Liveticker liefern Fast-Food-News

Bislang gehört der Liveticker zur Sport-Berichterstattung: Bei jedem Ereignis (Dribbling, Foul oder gar Tor des SC) ein Eintrag. Nun wird themenunabhängig gelivetickert, auch bei den größten Nachrichtenportalen Bild (mit Live) und Spiegel (mit Echtzeit). Die Zeit in Augenblicksfetzen zerstückeln und die Informationshappen schnell, kurz und witzig im Internet posten – Hauptsache leicht lesbar und mit Werbung garniert.

Das Performance-Prinzip des Livetickers ist im Sport angebracht: Alles ist auf den Augenblick fixiert, nur die Gegenwart zählt, jedes Fussballspiel und jeder Skimarathon entwickelt so seine eigene Dramaturgie. Auf den Tribünen dieser Welt sitzen Instant-Schreiber, die mindestens alle 3 Minuten live berichten, was passiert (und wenn nichts passiert, dann „Das Spiel plätschert so vor sich  hin“ posten). Wenn nun das Liveticker-Prinzip auf alle anderen Lebensbereiche ausgeweitet wird, dann heißt das: Alles was passiert ,wird als Ereignis bzw. Event ins Zeit-Schema des Livetickers gepresst. Die Zeit wird zum Gleichmacher von nicht vergleichbaren Ereignissen. Der Leser ist happy, da die Events im Minutentakt erscheinen, kurz und knapp und somit leicht bekömmlich lesbar – die Welt und Gegenwart in ihrer Komplexität bleibt außen vor. Keine umfangreichen Themen, Zusammenhänge und Artikel, keine jornalistisch mühsame Aufbereitung. Die Einordnung in Themenkreise, Gliederungen, Kategorien und Rubriken des Livegetickerten erfolgt, wenn überhaupt, über Links zu externen Seiten.

Timeline-Prinzip
Mit dem Liveticker werden alle Informationen im Internet primär nur noch zeitlich strukturiert sein – als Timeline (Stream, Echtzeitfluss): Jeder Eintrag ist mit Infotext und Zeitmarke versehen, die angibt, wann sekundengenau der Post auf die Seite gestellt wurde.

Wie die Timeline die Entwicklung der Webssites beeinflusst
(1) Die ersten Websites bzw. Homepages bestanden aus statische Seiten mit fester Gliederung. Bald wurden sie ergänzt durch eine „New“-Seite bzw. „Neue Einträge“-Seite.
(2) Dann kamen die Blogs mit der Zeit als Gliederungsprinzip: Der nächste Eintrag rangiert über dem bislang aktuellen Eintrag, also Neues oben und Altes unten. Ein Blog besteht somit im Grunde aus nur einen umfassenden „New“-Seite. Private Blogs sind zumeist auf spezielle Themen spezialisiert.
(3) Soziale Netzwerke wie Facebook erweitern die Timelin durch personifizierte Einträge und den Like-Button, um so im Web ein riesiges Beziehungsgeflecht aufzubauen.
(4) Auch Portale wie Twitter und YouTube werden von der Timeline geprägt: Ein Tweet ist kurz und zeitig. 
(5) Nachrichtenportale als Liveticker.
  
„Bald aber werden alle Informationen im Netz zeitlich strukturiert sein, dynamisch, immer im Fluss. Entscheidend wird in Zukunft nicht mehr sein, wo etwas steht, sondern wann etwas geschehen“, so der Yale-Professor David Gelernter.

Die Zeit jagt: Jeder Post ist der aktuellste, aber nur so lange, bis nach wenigen Sekunden oder Minuten über ihm der nächste Post erscheint. Da die Posts über das Smartphone auch mobil bzw. überall verfügbar sind, jagt uns die Zeit überall: Mails schon gecheckt? Like über meine Facebook-Seite? Wurde ich auf Youtube gelinkt? Neuer Tweet? Für das Hinterfragen und analysieren der News bleibt keine Zeit, da sie ja im Minutentakt veralten. Wir lassen uns in einen informationellen Geschwindigkeitsrausch versetzen, der nur noch Oberflächlichkeit duldet.

Fast-Food und Fast-Information
Essen in Eile, Essen in Hetze mit Fast-Food. Keine Zeit zu hinterfragen, was im fertiggericht wohl drin ist. Hauptsache, Farbe, Geschmack und Konsistenz stimmen. Keine Zeit zum Selberkochen, da keine Zeit zum Einkauf. Kein Einkaufen auf dem Bauernmarkt, da der Discounter es ja sowieso preiswerter und zudem bis 22 Uhr abends anbieten kann.
Der Liveticker auf dem Display des Smartphones versorgt mit den News – fast im Minutentakt, in kurz prägnanten Vierzeilen-Messages, locker witzig und leicht verständlich. Gut, fast und zeitnah informiert, aber – und das ist der große Haken – permanent über die gesamte Zeit des Tages hinweg. Straftäter werden zum Tragen einer elektronischen Fußfessel gezwungen. Die Fußfessel des livegetickerten Bürgers heißt „Smartphone mit Flatrate“.
  

Liveticker bestimmen die Zeit – nicht mehr die Journalisten
Früher prägten die Journalisten die Zeit: Mehrmals täglich frisch gedruckte Zeitungen, Nachrichten in Radio und Fernsehen. Wissensgesellschaft, sorgfälige Recherche zum komplexten Sachverhalten. Werden bald Timeline-Internetportale die Zeit prägen, die das Aktuelle zum Absoluten und Journalisten in seiner reflexiven Distanz überflüssig machen?

Dieser Beitrag wurde unter Medien abgelegt und mit , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar