Maxim Gorki lebte 1923 in Freiburg-Guenterstal

Der Dichter Maxim Gorki lebte im Sommer und Herbst 1923 in Günterstal und hat sich in mehreren Briefen über Freiburg und die Freiburger geäußert.

Die Reise des russischen Exilanten Maxim Gorki von Berlin nach Freiburg im Sommer 1923 verlief nicht ohne Schwierigkeiten: Beim Besteigen des Zugs verlangten „die gottesfürchtigen Deutschen“ von ihm eine Heiratsurkunde, die er nun einmal nicht vorweisen konnte, so mussten er und seine Lebensgefährtin Baronin Budberg statt im gemeinsamen Coupé in getrennten Abteilen reisen. Dann erzwang die Unterbrechung der Rheintallinie durch die französische Besetzung eine Verlängerung der Reisedauer auf 22 Stunden, und schließlich nahm man den Russen in Freiburg die Pässe ab, um sie eine Woche lang zu studieren. Dennoch: Als das Quartier im Günterstäler Hotel Kyburg bezogen ist, bessert sich die Stimmung: „Hier muß man leben! Das ist nicht das Loch von St. Blasien, sondern eine sehr schöne Gegend“, schreibt Gorki in einem der ersten in Günterstal geschriebenen, 2009 in Moskau erschienenen Briefe. Und in eineinhalb Monaten werde man wieder nach Berlin zurückkehren.

Alexander Maximowitsch Peschkow, 1868 in Nischni-Nowgorod geboren, verwendete seit seiner ersten Erzählung 1892 das Pseudonym „Gorki“ („der Bittere“). Mit dem Drama „Nachtasyl“ hatte er seinen Weltruf begründet. Seit 1905 bestand seine Freundschaft mit Lenin, die trotz harter Auseinandersetzungen bis zum Tod des Revolutionsführers halten sollte. Die Oktoberrevolution 1917 hatte Gorki abgelehnt, das russische Volk war seiner Meinung nach für einen derartigen Umsturz noch nicht reif. Während der Hungersnot 1921 widmete er sich zusammen mit Fridtjof Nansen vorwiegend der Organisation einer internationalen Hungerhilfe, die zwischen zehn und zwanzig Millionen Leben retten konnte. Im gleichen Jahr verschlimmerte sich die Tuberkulose des Dichters, für Lenin eine willkommene Gelegenheit, den ihm lästig werdenden Freund mit fürsorglicher Geste ins Ausland loszuwerden. Gorki hatte zuerst das Sanatorium in St. Blasien aufgesucht, wechselte dann in Sanatorien an der Ostsee und bei Berlin.

Aber der Schwarzwald mit seinem Reizklima genoss damals einen legendären Ruf bei den russischen Tuberkuloseärzten, und da dem Dichter das renommierte St. Blasien mit seinen Lungenkranken zuwider geworden war (und der notorische Zigarettenraucher früher oder später in Konflikt mit dem strikten Nikotinverbot der Heilanstalt gekommen wäre), kam das nicht eben als Kurort berühmte Günterstal zur Ehre, von Gorki zum Aufenthaltsort gewählt zu werden. Schließlich hatte ja 1904 sein Freund Tschechow das nicht weit entfernte Badenweiler gleichfalls wegen seiner Tuberkulose aufgesucht.
Einige Tage nach der Ankunft vermeldet Gorki: „Hier ist es sehr regnerisch, ein bisschen kalt, aber trotzdem gut! Freiburg hat mich bezaubert. Wieviel ist hier zu spüren von den alten, geschmackvollen Zeiten, und wie sorgsam und mit welcher Liebe die Deutschen hier die Spuren der Vergangenheit pflegen!“ Und Gorki nennt als Beispiele natürlich den Münsterturm und die Bächle. Aber schon nach kurzer Zeit ist die wohlgemute Stimmung umgeschlagen: „Meine Gesundheit hat sich offensichtlich völlig verschlechtert: Erneut habe ich wieder meine Bronchitis mit teuflisch starkem Husten, Fieber, Kopfschmerzen und Atemnot. Und das Wetter ist miserabel und schändlich: Es regnet jeden Tag, das Heu verfault. Die Deutschen schauen finster gen Himmel und werden demnächst wohl zu Atheisten. Ich möchte unbedingt arbeiten, aber mein scheußliches Unwohlsein hindert mich daran.“ Auch „Moura“ Budberg (eine schillernde Persönlichkeit, möglicherweise Agentin nicht nur des sowjetischen Geheimdienstes) wird „wegen des kalten Wetters wütend und völlig unzugänglich“.Ab Anfang Juli ist diese Krise vorüber, die Sonne „scheint nach deutscher Art richtig tüchtig“, und „ich werde gesund und gesünder, bin schon dick geworden, habe eine gesunde Gesichtsfarbe bekommen und einen dicken Bauch“. Der ihn behandelnde Arzt, sehr wahrscheinlich Dr. Levi, „ein guter Arzt“ (der 1936 gezwungen werden wird, seine Praxis aufzugeben, im August 1942 mit seiner Frau in das KZ Theresienstadt deportiert wird und ein halbes Jahr später verhungert), will von ihm keine Bezahlung; bezahlen könnte Gorki ihn auch erst, wenn der Verleger ihm das Honorar für seine Bücher geschickt hat.Die autobiographischen Romane sind noch vor dem hiesigen Aufenthalt abgeschlossen worden, nun ist Gorki vorwiegend mit seiner literarisch-wissenschaftlichen Zeitschrift „Besseda“ beschäftigt, für die er Beiträge unter anderem von Stefan Zweig und Romain Rolland erhält, während die Texte sowjetischer Schriftsteller „auf dem Postweg verlorengehen“. (Sein Projekt, die Zeitschrift auch in der Sowjetunion erscheinen zu lassen, wird zu seiner Erbitterung von den dortigen Behörden verhindert). Unterdessen ist Gorki „fast gesund geworden, nur in der linken Lunge pfeift es noch etwas“.

