Nihilismus

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Dostojewski „Böse Geister“: Nihilismus und Destruktion
Liebe Leserin, lieber Leser! Vor vierzig Jahren habe ich „Die Dämonen“ („Böse Geister“ in der Übersetzung von Svetlana Geier) von Fjodor Dostojewski gelesen. Es ist bis heute eins der Bücher, die mich am stärksten beeindruckt haben, weil es die Protagonisten allesamt als von ihren Ideen, Idealen, Träumen und Albträumen „Besessene“, zum Teil „Böse Geister“ darstellt. (Das Buch hat je nach Übersetzung unterschiedliche Titel.)

Mir wurde damals klar, dass ich meine eigenen politischen Ideale mit entsprechendem zeitlichem Abstand vielleicht so differenziert würde betrachten müssen, wie es Dostojewski beschrieben hatte: als übersteigerte Wirrungen von hitzköpfigen Idealisten, die sich dem Sog der Lügen, der ideologischen Intrigen und intellektuellen Verführungen nicht entziehen konnten und entweder vor Überwältigung aufgehört hatten, selbst zu denken, oder noch schlimmer, davon überzeugt waren, im Besitz der einzigen Wahrheit zu sein. So wollte ich allerdings nicht werden oder bleiben, das stand fest.
Ich musste mir eingestehen, dass die Wut oder Angst, das Ende der Menschheit persönlich miterleben zu müssen (Atomkrieg, Umweltverschmutzung, Aids) nicht von mir kam, sondern von Leuten, die sie mir einreden wollten, um damit Politik zu machen. Nun gab es Anfang der 80er auch noch einen ausgeprägten, garantiert ideologiefreien Hedonismus, von dem ich mich aus Bequemlichkeit, Verdrängung und Schwäche treiben ließ. Das hielt mich von vielen Trugschlüssen ab und fern von der Demagogie. Deshalb bin ich bis heute ideologisch auftretenden Menschen generell skeptisch gegenüber.

Konkurrenz der Weltanschauungen als Tragödie der Welt
Dostojewski versuchte in seinem Roman, die Gedankenmuster seiner geistig umherirrenden Protagonisten zu sortieren und wie in einem Pamphlet kundzutun. Er beschreibt die Konkurrenz der Weltanschauungen als Tragödie der Welt. Im Zwischenreich des vorrevolutionären Umbruchs in Russland werden sie zum tödlichen Strudel, der schon als düstere Vorahnung auf das ganze Elend Europas abstrahlen sollte.

Was Dostojewski mental in die Ecke zu treiben schien, waren die sogenannten Nihilisten, die für ihn die wahren Verführer und Zerstörer von Identität und Kultur waren, deren einziges Ziel die Zerstörung an sich war. Ihnen galt seine Faszination, aber auch seine Abscheu. Ich hätte damals nicht gedacht, dass wir irgendwann einmal an einem solchen Punkt würden landen können, an dem moralische Verrohung und politische Ignoranz wie ein Duo Infernale der gesellschaftlichen „Ratio“ würden auftreten können, ohne sogleich als schamlos entlarvt zu werden. Das ist leider Realität.

Heute, vierzig Jahre später, erscheint mir dieses Buch wie eine Parabel auf unsere Jetztzeit. Befinden wir uns nicht schon in einem postdemokratischen Wertewandel, der vom Nihilismus getrieben wird? Der Achgut-Autor Gerd Held beschreibt die Folgen dieses Wandels in der Einführung zu seinem Autorenblog „Über die Eigenart und den geschichtlichen Rang der Moderne – eine Ideenskizze“ nicht als totalitäre Gefahr, sondern als nihilistische.
„Die nihilistische Gefahr ist in unserer Gegenwart unübersehbar. In den Ländern, die längere Zeit die tragenden Kräfte der modernen Zivilisation waren, gibt es massive Versuche, die Geschichte der Errungenschaften in eine Geschichte von „Kolonialismus“, „Rassismus“, „Sexismus“ und der „Zerstörung von Mensch und Natur“ umzuschreiben. […] Diese Bewegung beruht nicht etwa darauf, dass man auf einmal ganz neue Errungenschaften zu bieten hätte. Entgegen allen großen Ankündigungen leben wir in einer kulturell wenig innovativen Zeit. Diese Bewegung ist wirklich nur eine Negativströmung, eine „Cancel Culture“ […] So ist eine Situation entstanden, die alles das, was einmal an der modernen Welt attraktiv und faszinierend war, geistig und materiell entwertet hat. Was noch vor einigen Monaten als „große Transformation“, als „Aufbruch“ und „Zeitenwende“ ausgerufen wurde, erweist sich nun immer deutlicher als ein reines Negativprogramm.“

