h. das begriffliche Wechselspiel zwischen Ich und  Du, zwischen Innen und Außen ganz selbstverständlich geworden. Im Denken übe ich ständig ein Spiel mit Bildern und Begriffen. Wo ich diese äußere, z. B. indem ich sie ausspreche oder niederschreibe, stehen sie im Raum, wie man sagt. All die Ausdrücke und Sätze meines eige­nen Denkens sind mir dann selbst wieder ein Gegenüber, tatsächlich eine Entgegensetzung. Genauso wie die Äußerungen anderer Menschen. Damit können wir etwas anfangen. Bei jedem Gespräch und jeder Lektüre, gleich ob in Beruf, Freizeit oder Privatleben, erfahre ich durch Entgegnungen, was mit mir und der Welt los ist. Sprachlich findet die Welt zu mir und finde ich mich in ihr. Leben heißt: einander vorsagen und erwidern. Das Leben vollzieht sich erzählend. Hoffentlich bekomme ich nie  einen Schlaganfall oder Alzheimer, denn die würden mich stumm machen und mir die Verbindung zur Welt abschneiden. Erst die Sprache macht das Leben menschlich, für den Geist ist sie eine Vitalfunktion, wie das Atmen für den Körper.

Wenn wir unser Gesprochenes und Gedachtes aufschreiben und ein ganz klein wenig darauf achten, dass es Hand und Fuß hat, dann ist das schon Literatur. Auf  Deutsch: Schrifttum. Wir können eine ganze Menge Geschriebenes zur Literatur zählen. Nicht nur Romane, Krimis, Gedichte und Reiseerzählungen sind Literatur, auch Tagebücher, Schulaufsätze, Werbetexte, Reportagen, Gebete und Parlamentsreden sind Formen von Literatur. In all diesen ist ein Stück Leben enthalten, wir können sagen: Es ist darin aufgehoben. Das Wort „aufheben“ ist ein wunderschönes Wort, das die Philosophen gerne gebrauchen, weil es so vieles erklärt. Bezogen auf Literatur bedeutet es dreierlei:

  1. Löschen. Das Leben wird in der Literatur gelöscht, weil vom bewegten Handeln in starre Lettern übersetzt.
  2. Aufbewahren. Das Leben wird in der Literatur bewahrt und erhalten und kann von  späteren Zeiten nachvollzogen werden.
  3. Erhöhen. Das Leben erfährt literarisch eine geistige Reflexion und Allgemeingültigkeit.

Ich will mit einem Beispiel versuchen, all das bisher Gesagte in einem einzigen, dichten literarischen Satz aufzuheben:



Literatur vertritt das Leben

Mit zehn Jahren las ich gebannt die Geschichte von der Abenteuerfahrt des kleinen Jungen Schmiedledick, die ihren Ausgang nahm am Mummelsee. Wenig später las ich die Abenteuer­geschichten um den Schatz im Silbersee. Zu dieser Zeit las uns die Lehrerin vom Sturm auf dem See Genezareth, sang Conny Froboes vom Wannsee, erzählte meine Oma vom tief im Berg liegenden und von Hexen bewachten Kandelsee, schrieb Czimek vom Tanganjikasee und stand in der Illustrierten, dass auf dem großen Salzsee von Utah ein paar Verrückte mit Raketenautos herumrasen. All die Geschichten dieser Seen kamen durch Literatur zu mir. Mummelsee und Silbersee,- wie das schon klingt. Ich war noch an keinem dieser Seen, aber alle bedeuten mir etwas, erzählen eine Geschichte, stehen für etwas. Durch Lesen und Erzählen bekamen diese Orte einen Platz auf der kulturellen Landkarte in meinem Kopf. Auf dieser Landkarte stehen  Orte und Dinge, die tatsächlich existieren, wie auch solche, die erfunden, eingebildet und erträumt sind. Jeder Mensch hat solch eine kulturelle Landkarte, einen Bestand von inneren Bildern und Leseerfahrungen. Und die meisten Orte der Welt stehen überhaupt auf jemandes ange­lesener geistiger Landkarte. So unterschiedlich diese Landkarten auch sein mögen, auf jeder kommt, als Teil fürs Ganze, die Fülle der Geschichten und Bilder vom Leben zusammen. Dabei hat jeder Mensch Anteil am Schreiben und Lesen. Das gilt sogar für Analphabeten, denn vieles Gesagte bezieht sich auf Geschriebenes. Alle Schreibe aber, auch die alltäg­lichste, hat Bezug zur Literatur. Beispiel: Viele geflügelte Worte unserer Umgangssprache stammen aus der Literatur, aus Texten der Bibel, von, Schiller, Shakespeare oder Wilhelm Busch.
Die Kommunikationswissenschaftler sagen, man könne Kommunikation gar nicht vermeiden und nicht ohne sie leben. Genauso können wir hier feststellen: Keiner lebt ohne Geschichten.


