Zeitenwende nach Zeitenwende

Der Fall der Mauer und der Zusammenbruch der Sowjetunion 1989/90 markieren eine Zeitenwende. Diese hat zwar zur Wiedervereinigung geführt, leider aber weder zu einer Verfassung in Deutschland geführt, die das provisorische Grundgesetz ablöst, noch zu einer multipolaren Friedensordnung weltweit.
Olaf Scholz hat nach dem 24.2.2022 von einer erneuten Zeitenwende gesprochen – also der Zeitenwende nach der Zeitenwende. Nun zeigt sich, daß dieser Begriff lediglich hohles Wording bzw. Framing ist, denn Scholz meint damit nichts anderes als „die Rückkehr zum alten Elend der Blockkonfrontation und ihrer Logik der wechselseitigen gegenseitigen Bedrohung“ (so die Grüne Antje Vollmer siehe (1) unten). Kalter Krieg 2.0, aber diesmal mit Sanktionen.
Damit wird eine abrupte Abkehr von der Nachkriegspolitik und insbesondere von der auf Entspannung ausgelegten Diplomatie ab Willy Brandt vollzogen. Wozu? Um den geopolitischen Interessen der USA zu dienen, nicht den eigenen. So einfach geht Ampel-Politik.
15.7.2022
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(1) Zweifel an der Sanktionspolitik gegen Russland: Wo sind die Realos geblieben?
Von Antje Vollmer (Die Grünen)
Konzerne verlassen Russland und China. Die Verluste sind unschätzbar und haben mindestens zehn Jahre Chaos und Wirtschaftskrisen zur Folge. Warum tut der Westen sich das an?
Vielleicht bin ich ja die Einzige, die allmählich beginnt, den immer gleichen Beteuerungen von der neuen Geschlossenheit und der nie da gewesenen Stärke des Westens nicht mehr zu glauben. Während sich die Gipfeltreffen von EU, G7, Nato, G20 regelrecht jagen und immer neue Posterbilder von schulterklopfenden, von ihrer Mission beflügelten Staatsmännern und -frauen täglich über alle Kanäle flimmern, kommt mir das Ganze allmählich so vor wie das Pfeifen im Walde.
Ich höre: Wir leben in einer „Zeitenwende“, die dieses Vorgehen alternativlos macht. Das sogenannte Neue an dieser Wende ist aber dem Begriff nach zu schillernd, als dass es einen eindeutigen Sinn ergeben würde. Es lohnt sich also, darüber nachzudenken. Zum Vergleich: 1990 gab es eine echte Zeitenwende, weil die bis dahin geltende Ordnung der Welt, die Teilung in zwei Blocksysteme, die sich mit gegenseitiger atomarer Bedrohung in Machtbalance hielten, auf erstaunlich gewaltfreie Weise aufgelöst wurde.

Heute wird behauptet, seitdem gäbe es eine neue „regelbasierte Ordnung der Welt“, die nur der Diktator im Kreml mit seinem ohne Zweifel völkerrechtswidrigen Angriffskrieg zerstört habe. Weswegen eben alle aufrechten Demokratien der Welt nun fest zusammenhalten müssten, um diese Ordnung zu verteidigen gegen die am Horizont drohenden neuen Autokratien. So erheben sich aus der blutigen Tragödie eines Krieges die neue Daseinsberechtigung der Nato und der neue Führungsanspruch des Westens wie Phönix aus der Asche – sie erscheinen als die Essenz dieser Wende-Legende.

„Welchen Platz bietet das Nach-Kalte-Kriegs-Europa den Russen?“
Drei Gründe sprechen gegen diese These.
Erstens ist der russische durch nichts zu rechtfertigende Angriffskrieg gegen die Ukraine nicht der erste Krieg, der nach 1990 gegen die Regeln des Völkerrechts geführt wurde (Kosovo, Irak). Das macht die Sache keineswegs besser, aber sollte doch etwas die Rhetorik des Epochenbruchs bremsen.
Zweitens ist es gerade das größte Versäumnis der Jahre nach 1990, dass keine neue europäische Sicherheitsordnung formuliert wurde, die sowohl den neuen postsowjetischen Demokratien als auch dem damals noch demokratischen Russland einen angemessenen Platz in einem gesamteuropäischen Sicherheitssystem vermittelt hätte. Es gab nie eine Antwort auf die durchaus berechtigten Fragen von Gorbatschow, Jelzin, Putin und Medewew: „Welchen Platz bietet das Nach-Kalte-Kriegs-Europa eigentlich den Russen in dieser Nachkriegswelt an?“
Europa hat nach 1990 keine haltbare Form gefunden, die den Namen Friedensordnung verdient hätte. Der SPD-Fraktionsvorsitzende Ralf Mützenich hat deswegen zu Recht festgestellt: „Wir werden es einmal vor unseren Kindern zu verantworten haben, dass wir ihnen keine bessere Welt hinterlassen haben.“