Tatsächlich wird der ominöse Bluthusten während des Freiburger Aufenthalts nicht mehr erwähnt und sollte erst in späteren Jahren erneut auftreten. Gorkis Sohn Maxim sucht in dieser Zeit für die Großfamilie eine Wohnung am Berliner Stadtrand, hat dabei aber keinen Erfolg, Gorki lädt ihn und Ehefrau Timoscha daraufhin nach Günterstal ein. Sein Blick auf die Einwohner ist kritischer geworden. Jedenfalls gehen sie Gorki bei den Tanzabenden im Hotel Kyburg erheblich auf die Nerven: „Obwohl die hiesigen Deutschen besser als die Preußen sind (jedenfalls nimmt man im liberaleren Freiburg keinen Anstoß an Gorkis Konkubinat…), haben sie etwas Grobes an sich. Oh Gott, was sie nicht alles in unserem Hotel an den Samstagen anstellen. Der Mann umarmt mit Vorliebe eine dickschenklige Frau, drückt sie eng an sich und malträtiert ihr mit den Knien den Unterleib. Sie sind überzeugt, daß sie dabei einen Tanz vollführen. Wenn man aber durch das Fenster zuschaut, die Musik nicht hört und dieses lautlose Geschehen betrachtet, könnte man eher meinen, es handle sich dabei um unterschiedliche Methoden eine Frau zu foltern.“

Wohlwollender klingt immer noch die Schilderung der Landschaft: „Wir leben in einem schönen, grünen Tal bei Freiburg und beabsichtigen den Winter über hier zu bleiben. Interessant ist hier die Vegetation, nicht nur wegen ihrer Farben, sondern auch wegen ihrer Formen: Thujen, Zypressen, verschiedene Nadelbäume. Es ist eine milde, bergige Landschaft, die Ihnen übrigens vermutlich nicht gefallen würde.“ Auch wegen der hohen Pensionskosten wird jetzt ein Haus gesucht. Zwei Objekte in Günterstal erweisen sich als ungeeignet, schließlich wird das Anwesen Dorfstraße 5 ausgewählt. Der Eigentümer, der Arzt Dr. Breul, ist erkrankt, muss zur Kur fahren und vermietet solange sein Haus.
Obwohl es etwas eng zugeht, wird die Anfang September bezogene Datscha als „wunderbar“ und „gemütlich“ geschildert. Da Gorki praktisch keine Fremdsprachenkenntnisse hat, ist er für seine Korrespondenz mit Stefan Andres und Romain Rolland auf die Übersetzung durch Moura Gudberg angewiesen. So erklärt es sich, dass offenbar kein freundlich-nachbarschaftlicher Kontakt zu den Einheimischen zustande gekommen ist. Lediglich der in St. Petersburg gebürtige Gründer und langjährige Leiter des Russischen Chors der Universität Alexander Kresling verbringt nach seinen Erinnerungen im Herbst 1923 fast jeden Abend mit Gorki. Es geht dabei auch um russische Volkslieder, und Gorki bringt es zur Verblüffung seines Gasts fertig, auswendig sämtliche Stimmen eines Hochzeitslieds vorzusingen.
Ein weiterer russischer Emigrant, der Philosoph Fedor Stepun, wohnte damals ganz in der Nähe (im Weilersbacher Weg) als Gast des Philosophieprofessors Jonas Cohn. Gorki erwähnt den Landsmann in seinen Briefen lediglich mit einer kurzen Notiz. Stepun seinerseits hatte seine Vorbehalte gegenüber dem Werk des Dichters, außerdem hatte er in den Jahren der Revolution dem Flügel um Kerenski, also einem Gegner Lenins angehört – kein Wunder also, dass die beiden sich anscheinend auch in Günterstal nicht näherkamen. Dafür hat Gorki häufig andere russische Gäste, der Hausherr lässt es sich nicht nehmen, selber am Herd für sie heimische Gerichte zu kochen, wie der amerikanische Journalist Barrett H. Clark berichtet, der ihn im September 1923 besucht hat. Gorki erwägt zu diesem Zeitpunkt, seinen Roman „Die Mutter“ verfilmen zu lassen, Clark könnte vielleicht dabei behilflich sein, den Film in Amerika zu verkaufen.