Literatur ist ein spannendes Denkabenteuer

Beim Lesen und beim Schreiben. Schreiben bedeutet: Klärung, Abtrennung von Unwichtigem. Wer schreibt, muss wissen, was er nicht will. Beginne ich z.B. ein Gedicht, klingt es anfangs meist etwas erborgt, entweder nach Wilhelm Busch, Heinrich Heine oder Bert Brecht, je nach Neigung. Mein gut gemeintes Werk wirkt angelesen und erschlichen. In fremden Schuhen tappt mein Denkfigürchen auf ausgetretenen Pfaden daher und es redet in Phrasen. Es hat nichts Eigenes. Es ist nicht meines. Meines wäre es erst, wenn es etwas Eigenes hätte: eine wichtige Einsicht. Um die zu finden, tilge ich alles, was gefällig und wohlfeil ist und schön tut mit schon mal Gesagtem. Und dann? Ist nicht mehr viel übrig vom anfangs Gemeinten. Es wird nichts. Ich bin ratlos, will aufgeben. Doch jetzt wird es erst richtig spannend. An dem Punkt, wo ich selbst am Ende bin und nichts mehr zu sagen weiß, lasse ich die Sprache sprechen: Ich höre auf die heimlichen Klänge der Bedeutungsweisen, suche Richtungen, in welche die Sinnbausteinchen rollen möchten, spüre Verknüpfungen von Zeichenspuren nach. Ich sehe zu, welchen Weg ein begonnener Satz nehmen will. Ich versuche, nicht mehr nur mich selber zu hören und auszudrücken. Ich will die Sprache selbst zu Gehör bringen. Da kann plötzlich etwas Unerwartetes geschehen: Überraschende Dinge tun sich auf. Ich finde Begriffe und Klänge, die mir neu sind, entdecke Gedanken und Inhalte, die ich mir soeben noch nicht zugetraut hätte. Es fällt mir etwas zu vom Reichtum der Sinnmöglichkeiten, die in der Sprache schlummern. Die Sprache fängt an, mich zu beschenken. Sie ist eine Schatzkiste. Die Sprache ist außer mir, über mir. Sie war vor mir da. Sie hat, was mir fehlt: Sie ist mir buchstäblich voraus. Darauf darf ich als Autor vertrauen. Die Sprache ermuntert mich dazu, etwas zum ersten Mal zu sagen. In ihr kann ich einen Gedanken entwerfen, der mir voraus ist und den ich erst selber noch einholen muss. Ich bekomme Vorstellungen von der Welt wie sie nicht ist, aber doch sein könnte. Und je mehr ich versuche, der Sprache zu dienen, z.B. durch einen guten Stil und treffende Wortwahl, desto mehr beschenkt sie mich und desto mehr ist mir selber durch sie gedient. Die Sprache ermutigt mich, Neuland zu betreten und über das hinaus zu denken, was momentan ist. Deshalb: Literatur ist erfinderisch.

„Schreibend antworten wir auf einen Mangel. Uns fällt ein, was uns fehlt. (…) Sprache ist nie bloß Mittel, sie ist immer auch Zweck. Und meistens der Zweck überhaupt. Wenn sie sich selbst entspricht, entspricht sie uns am meisten.“ (Martin Walser)

„…ich denke, dass es von jeher zu den Hoffnungen des Gedichts gehört, (…) in eines Anderen Sache zu sprechen. (…) Das Gedicht hält unentwegt auf ein ‚Anderes’ zu, das es sich als erreichbar, als freizusetzen, als vakant vielleicht, (…) zugewandt denkt.“ (Paul Celan)

