ULA – Un-Abhängigkeit und Lebensqualität im Alter – Sucht ueber 60

Immer mehr Menschen über 60 Jahren haben ein Suchtproblem. Dabei geht es meist um Alkohol und Medikamente. Die Scham der Betroffenen ist oft groß, Beratungsstellen finden kaum Kontakt zu ihnen. Das soll sich ändern: Auch in Freiburg gibt es ab jetzt ein entsprechendes Angebot. „Er war angenehm, einfach schön, ich habe ihn gebraucht“, sagt Alice Thompson (Name geändert) über den Alkohol. Die 82- Jährige ist eine energische Frau mit strahlend weißem Haar, kräftiger Stimme und Witz im  Blick. „Ich habe nie gleich nach dem Aufstehen getrunken“, erzählt sie, „aber wenn ich am Vormittag vom Einkaufen kam, bin ich als Erstes zum Eisschrank.“ Eine Flasche Wein pro Tag trank sie meist. „Das ist zuviel für eine Frau in diesem Alter, die zudem Medikamente nehmen muss“, erklärt Thomas Hodel. Der Leiter der Suchtberatung des AGJ-Fachverbands für Prävention und Rehabilitation in der Erzdiözese Freiburg ist beim Gespräch in Alice Thompsons Wohnung dabei. „Er hat mir geholfen, indem er mir viele richtige Fragen gestellt hat“, sagt die alte Dame. Dass es soweit kam und sie in der Beratungsstelle Hilfe suchte, verdankt sie vor allem ihren Kindern. „Mama, Alkoholismus ist eine Krankheit“, habe die Tochter gesagt. Als sie dann nach einem Sturz im Krankenhaus lag, sagte sie bei der Anamnese endlich den Satz: „Ich bin Alkoholikerin.“ Und nahm den erzwungenen kalten Entzug zum Anlass, mit dem Trinken aufzuhören. Nach zwei Anläufen ist sie jetzt seit mehr als einem Jahr trocken. „Es ist eine Mühe“, sagt sie, „der Drang zum Alkohol ist so groß, aber ich will jetzt frei sein.“ Rund 400000 Menschen über 60Jahren, schätzt die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen, sind alkoholabhängig, ein bis zwei Millionen haben einen „problematischen Medikamentenkonsum“. Umgerechnet auf Freiburg bedeutet das, dass hier bis zu 5400 ältere Frauen und Männer betroffen sind. Doch nur 69 davon haben sich 2010 an eine entsprechende Einrichtung gewandt, wie Suchtberatungsleiter Thomas Hodel berichtet. „Sie schämen sich“, sagt er, „und viele wissen gar nicht, dass sie abhängig sind.“ Denn die Schmerz-, Beruhigungs- und Schlafmittel verschreibt schließlich der Hausarzt, und Alkohol haben sie auch früher regelmäßig getrunken. Doch Leber und Nieren arbeiteten im Alter langsamer, weshalb die Sucht und die negativen Folgen des Alkohols viel schneller zutage treten, so Hodel: Antriebslosigkeit, Rückzug, Hirnschädigungen, Stürze. „Un- Abhängigkeit und Lebensqualität im Alter“ (Ula) nennt sich das Projekt der Freiburger Suchtberatung, das – finanziert von der Baden-Württemberg- Stiftung – im Juni 2010 begonnen hat und auf drei Jahre angelegt ist. Nachdem zunächst Fachleute geschult wurden, will man jetzt auf die Betroffenenzugehen: Ab sofort gibt es jede Woche eine Telefonsprechstunde sowie eine offene Gruppe, an der jeder teilnehmen kann – einvorheriger Entzug ist genauso wenig Voraussetzung wie eine Anmeldung. Die verbreitete Meinung, ältere Menschen könnten ihre Gewohnheiten nicht mehr ändern, sei genauso falsch wie der Rat, man solle „der Oma doch ihr Viertele lassen“, sagt Thomas Hodel: „Die Behandlungserfolge sind sogar sehr gut, und der Gewinn an Lebensqualität ist hoch.“ Von Erfolgsquoten von 70 bis 90 Prozent berichtet Elke Müller, Leiterin der Suchtberatung des Blauen Kreuzes in Lörrach. Vor allem die „Late Onset“- Süchtigen, die – oft nach Verlust des Arbeitsplatzes oder des Partners – spät mit dem Trinken begonnen haben oder in die Medikamentenabhängigkeit gerutscht sind, schafften es meist, abstinent zu werden. „Sie brauchen einen Sinn und eine Aufgabe“, sagt Elke Müller. 25 Betroffene hat sie bereits zu Suchtberatungshelfern ausgebildet, derzeit sind vier im Einsatz: Ehrenamtlich übernehmen sie bei anderen Suchtkranken Hausmeistertätigkeiten oder zeigen Jüngeren, wie man ein Haushaltsbuch führt. Die Gruppe „60+und abhängig“ besteht derzeit aus elf Mitgliedern, die sich gegenseitig unterstützen. Der Kontakt entstehe meist über das Kreiskrankenhaus, mit dem die Beratungsstelle gut vernetzt sei, sagt Elke Müller: „Meist geht es ihnen rasch besser, sie erobern sich ihr Leben zurück.“ Auf diesem Weg sieht sich auch Alice Thompson: „Ich bin noch lange nicht fertig, aber ich bin unterwegs und ich lerne jetzt, mir selber etwas Gutes zu tun“, sagt sie und wünscht Thomas Hodel „viel Glück für Ihre wichtige Arbeit“. Die solle auf jeden Fall weitergeführt werden,  auch wenn der Projektzuschuss enden sollte, so Hodel. In Lörrach bestehen Chancen, dass das Angebot in die Regelfinanzierung des Landkreises aufgenommen wird. Sicher ist: Das Thema drängt, durch die demografische Entwicklung wird die Zahl der älteren Suchtkranken zunehmen.

Sigrun Rehm, 2.5.2012, www.der-sonntag.de

Angebote speziell für Menschen ab 60 Jahren mit Suchtproblemen:

FREIBURG: „Un-Abhängigkeit und Lebensqualität im Alter“ (Ula),  Suchtberatung des AGJ-Fachverbands für Prävention und Rehabilitation in der Erzdiözese Freiburg, Oberau 23, Freiburg. Sprechstundemittwochs 11 bis 12 Uhr, Telefon 0761 /207620; Gruppe donnerstags, 14.30 bis 15.30Uhr.

LÖRRACH: „60+ und unabhängig“, Blaues Kreuz, Beratungsstelle Lörrach, Spitalstraße60. Info zur Gruppe unter Telefon 07621 /44612. Sprechstunde im Kreiskrankenhaus Lörrach, Spitalstraße 25, Zimmer 003, mittwochs 10 bis 12 Uhr.

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