Mit Herbstbeginn verdüstert sich die Situation in Deutschland für den Emigranten. Dass einer seiner Kater vom Nachbarsohn erschossen wurde, ist für Gorki ein Zeichen der zunehmenden Gewaltbereitschaft in Deutschland; die politische Radikalisierung erinnert ihn an die Oktoberrevolution. „Überall um uns herum, angefangen in Freiburg, können es die Deutschen kaum erwarten, mit der Revolution zu beginnen (…) In Freiburg und den benachbarten Städten wurde der Ausnahmezustand erklärt“; „das Leben hier fängt an unruhig zu werden (mir allzu bekannt) und nimmt mir sehr bekannte (russische) Züge an: Arbeiter (auf deren Fahnen der Sowjetstern prangt) und Bauern werfen (in Lörrach) Granaten auf die Polizisten, die Polizei schießt zurück. Gestern war in Freiburg eine Versammlung, es haben sich zwanzigtausend Menschen versammelt und es wurde ein Generalstreik ausgerufen.“

Während in Lörrach ein Demonstrant von der Polizei erschossen wird, geht es in Freiburg zwar auch turbulent, aber harmloser zu. Gorki berichtet: „Neulich hat die Menge in Freiburg bei einer großen Versammlung einem Polizisten in Zivil eine Tracht Prügel verabreicht, danach hat man seine Wunden versorgt und ihn zur Polizeiwache begleitet. In Russland hätte man ihn wahrscheinlich umgebracht, keinesfalls hätte man ihm jedoch seine Wunden verpflastert, sehr wahrscheinlich hätte man sie ihm noch mit Salz eingerieben.“ Im Oktober 1923 hat sich die Lage in Freiburg wieder beruhigt, und Gorki schildert nochmals eine Idylle: „Wir ( ich und Maxim) haben unseren deutschen Wirtsleuten den verwilderten Garten in Ordnung gebracht, gejätet und umgegraben. Morgens schreibe ich, M.I. übersetzt, die anderen malen, das Leben ist ruhig und geregelt.“

Aber Gorkis Klagen über die Teuerung häufen sich – die Inflation steht auf ihrem Höhepunkt –, und im November beschließt er unter dem Eindruck der wirtschaftlichen und politischen Instabilität, Freiburg zu verlassen. In einem seiner letzten Briefe (an Rolland) erwähnt er den ihm „widerwärtig erscheinenden politischen Konservativismus“ und „krankhaft aufgedunsenen Nationalismus“ der deutschen Intelligenz und führt als Beispiel den „bekannten Philosophen Husserl“ an, der in diesen Tagen äußerte, die ideale Staatsführung habe Deutschland in den 1848er Jahren gehabt, als „im Parlament ein halbes hundert Professoren saßen“.

Nach einem Zwischenaufenthalt in Marienbad und Prag erhält Gorki endlich das Visum für Italien; in Sorrent wird er in den nächsten Jahren die glücklichste Zeit seines Lebens genießen. Unterdessen vollzog sich ein tiefgreifender Wandel in seiner Einstellung gegenüber dem Sowjetstaat: Aus dem überaus kritischen Beobachter der Oktoberrevolution und der ersten Jahre der Sowjetrepublik wurde ein zunehmend enthusiastischer Parteigänger des Bolschewismus.  Als Gorki 1928 zunächst zeitweise, dann 1932 endgültig nach Russland zurückgekehrt war, machte sich Stalin seinen Gesinnungswandel zunutze, erhob ihn zu seinem Vorzeigedichter und überhäufte ihn mit Ehrungen bis hin zur Umbenennung seiner Geburtsstadt Nischni-Nowgorod in Gorki. Sein Referat über den „Sozialistischen Realismus“, das er 1934 als Präsident des sowjetischen Schriftstellerverbandes hielt, wurde von Swetlana Geier in ihren Sammelband „Puschkin zu Ehren“ aufgenommen; ihr zufolge hat es die Verurteilung und Verfolgung vieler Künstler in den nächsten Jahrzehnten legitimiert. Zum Schluss bewohnte Gorki eine luxuriöse Villa, in der er ständig vom Geheimdienst überwacht und von Besuchern abgeschottet wurde. Sein Sohn Maxim war 1934 vermutlich auf Befehl Stalins ermordet worden, und der Verdacht, dass auch Gorkis Tod zwei Jahre später von Stalin befohlen war, konnte nie völlig aus der Welt geschafft werden.

Der Freiburger Arzt Klaus Hockenjos, Mitglied der „Günterstäler Ortsbild Initiative“, wurde durch die bislang nur spärlichen Informationen über den Freiburger Aufenthalt Gorkis zu weiteren Recherchen angeregt. Die Briefe Gorkis aus dieser Zeit, auf die Armin Knigge aus Kiel hinwies, wurden von Henriette Geringer und Irina Sazonova übersetzt. Weitere Informationen lieferten die Freiburger Slavisten Elisabeth Cheauré und Peter Drews.
28.12.2011, Dr. Klaus Hockenjos

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