Literatur bringt auf andere Gedanken

Sie ist den Menschen ein Gegenüber. Die Begegnung damit fordert das Denken heraus. Autor und Leser lassen sich auf sie ein und haben an ihr ein gemeinsames, buchstäblich bewegendes Abenteuer. Das zu bestehen benötigt Zeit. Lesen und Schreiben sind langsame Kulturtechniken. Einen Roman zu lesen dauert gern Tage, ihn zu schreiben oft Jahre, seine Interpretation kann Generationen beschäftigen. Das Abenteuer Literatur geht verschlungene Wege: Das Buch beeinflusst den Leser nicht nach der Ursache-Wirkung-Formel der Physik, sein Wert ist nicht einzuschätzen nach dem Input-Output-Schema der Ökonomie. Vom literarischen Schreiben werden nur wenige reich, beim Lesen wird nichts erwirtschaftet. Doch ist das Buch eine  geistige Resource, ein  gedanklich hoch angereichertes Produkt mit besonderer Bewegkraft und langer Nachwirkung. Literatur schafft Überfluss. Um an diesem teilzuhaben, braucht es einen freien Kopf.

Lesen ist wie Schatzsuche, Lüften eines Geheimnisses, Lösen des Rätsels. Was der Autor verdichtet und verwandelt aufs Papier bannte, wird vom Leser wieder entfaltet, aufgelöst und freigesetzt. Dabei sind immer mehrere Lesarten möglich, denn gute Literatur zeichnet sich durch einen besonderen Bedeutungsreichtum aus. Dennoch ist sie nicht unklar oder wirr. Lesen erzeugt ein Gedankenspiel von Worten, Bildern, Träumen und Ideen. Dieses Spiel gehorcht nur seinen eigenen Gesetzen und ist an keine äußeren Weisungen gebunden, es ist frei. Frei von politischer Opportunität, frei von wirtschaftlichem Kalkül, frei von pädago­gischer Ermahnung. Nichts Außerliterarisches hat hier etwas dreinzureden. Diese Freiheit hat sogar ein Grundrecht. In diesem Freiraum der Imagination kann der Leser spielerisch sein Selbstbild befragen: Was bin ich? Was wäre ich gern? Wozu hätte ich das Zeug? Solche Vor-Überlegungen betreffen die Unruhe des Daseins, sich zu verändern. Sie wecken die Lebens­lust. Leben begriffen als Bewegung, als Fortschreiten von einer Daseinsstufe zur Nächsten: vom Halbstarken zum Kraftvollen, vom Hektiker zum Gelassenen, vom Ich zum Du. Literatur vertritt diese Lebendigkeit in mehrfacher Hinsicht: Der Text steht stellvertretend für das Handeln; Literatur übt die Freiheit des Denkens; Literatur ist eine Fürsprecherin, dem Leben das Wort zu reden. Das Schrifttum und das Geschriebene sind dem Menschen ein Gegenüber, eine Entgegensetzung, ein Anderes. Nach Hegel ist Leben und Lieben: Im Anderen zu sich selber kommen.

Literatur ist bewegend 

In den Südstaaten der USA war in den 20er Jahren für Farbige vieles verboten, so auch die Benutzung von Parkbänken und öffentlichen Bibliotheken. Der farbige Autor Richard Wright (1908 - 1960) beschreibt in seiner Autobiografie „Black Boy - Bericht einer Kindheit und Jugend“ (München 1988) wie er aufwuchs in einem Milieu von Dreck, Armut und Ignoranz. Mühsam und gegen viele Widerstände brachte der Junge sich das Lesen bei. Mit gefälschten Bestellzetteln, so, als sei er von anderen Leihkunden geschickt worden, holte er sich in der Leihbibliothek, was ihm in die Finger kam. „Lesen wurde mir zur Leidenschaft. (…) Das Lesen riss mich auf und begeisterte mich, es brachte mir aber auch die niederschmetternde Erfahrung, dass ich nun sah, was möglich war und was alles ich versäumt hatte. (…) Erst meine wahllose Lektüre hatte mir eine Ahnung von den dem Leben innewohnenden Möglichkeiten vermittelt.“ Wright verließ seine Heimatstadt Richtung Norden und schaffte es, sich als Werkstudent zu einer selbst bestimmten Existenz heranzubilden. Später wurde er, wie James Baldwin, zu einem jener wichtigen farbigen Autoren, deren Arbeiten in den 50er und 60er Jahren maßgeblich den Ruf nach politischer Partizipation mit prägten, was unter dem Schlagwort „Black Consciousness“ auch bei uns bekannt wurde.

