Menschenrechte – Entstehung

Mit der Globalisierung einher geht eine zunehmende kulturelle Vielfalt. Für ein Zusammenleben in Frieden braucht es aber elementare Gemeinsamkeiten – diese heißen Menschenrechte und deren Leitidee Menschenwürde. Welchen Ursprung haben die Menschenrechte als „Zivilreligion der Moderne“? Verdanken wir sie unserem christlich-jüdischen Erbe oder sind sie eine Erfindung der weithin antireligiösen Aufklärung?
Der Soziologe Hans Joas verwirft diese beiden bislang dominierenden Vorstellungen: Für ihn entstehen die Menschenrechte und deren rechtliche Verankerung in einem Prozess der Sakralisierung, der jeden einzelnen Menschen für sakrosankt, also heilig bzw. etwas Besonderes und Einmaliges ansieht. Die Menschenrechte seien eben nicht das Ergebnis eines bloßen Konsenses über ein universelles Prinzip, sondern entstammen einem langen kulturübergreifenden und weltweiten Gespräch über Werte.

„Eine der häufigsten, aber auch unfruchtbarsten Debatten dreht sich um die Frage, ob die Menschenrechte eher auf religiöse oder säkular-humanistische Ursprünge zurückzuführen sind“, so Joas.
Jahrhunderte haben Kirchen mit Herrschern paktiert (oder sie waren selbst die religiösen Herrscher), die mit wie auch immer definierten Menschenrechten nichts gemein hatten. Erst im 20 Jahrhundert hat sich die katholische Kirche von ihrer ursprünglichen und heftigen Verdammung der „Menschenrechte als Form von liberalistischen Individualismus“ abgewandt.
„Die Menschenrechte sind aus dem Geist der französischen Revolution hervorgegangen. In dieser Sichtweise sind die Menschenrechte eindeutig nicht die Frucht irgendeiner religiösen Tradition, sondern vielmehr die Manifestation aus Widerstand gegen das Machtbündnis von Staat und (katholischer) Kirche oder gegen das Christentum als Ganzes“ (Joas, S. 16). Joas bezeichnet die Vereinnahmung der Menschenrechte durch die christlichen Kirchen als „Taschenspielertrick“ und fragt, warum „ein bestimmtes Element christlicher Lehre, das sich jahrhundertelang mit verschiedensten politischen Regimes vertrug, die nicht alle auf der Menschenrechtsidee fundiert waren – warum dieses Element plötzlich zur dynamischen Kraft bei der Institutionalisierung der Menschenrechte hätte werden sollen“

Der Katholik Joas ist ein heftiger Kritiker des „westlichen Triumphalismus“ über den Erfolg „ihrer“ Menschenrechtsidee und macht seine Kritik an der Historie von Sklaverei und Folter fest:
Während in Europa die Idee der Menschenrechte entstand, sind in den europäischen Kolonien Amerikas Gesellschaften errichtet worden, die sich ökonomisch voll und ganz auf die Sklaverei stützten. Kein Seehandel treibender Staat Europas ohne Sklaventransport.
Entsprechend düster sieht es mit der Folter aus, die im 18. Jahrhundert zwar in Europa abgeschafft wurde, in den Kolonien bis weit ins späte 20. Jahrhundert legale Praxis blieb. Während Frankreich und Großbritannien in Europa die EMRK unterschrieben, praktizierten sie im Algerienkonflikt und bei der Niederschlagung des kenianischen Mau-Mau-Aufstandes auf afrikanischem Boden nach eigenem Empfinden völlig legal Folter im großen Stil.

Im Schlusskapitel „Wertegeneralisierung“ wendet sich Joas – ausgehend von dem erstaunlichen globalen Konsens, dass sich die Vereinten Nationen am 10.12.1948 trotz der Pluralität ihrer Kulturen auf eine Allgemeine Erklärung der Menschenrechte geeingt haben – der Zukunft zu: Die Menschenrechte müssten „institutionell und zivilgesellschaftlich gestützt, argumentativ verteidigt und in den Praktiken des Alltagslebens inkarniert“ werden. Institutionen müssen Sicherheit schaffen, Politik und Wissenschaft müssen die Werte verteidigen und kulturelle Praktiken in der Gesellschaft gestützt werden.