Zunehmend triviale Negativbewegungen
Im postmodern-erstarrten, antiprogressiven Deutschland von heute ist es für junge Menschen weit schwerer, der Entwurzelung zu entgehen, die der kulturelle Sturm mit sich bringt. Im Mainstream des Wertezweifels, der Angst und Panik vor dem Ende, in der Verneinung unserer kulturellen Fähigkeiten und der Verneigung vor Endzeitphilosophen verliert die junge Generation zunehmend den Glauben an eine lebenswerte Zukunft und fanatisiert sich im Spiegel des eigenen Selbstmitleids. Deshalb verfällt sie zunehmend trivialen Negativbewegungen, in denen ihre (politische) Energie instrumentalisiert wird – so, wie es den jungen Idealisten und Heißspornen in Dostojewskis Roman ergeht. Heute befinden sich junge Menschen schnell in einer ideologischen Spirale, in der ihre Unzufriedenheit und Sinnsuche im fanatischen Revolutionsgebell von NGOs vertont wird.

Dostojewskis Meisterschaft liegt in den Psychogrammen von Individuen, die in einer verwirrenden Vielzahl von großen und kleinen Geistern erscheint. Diese Psychogramme beschreiben ein literarisch umfassendes Menschenbild in seiner Zeitschleife, die sich als Geburtswehe des aufkommenden postfeudalen Traumas äußert. In dieser Geburtswehe irren die Menschen wie Besessene ziellos umher, sie sind haltlos, verunsichert, romantisch, naiv, idealistisch, aber auch egozentrisch und schließlich radikal, anarchistisch und gewaltaffin. Sie sind dann – wie ihre Pendants in der Gegenwart – mehr oder weniger Überzeugungstäter.
In „Die Dämonen“ wird etwas Entscheidendes beschrieben, das mir damals in Zeiten des Kalten Krieges und der klaren weltanschaulichen Zuordnungen noch irreal und fern der eigenen Befindlichkeiten erschien. Nun ist es nah, laut und wirklich.

Eine große, klassengesellschaftliche Neuanlage
Es ist ernüchternd, welche Erkenntnis wir aus dem Aufkommen des Nihilismus ziehen müssen. Wenn Menschen den ideellen Boden unter den Füßen verlieren, wenn sie auf der Sinnsuche im luftleeren Raum den Horizont geschichtlich-kultureller, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Identität aus den Augen verlieren, werden sie zu Nihilisten, die einfach nur „Nein“ sagen und die Antwort auf das „Wie weiter?“ schuldig bleiben. Es interessiert sie nicht. Sie negieren die Kultur ihrer Eltern und Vorfahren, oder glauben, dies tun zu müssen, ja, dazu berufen zu sein – jeweils riskante Unterfangen.

Indem sie keinen Sinn darin sehen, das Vorhandene zu pflegen und weiterzuentwickeln, sondern es als Hindernis, Zumutung und Bedrohung brandmarken und stürzen wollen, werden sie zu Vollstreckern eines absurden Zerstörungswahns, den sie für den Anfang von etwas Besseren halten. Konzerne, Unternehmen und die Politik betreiben diesen Wahnsinn noch mit, in der Hoffnung, dass die Abkehrbewegung vom gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Konsens beherrschbar bleibt. Die Abdrift, in die uns der Nihilismus als bereits etablierte Staatsräson gebracht hat, ist schon so groß, dass eine Kurskorrektur nicht mehr möglich scheint. Siehe Energiepolitik.
Weder werden die Anhänger des Nihilismus treue Kunden noch treue Wähler sein. Sie werden auch der Demokratie, wie wir sie zu leben gewohnt sind, einen Bärendienst erweisen. Siehe „Cancel Culture“. Der wachsende Schuttberg der Negationen industriepolitischer und arbeitspolitischer Art wirft immer größere Schatten auf die Exportnation Deutschland.