In ihrem Buch „Weiter leben - eine Jugend“ (München 1995) beschreibt Ruth Klüger, wie sie als zwölfjähriges Mädchen im KZ Auschwitz-Birkenau das stundenlange Appellstehen unter Hitze und Durst nur durchhielt, indem sie Schillersche Balladen memorierte.

Literatur verwandelt. Beim Aufschreiben werden Erlebnisse, Gefühle und Handlungen mit Zeichen versehen. Sie werden in Texte  übersetzt. Der Text selbst ist aber nicht mehr das Ereignis, er ist dem Handeln enthoben und bloß noch ein Gefüge von Buchstaben und Wör­tern. Das Erlebte und Mitzuteilende wird nun von Buchstaben vertreten: im Grunde ein ungeheuerlicher Vorgang, ein Verlust, ein Absturz. Anders gesagt: auch eine Übertragung in ein andere Dimension. Beim Schreiben denken wir über Regeln und Verfahren nach, mit welchen wir diese Übertragung anstellen. Wie geht das, gut zu schreiben? „Nur immer spontan aus dem Bauch heraus, frei von der Leber weg und ohne viel Herumgrübeln“, lautet hier der gut gemeinte Rat der Freunde, denn nur so werde es echt, wahr und lebendig. Ach, wenn es doch so wäre! Der Bauch aber ist ein Analphabet, es fehlen ihm die Worte. Nein, es bleibt uns nur, die Begrifflichkeit des Hirns für diese Arbeit zu gebrauchen, denn die urwüch­sige Unschuld des unmittelbaren Zeichengebens ist dahin, seit wir vom Baum der Erkenntnis naschten. Vertrieben sind wir aus dem Paradies des wortlosen Verstehens und irren nun durch die „Eiswüste der Abstraktion“ wie ein Philosoph sagte. Da müssen wir durch. Für’s Schreiben heißt das: allein die Spielregeln der Sprache sind unsere Mittel. Wir haben nichts anderes. Das ein­ mal begonnene Sprachspiel müssen wir zu Ende führen, ohne Angst und falsche Rücksichten. Wir müssen unsere Gedanken weiter verwandeln, wie die Sprache es von uns verlangt. Weiter verwandeln, weiter verwandeln. Der Dichter Ezra Pound verwandelte einmal ein eigenes Gedicht von 36 Strophen so lange weiter, bis daraus ein zweizeiliges Haiku wurde. Bei dieser Arbeit helfen auch keine Krücken, es nutzt nichts, wenn man sich beim Schreiben betrinkt oder bekifft. Brecht sagte, um einen Sardanapal zu schreiben sei es nicht von Vorteil, zwischen assyrischen Gobelins zu sitzen, sondern vor einem Blatt Papier. Wohl war. Auf dem Papier ist das Leben aufgehoben. Der Text ist dem Leben ein Anderes. Wenn wir auf die Macht des Wortes und die Beweg­kraft des Geschriebenen als einem Anderen vertrauen, können wir sagen: wenn ein Text dem Leben strikt als ein Anderes entgegensteht, bewegt er etwas. In dem Geschriebenen scheint  plötzlich eine andere Welt vor uns auf. Schreibend (und lesend) haben wir diese aus unserem tatsächlichen Leben hervorgerufen. Sie erweist sich als das Gegenteil der gegenwärtigen Welt. Sie widerspricht dem Gewohnten. Das kann befremden und verstören. Das frei Erfundene der Literatur hält der Wirklichkeit einen Spiegel vor. Darin kann sich zeigen, dass diese Wirklichkeit selbst manchmal unwahr und verlogen ist. Weil die Literatur sich die Freiheit nimmt, das Leben in ein ganz eigenartiges Licht zu stellen, kann sie uns zeigen, dass im Leben manches falsch läuft, dass wir uns selbst belügen und unerlöst sind. Die Erfindung, d.h. Lüge, der Literatur stößt uns auf Wahrheiten. Scheinhaft lässt sie uns ahnen und vor uns erscheinen, was uns fehlt. Was für ein Geschenk! Was für ein Gewinn! Wir fühlen uns angeregt, setzen uns in Bewegung: aus uns heraus.