Joas lehnt sich stark an die Denker Max Weber, Émile Durkheim, Talcott Parsons und besonders Ernst Troeltsch an.
Hans Joas : Die Sakralität der Person
Eine neue Genealogie der Menschenrechte
Suhrkamp 2011

Universalität
Die Menschenrechte sollen universell sein, also auch in Arabien und China gelten, in diesem wie in allen kommenden Jahrtausenden. Religionen aber sind lokale Kulturphänomene, die mit den Jahrtausenden kommen und gehen. Menschenrechte dürfen, wenn sie denn einen universellen Geltungsbereich erlangen wollen, sich nicht aus einer einzelnen Religion herleiten. Begründete man das Fundament der Menschenrechte mit dem Christentum, wäre es für Un- und Andersgläubige wertlos und andere Kulturen könnten sie als europäisches Zeitgeist-Phänomen abzutun. Religion und Menschenrechte schließen sich nicht aus, aber klerikal gesteuerter Glaube impliziert nicht auch Menschenrecht.
Die große Frage bleibt, wie sich eine Letztbegründung der Menschenrechte aus der Natur des Menschen ableiten lässt.

Philosophie
Joas behandelt dei Menschenrechte sehr philosophisch – als ob mein Zahnarzt über das Loch in meinem Backenzahn findet, lange diskutiert und dann nicht behandelt.

Theorie und Praxis
Es gibt zum Thema Menschenwürde immer mehr Theorien und Begriffsdefinitionen von Soziologen, Philosophen, Theologen und Juristen – mit der Gefahr des Zerredens. Durch diese Theorienfülle bekommt der Begriff etwas dermaßen Abstraktes, dass wir gar nicht mehr richtig wissen, was wir uns darunter vorstellen sollen. Menschenwürde muss sich in unseren Handlungen durchsetzen – durch theoretische Abhandlungen wird das sicher nicht geschehen. Es kommt auf die Umsetzung an. Freiheit des einzelnen Menschen überall in der Welt, das ist „Menschenrecht“ unplugged und so wahr wie ein klarer Gebirgsbach. Der Respekt der Menschen vor anderen Menschen muss wachsen, nicht nur in der Politik, auch in der Literatur und der Musik selbstverständlich werden. Menschenwürde ist etwas, das die Gesellschaft leben muss.

Fragen über Fragen
Die Würde des Menschen ist unantastbar- dieser Satz steht an erster Stelle des Grundgesetzes. Aber wie lassen sich die Menschenrechte begründen – durch Religion, durch Auflärung oder durch den „Menschen als etwas besonderes, also heiliges“?
Folter wie Waterboarding verstößt gegen die Menschenrechte und wird dennoch in manchen Staaten (wie z.B. den USA) angewendet. Gelten die Menschenrechte nicht überall?
„Was du nicht willst, das man dir tu‘, das füg‘ auch keinem anderen zu“ (umgangssprachlich) bzw. „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“ (kategorischer Imperativ von Kant) – Hat jeder Mensch einen Anspruch darauf?
Am 10. Dezember 1948 beschloss die Vollversammlung der Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte angenommen mit 48 Stimmen, auch China, auch Russland, keine Gegenstimme, acht Enthaltungen. Doch die Würde des Menschen ist heute noch antastbar, weil wir die Heiligkeit bzw. Besonderheit seiner Person nicht achten.

Der westliche Triumphalismus
Rupert Neudeck, der Initiator der Grünhelme sowie Ärzte ohne Grenzen, lobt Hans Joas für seine Triumphalismus-Mahnungen, dass der Westen die Menschenrechte für sich gepachtet habe:
„Das ist ein Buch, dessen knapper Umfang im diametralen Gegensatz zu seiner Bedeutung steht. Von der Länge her geht das kleine Buch auf zwei große Seiten in der Wochenzeitung Die ZEIT. Aber vom Inhalt her sind das Sprengsätze, die der Autor in unseren manchmal gar nicht bewussten westlichen Triumphalismus hineinsprengt und große heilsame Löcher darin hinterlässt, so dass wir den Triumphalismus ad acta legen müssen. Wir müssen Ihn zumindest für uns revidieren. Die Heiligkeit der menschlichen Person wird von uns Westlern ja ohne ein Wimpernzucken mit der westlichen und eben auch abendländischen Geistesgeschichte ursächlich in einen Zusammenhang gebracht. Das geht manchmal im Zug des Triumphalismus so weit, dass wir Menschen anderer Kontinente und Kulturen für unfähig halten, das Universale der Menschenrechte überhaupt zu verstehen.“
https://www.sonnenseite.com/de/tipps/sind-die-menschenrechte-westlich.html 

Hans Joas: Sind die Menschenrechte westlich?
80 Seiten , 10 Euro
Kösel Verlag 2015

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