Ende der kulturellen Menschwerdung
Den Nihilisten bedeutet fast alles „nichts“ (lateinisch „nihil“). Nichts darf bleiben, was das Zeitalter der Industrie-Moderne und ihrer Kulturen verkörpert. Die zeitgeistige „Cancel-Culture“ ist nur das euphemistische Label der Vorhut einer großen, klassengesellschaftlichen Neuanlage, in der es keine soziale Marktwirtschaft mehr geben kann. Denn das Soziale an der Marktwirtschaft ist ein Konstrukt aus geldintensiven Mechanismen, die sich nur aus Wertschöpfung und Wachstum generieren. Auch der Generationenvertrag (Rentensystem) kann mit Stagnation oder sogar Schrumpfung des Bruttoinlandsprodukts in einer überalterten Gesellschaft auf Dauer nicht aufrechterhalten werden.
Noch sind die Nihilisten explizit gewaltfrei unterwegs. Ihr Hass, ihre Verachtung gegen das System, gegen das Etablierte und Tradierte ist aber bereits indirekt gewalttätig. Das wird über kurz oder lang Menschen in den Radikalismus treiben – auf beiden Seiten. Denn hier bildet sich eine grundlegende, prinzipielle Konfrontationslinie aus.

Selbstmord aus Angst vor dem Tod – Das könnte man als Motto für die selbstverliebten Aktivisten von Negativbewegungen wie die „Letzte Generation“ („Stoppt den fossilen Wahnsinn“), oder „Extinction Rebellion“ bezeichnen („Wir stehen vor einem Abgrund“). Mit ihren Namensgebungen markieren die Aktivisten sich selbst als Ende der Menschheit, als Ende der kulturellen Menschwerdung und betreiben damit eine lächerlich anmutende Selbstüberhöhung. Sie bezeichnen die Generationen vor ihnen als Täter, sie selbst sind die wahren Opfer, so das stereotype Narrativ.

„Als ob die Wahrheit real wäre“
In Goethes Faust behauptet der Ober-Nihilist Mephisto, „Alles, was entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht; Drum besser wär’s, dass nichts entstünde.“ Das klingt wie aus dem Schwarzbuch der Welten-Ende-NGOs. So heißt es auf der Website von Extinction Rebellion: „Jetzt ist es an der Zeit, so zu tun, als ob die Wahrheit real wäre.“ Die Rebellen halten die Wahrheit also eigentlich für nicht real?

Das ist verwirrend: „Wir befinden uns inmitten eines klimatischen und ökologischen Zusammenbruchs.“ Man muss diesen Satz also nicht glauben, sondern nur so tun, als ob, ihn als „reale Wahrheit“ oft genug wiederholen, damit das Jungvolk Panik schiebt. Es ist paradox: Auch wenn man nur so tut, als sei diese Wahrheit real: Die Besessenen werden es nicht merken.
Und die „Letzte Generation“ lässt verlauten: „Wir sind der Überlebenswille der Gesellschaft! Wir haben noch zwei bis drei Jahre, in denen wir den fossilen Pfad der Vernichtung noch verlassen können.“ Wer diesen fossilen Pfad verlassen möchte, muss also bereit sein, fossilfrei zu leben. Für die Letzte Generation ist dies eine gute Nachricht: Wir können im kommenden Winter schon mal ausprobieren, wie das fossilfrei klappt. Danach sprechen wir weiter.

Ich beende meinen Exkurs über Nihilismus mit dem Mädchen aus Schweden:
„Aber ich will eure Hoffnung nicht. Ich will nicht, dass ihr hoffnungsvoll seid. Ich will, dass ihr in Panik geratet. Ich will, dass ihr die Angst fühlt, die ich jeden Tag fühle. […] Ich will, dass ihr so tut, als würde unser Haus brennen, denn das tut es auch.“
Dostojewski hätte diese Worte auch Werchowenskij, einem seiner radikal-nihilistischen „Romanhelden“ in den Mund legen können – Worte eines Besessenen, dessen düstere Vision einer gottlosen Welt von „Dämonen“ beherrscht wird, statt von der Vernunft.
…. Alles vom 8.7.2022 von Fabian Nicolay bitte lesen auf
https://www.achgut.com