Literatur enthüllt durch Verkleidung

„Zusammenstoß zweier Welten, deren jede ihre eigene Wahrheit hat. Die Fiktion schafft ihre eigene Realität: eine Welt von Bedeutungen, die gültig bleibt, auch wo sie von der beste­henden Realität Lügen gestraft wird.“    (Herbert Marcuse)

„Je wirklichkeitsfremder ein Text ist, desto weiter kann er gehen; desto mehr kann er unserem Bedürfnis entsprechen; desto mehr kann er ausdrücken, was uns fehlt.“ (Martin Walser)

„Vielmehr bin ich der Meinung: je inkommensurabler und für den Verstand unfasslicher eine poetische Produktion, desto besser.“ (Goethe zu Eckermann)

„Gut,- aber was beweist das?“ Dies rief, nach einer Notiz Brechts, ein Mathematiker aus, nachdem er Goethes „Iphigenie“ gesehen hatte. Der Ausspruch beweist, dass man nicht die falschen Fragen stellen soll. Literatur ist kein Ding von Kausalitäten; auch keine erzieherisch - menschheitsveredelnde Wunderlampe. Ihr Einfluss wird aber doch erhellt durch Begebenheiten wie die folgende: Im November 1957 warteten in der abgedunkelten North Dining Hall des berüchtigten Zuchthauses von San Quentin vierzehnhundert Knastinsassen auf den Beginn eines dort angesagten Theaterstückes. Johlend und feixend rief die Menge nach dem Beginn der Schau. Als der Vorhang sich hob, blieb die erhoffte Gaudi aus. Sekunden der Verstörung traten ein. Einige wollten gleich wieder gehen, zögerten aber und blieben. Gebannt und erschüttert folgten alle der Aufführung. Bis zum Schluss. Ergriffene Äußerungen nach dem Stück und bewegte Nachgedanken in der Gefängniszeitung. Sie zeigten, dass die Knastbrüder ein Theater zutiefst begriffen hatten, welchem die avancierte Kritik in London und Paris teil­weise verständnislos gegenüber stand: Samuel Becketts „Warten auf Godot“. Becketts Stücke sind nicht bildend und nicht unterhaltend, sie zeigen keine vernünftige Handlung und keine leitbildhaften Charaktere. Sie sind Antistücke, gehen den Weg des Verstummens. Was sich auf diesem dunklen Weg auftut, sind Gegenworte. Deren Inhalt redet der Welt nicht nach dem Mund, sondern hält ihr mit verfremdeter Stimme entgegen. Ihre Dramaturgie folgt keiner anderen Logik, Leitlinie oder Weisung als der dunklen Eigenlogik und Eigengesetzlichkeit, welche sie sich selbst setzt. Eine radikale Kunstform also, welche sich zum Bestehenden strikt negativ verhält. Keine „schöne“ Kunst. Kein gesellschafts­verbessernder Anspruch. Die gelehrte Rede vom Unterschied zwischen Gesellschaftskritik und l’art pour l’art greift hier nicht. Doch woher kommt das Bewegte und Ergriffene angesichts dieser nicht bestätigenden Literatur? Durch ihr Negatives. Durch die Konsequenz ihrer Entgegnung, welche die bestehenden Maßstäbe verlässt und nur den eigenen folgt. Durch ihr Gegenwort. Es ist das Gegenstück, welches auf Bewegung des Lebens drängt. Es ist die Antithese, die Entgegen­setzung, welche deutlich macht, dass ein Missverhältnis liegt zwischen dem, was unsere Bestimmung sei, und dem, was wir bislang daraus machten. Da muss etwas geschehn.
Das Gegenwort tut sich dann auf, wenn die radikale Verwandlung der Sprache gelingt, wenn der Autor ihr dient und nur ihr. Wird es zum ersten Mal laut, wirkt es verstörend, weckt Abwehr. Doch hat das triftige Gegenwort noch immer  Gehör gefunden, Wirkung gezeigt. Seine Geschichte geht meist vom Skandal zur Versöhnung. Das Gegenwort ist eine Errungen­schaft der Sprache. Es bewegt die Gemüter. Seine Kraft entfaltet es umso mehr, als es Wort ist und sonst nichts; umso mehr, als es frei bleibt und niemandem sich andient. Daher Walsers Wort, die Sprache entspreche dann uns am meisten, wenn sie sich selbst entspricht. Daher Walter Benjamins Satz, dass die Dichtung politisch nur stimmen kann, wenn sie literarisch stimmt. Daher verständlich H.C. Buchs Ausruf in Kursbuch 20: „Was wäre die Studenten­revolte der westlichen Welt ohne Kafka und Beckett?“ Oder Marcuses Feststellung, nur im ästhetischen Bereich einer literarischen Form liege ihr politisches Vermögen, deshalb in der Poesie von Baudelaire und Rimbaud vielleicht mehr Bewegkraft als in den Lehrstücken von Brecht. Nicht alle Literatur ist so radikal wie die von Kafka und Beckett. Doch alle literarischen Gestalten, von Hotzenplotz bis Sherlock Holmes, auch Romeo und Julia, der Michel von Lönneberga und Michael Kohlhaas, Pumuckel und Parzival, der zwergwüchsige Blech­trommler von Danzig und der bucklige Glöckner von Notre Dame, Madame Bovary und Mrs. Dalloway, Effie Briest und Winnetou,- sie sind hochgradig verwandelte Kunstfiguren. Sie stellen er-fundene Einzelgesichter der menschlichen Erlebensmöglichkeiten dar, in welchen der Leser sich selbst findet zwischen dem, was mit ihm ist und dem, was mit ihm sein könnte.   Gottfried Benn sagt über die Dichtung: „…sie verändert. Sie hat keine geschichtlichen Ansatzkräfte, wenn sie reine Kunst ist, keine therapeutischen und pädagogischen Ansatz­kräfte, sie wirkt anders: Sie hebt die Zeit und die Geschichte auf, ihre Wirkung geht auf die Gene, die Erbmasse, die Substanz - ein langer, innerer Weg. (…) Sie bringt ins Strömen, wo es verhärtet und stumpf und müde war, in ein Strömen, das verwirrt und nicht zu verstehen ist, das aber an Wüste gewordene Ufer Keime streut, Keime des Glücks und Keime der Trauer,…“   Keime streuen an die vertrockneten Ufer, Neuland betreten und herausführen aus der trüben Ursuppe der Ahnungslosigkeit, geleitet nur vom voraus gesprochenen Rätselwort: Das ist die Lebensgabe der Literatur.                   