Die große Auseinandersetzung mit China
Zum Dritten: Gerade weil die echte Zeitenwende von 1990 keine haltbare Friedensordnung hervorgebracht hat, markiert das Postulat einer heutigen Zeitenwende wohl eher die Rückkehr zum alten Elend der Blockkonfrontation und ihrer Logik der wechselseitigen gegenseitigen Bedrohung.
Da sich aber nichts im Leben einfach nur wiederholt, erscheint diese neue mentale Aufrüstung noch gefährlicher – geht es doch diesmal nicht nur um die „größte Bedrohung der Nato durch Russland“ (Generalsekretär Stoltenberg), sondern um die ganz große zukünftige Auseinandersetzung mit China.
Die wundersame Auferstehung der Daseinsberechtigung der Nato als Sinn und Zweck der Zeitenwende ist also Teil einer Strategie, die erneut die Welt mit dem schärfsten aller Schwerter, mit dem der Ideologie, zerteilt.

Wir, die wir fassungslos und oft hilflos einer Kriegskatastrophe mit Tausenden von Opfern zusehen, die im Verlauf immer deutlicher zu einem klassischen Stellvertreterkrieg zwischen Russland und dem Westen wird, werden aber stündlich ermahnt, nicht vom fahrenden Zug abzuspringen, uns nicht vom Kriegsherrn im Kreml aufspalten zu lassen – denn das Volk der Ukraine kämpfe schließlich für uns alle, für unsere Freiheit. „Sie sterben für Europa, sie haben verdient, den europäischen Traum mit uns zu leben“ (so Ursula von der Leyen, die sprachlich gern übergriffig wird).

Welche Dinge zur Verschärfung des Konflikts beigetragen haben
Der Charakter dieses Krieges als völkerrechtswidriger Angriffskrieg und seine mediale Bearbeitung suggerieren, dass wir, der Westen, nur Helfer, Retter und Unterstützer in einer gerechten Sache sind. So vernebelt sich, dass wir Partei sind, nicht nur mit unseren Sympathien für die angegriffene Nation. Wir haben eigene Interessen und Machtoptionen im Spiel.
Wir werden gerade durch eine umfassende moralische Aufrüstung und Dauerbeschallung immer tiefer hineingezogen in die geopolitische Schlachtordnung, die in Zukunft offenbar ausgefochten werden soll: Freiheit gegen Tyrannei, Demokratie gegen Autokratie und Despotie, Gut gegen Böse, der Westen gegen Russland und China.

Wenn dieser Krieg eines fernen Tages zu Ende sein wird, werden wir vermutlich Jahrzehnte über die Frage seiner Anlässe, seiner Alleinschuld und seiner Ursachen diskutieren und darüber, ob er wirklich eine „Zeitenwende“ war oder nur ein weiterer Krieg in der Reihe von Weltkatastrophen, die alle aus der Unfähigkeit der großen Mächte entspringen, eine multipolare Welt zu begründen, die wirklich getragen wird von den Friedensregeln der Uno, von gegenseitigem Respekt vor unterschiedlichen Traditionen und kulturellen Gesellschaftsvorstellungen. Heute aber können wir bereits sehen, dass zwei Dinge erheblich zur Verschärfung des Konfliktes beigetragen haben.
… Alles vom 14.7.2022 von Antje Vollmer bitte lesen auf
https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/zweifel-an-der-sanktionspolitik-gegen-russland-wo-sind-die-realos-geblieben-li.246202
Antje Vollmer
Die ehemalige Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages und Grünen-Politikerin ist Mitglied in der Gruppe „Neubeginn“, einem Kreis linker Intellektueller, Schriftsteller und Politiker aus Ost und West (Ingo Schulze, Daniela Dahn, Micha Brie, Gabi Zimmer, Peter Brandt, Dieter Klein).
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(2) Broder: Es ist keine Zeitenwende
… Es ist keine Zeitenwende, es war nur ein kurzes Aufflackern. Es gibt viel Mitgefühl und Hilfsbereitschaft. Aber es gibt kein Verständnis dafür, dass Menschen bereit sind, zu kämpfen und zu sterben, um frei zu sein. Das kann ein Deutscher nicht verstehen. Darum erklären nun Leute wie Ulrike Guerot, Lars Eidinger und Margot Kässmann, dass Krieg nie zu Frieden führe.
Wissen Sie, was ich glaube? Dass es denen letztlich nur darum geht, den Krieg der Alliierten gegen die Deutschen zu delegitimieren – und sich und die eigenen Vorfahren von jeder historischen Belastung freizusprechen. Schliesslich wissen diese Leute sehr genau, dass das Eingreifen der Alliierten zu Frieden geführt hat. Jetzt aber sagen sie: Verteidigung? Wehrbereitschaft? Bitte nicht! Okay, das ist Dr. Freud für Anfänger. Aber es macht nichts. Eine schlichte Küchenpsychologie kann besser sein als die klügste Analyse von Peter Sloterdijk.
… Alles vom 12.7.2022 von Henrik M. Broder bitte lesen auf
https://www.nzz.ch/feuilleton/henryk-m-broder-deutschland-lebt-nicht-in-der-wirklichkeit-ld.1692744

 

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