LITERATUR 
BECKETT, SAMUEL   „Warten auf Godot“   Frankfurt 1971
BENJAMIN, WALTER   zitiert nach Marcuse  a.a.O.
BENN, GOTTFRIED   „Soll die Dichtung das Leben bessern?“ Radiovortrag. In: Gesammelte Werke, Band 1  Wiesbaden 1959   S. 593
BRECHT, BERTOLD   „Lyrik und Logik“  In: Gesammelte Werke  Band 19  Frankfurt 1967  S. 385
„Notizen über schriftstellerische Technik“  In: Gesammelte Werke, Band 18   Frankfurt  1967  S. 81
BUCH, H. CHR.  „Von der möglichen Funktion der Literatur“  In: Kursbuch 20  Frankfurt 1970  S. 49
CELAN, PAUL   „Der Meridian“  Rede zur Verleihung des Büchner-Preises. In: Ausgewählte, Gedichte  Frankfurt  1975    S. 143
ESSLIN, MARTIN  „Das Theater des Absurden“ (Über die Beckett-Aufführung in St. Quentin), Hamburg  1965   S. 10
GOETHE, J.W.   Zitiert nach Udo Müller  “Zugang zur Literatur  Freiburg 1978  S. 13
HEGEL, G.W.F.  „Wissenschaft der Logik“  Werke Bd. 5   Frankfurt  1990  S. 111
MARCUSE, HERBERT  „Die Permanenz der Kunst“  In: Schriften Bd. 9 Frankfurt  1987  S. 197
WALSER, MARTIN  „Sprache, sonst nichts“  In:  DIE ZEIT  Nr. 40   1999   S. 44

Leopold Rombach, 9.10.2007

 

 

Ich will die Menschen nicht zum Gegenstand machen

Der Schriftsteller Leopold Rombach war für drei Monate der erste Dorfschreiber Eisenbachs — und Deutschlands

Schollach ist, was man idyllisch nennt. Stolze Bauernhöfe in saftgrünen Wiesen, von Wald umsäumt. Schollach ist ein Ortsteil von Eisenbach, dem Schwarzwälder Feinmechanikdorf, in dem die Weltfirma IMS ihren Sitz hat. Schollach hat 250 Einwohner, kein Geschäft und auch keine richtige Kneipe. Der letzte Bus nach Eisenbach fährt um 15.45 Uhr, am Wochenende gar nicht. “Wer in Schollach kein Auto hat, ist nur ein halber Mensch” , sagen die Schollacher. Leopold Rombach hat kein Auto. Dass er trotzdem kein halber Mensch ist, ist dem Umstand zu verdanken, dass er nur vorübergehend in Schollach gelebt hat: Als erster Dorfschreiber Eisenbachs - und Deutschlands - war der Schriftsteller drei Monate Gast des Landwirts Klaus Schuler, dessen Spezialität das Bauen von Hochsitzen ist. Rombach stammt fast aus der Nachbarschaft. Unter den 13 Bewerbern um dieses ungewöhnliche Stipendium, das der Förderkreis Kreatives Eisenbach auch künftig vergeben will, fiel die Wahl auf den promovierten Pädagogen und früheren Lehrer, der 1950 in St. Peter geboren wurde und seitdem in dem Dorf mit der schönsten Barockkirche des Schwarzwalds lebt. Alle nennen ihn hier “Poldi” .

Trotzdem war Schollach eine Herausforderung — nicht aus menschlichen, sondern aus logistischen Gründen. Mit den Dörflern fand sich Rombach (“Ich spreche die Sprache der Menschen hier” ) rasch auf vertrautem Fuß. Er stieß auf ein großes Bedürfnis, die eigene Geschichte zu erzählen — auch und ausdrücklich in seiner Schreibwerkstatt, an der immerhin fünf Frauen teilnahmen. Leopold Rombach, der eben im kleinen Kirchzartener Maienstein Verlag seinen ersten — autobiografischen — Roman über eine Kindheit und Jugend im Schwarzwald (“Nachtaufnahme” ) veröffentlicht hat (der vor drei Jahren begonnene Text wurde in Schollach abgeschlossen), sucht die Begegnung auf Augenhöhe. Schreiben, versichert der nachdenkliche, für die niedere Decke seiner Behausung fast zu groß gewachsene Mann, der mit seinem schönen Bewerbungs-Essay “Heimat und Hightech” bereits im weitesten Sinn einen Beitrag zur Eisenbacher Geschichte geleistet hat, werde er nicht über seinen Aufenthalt: “Ich will die Menschen nicht zum Gegenstand machen.”

Lieber mit ihnen arbeiten: In einem Fotokurs zum Beispiel — der Autor ist in seinem ersten Beruf Fotograf — oder in einer Ferienveranstaltung mit Kindern, die für den Sommer noch geplant ist. Ansonsten hat sich der Gewinner eines Essay-Wettbewerbs des Landes Baden-Württemberg von der in diesem Frühjahr lange noch winterlich kargen Landschaft und den Spuren ihrer technischen Bearbeitung inspirieren lassen. Es entstanden fast minimalistische Schwarzweißfotos, die in Kombination mit sparsamsten Texten nach dem Vorbild japanischer Haikus die Atmosphäre von Stille und Einsamkeit, die der Dorfschreiber in seinem Domizil erfuhr, kongenial einfangen. Auf der anderen, der reflexiven Seite, arbeitet der Autor an einem weiteren Beitrag zu einem Genre, das ihm ganz besonders zu liegen scheint: einem Essay über die Kulturgeschichte des Zahnrads — ein Thema, auf das er ohne sein Dorfschreiberstipendium wohl kaum gekommen wäre und das unausweichlich in das Spannungsverhältnis zwischen Mensch und Maschine mündet: “Der Maschinenmensch von Lukrez über Leibniz bis zu Charlie Chaplin und Arnold Schwarzenegger” , so der Arbeitsuntertitel. Ein weites Feld — die Eisenbacher, denen es der Autor in einem späteren Vortrag noch nahe bringen will, dürfen gespannt sein. Heute Abend verabschiedet sich Rombach erst einmal offiziell von seinen Gastgebern.

Bettina Schulte am 16.6.2006 auf www.badische-zeitung.de

© Freiburg-Schwarzwald.de/leopoldrombach, Update: 25.11.07