Lesen Kulturtechnik im Internet

PC, Smartphone und Internet verändern die Kulturtechniken des Lesens und Schreiben ähnlich radikal wie zuletzt die Erfindung des Buchdrucks durch Johannes Gutenberg im Jahr 1450. Viele Menschen haben das Schreiben von Hand heute schon praktisch verloren, die Schriftkultur wird durch eine Bildkultur verdrängt. Möglicherweise verlernen wir das Schreiben – aber nicht das Lesen, das sich jedoch einschneidend verändern wird.
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(1) Wir lesen Texte elektronisch (digitalisiert auf PC, Tablet oder Smartphone) oder auf Papier (Zeitung, Zeitschrift, Buch). Das Buch boomt auch in 2013: 9 Mrd Umsatz der Buchbranche, 93.600 Neuerscheinungen bzw. 2,5 km hoher Buchstapel.

(2) Die US-Forscherin Maryanne Wolf unterscheidet zwei Arten des Lesens: Zeitaufwändiges, „tiefes Lesen“ setzt ein „geistiges, kognitives Räderwerk aus Aufmerksamkeit, Gedächtnis sowie visuellen, auditorischen und sprachlicher Prozessen in Gang“ einerseits und „informierendes Lesen“ andererseits, bei dem es um rasche Verarbeitung von möglichst viel Information geht.
„Tiefes Lesen“ geschieht über das Buch, wobei 95% Anteil von Print gegenüber nur 5% von E-Book besagt, dass wir im Buch doch lieber auf Papier „be-greifen“ als über ein elektronisches Lesegerät (wie Kindle) lesen. „Informatorisches Lesen“ geschieht im Internet über SMS, eMail, Chat, Blog, Facebook, Twitter, Whatsapp, …

(3) In den 1990er Jahren warnte die „Stiftung Lesen“ vor einem starken Rückgang des Lesens der Jugendlichen. Seit Harry Potter von J.K.Rowling ist dies widerlegt. Noch nie wurde in Deutschland so viel gelesen wie heutzutage.

(4) Erstmalig können wir nicht nur entscheiden, was wir lesen, sondern auch wie: Das Trägermedium für Geschichten ist Papier, für Chat und Nachschauen im Netz werden PC und Handy benutzt.

(5) Die Lesefähigkeit bildet die Grundlage für fast alle Schulfächer, auch Mathematik. Zum Ende von Klasse 6 hat sich das tägliche Lesepensum eines Schülers zu 2 Mio Wörtern summiert. Die beste Hilfe, die Eltern ihrem Kind angedeihen lassen können, ist die, es zum Lesen zu animieren.

(6) Das Lesen wurde schon häufig totgesagt – mit dem Aufkommen von Film, Fernsehen und Computer. Es wird auch das Internet überleben, denn Ziel des „tiefen Lesens“ ist nach Maryanne Wolf „über die Idee des Autors hinweg zu Gedanken zu gelangen, die zunehmend autonom, transformativ und letztlich unabhängig von dem geschriebenen Text sind“, kurz: Lesen bildet und fördert Kreativität.

(7) Neu ist, dass Bücher nicht nur über Verlage, sondern auch im digitalen Self-Publishing vom Autor selbst veröffentlicht werden können. Hier versuchen Verlage mitzumischen, z.B. über die Hanser-Box als eine E-Book-Reihe, die jede Woche eine Neuerscheiung online stellt.

(8) Die „Seite“ hat mehrer Ausprägungen: Papierseite, Seite im Kindle oder die Website. Letztere wird anders gelesen: Beim „Skimmen“ schöpft der Leser nur noch den Rahm ab, stets ungeduldig auf dem Sprung per Klick bzw. Link zur nächsten Seite.

(9) Der Computerlinguist Henning Lobin sieht drei Arten, wie „der Computer uns Lesen und Schreiben abnimmt“:
a) Das ursprünglich asoziale Lesen (im stillen Kämmerlein) weitet sich zu sozialem Lesen, bei dem wir teilen, was wir lesen, und wir lesen, was uns andere (mit-)geteilt haben. Kommentar, Rezension, like, …
b) Das Lesen wird multimedial: Text plus Video, Grafik, Bild, …
c) Das Lesen wird hybrid: Computer verwandelt Text in Bit-Folge und dann in lesbaren Text zurück, kann also ohne Maschine nicht mehr gelesen werden. Wir sind beim lesen auf Computer und Digitalisierung angewiesen.
d) Lesen nicht mehr nur linear (Seite 1, 2, 3, …), sondern in beliebiger Reihenfolge – Hypertext.

(10) Wenn wir nur noch lesen, was geliked, empfohlen bzw. geteilt wird, nehmen wir nur noch auf, was die eigene Meinung bestätigt. Wir werden zum geistig engen Wiederkäuer. Aber Lesen muß über das Bestätigen hinausgehen hin zu Unvermutetem, Überraschendem, Neuem, Provozierendem und Fremdem. Lesen muß autonom erfolgen, entdeckt werden können und zufällig möglich sein. Also Papa und Opa: Nimm die Tochter bzw. den Enkelsohn in den Buchladen am Ort mit, damit sie/er selbst stöbern kann.

(11) Die Informationsgiganten Google, Amazon, Facebook, … wollen uns beim Lesen ausspionieren und alles über uns wissen, wobei wir gleichzeitig nichts über sie (bzw. ihre Algorithmen) wissen dürfen. Unser Lesen darf nicht eingehen „in eine Matrix aus Beobachtungen, Überwachungen, Vorhersagen, Bewertungen, Verführungen und Ermahnungen.“, so Christoph Kucklick in seinem Buch „Die granulare Gesellschaft“.

(12) Amazon contra Buchhandlungen: Amazon will den Buchmarkt monopolisieren und damit das Lesen kontrollieren und selbst vermarkten. Dabei geht es beim Buch nicht einfach um eine x-beliebige Ware, sondern um das kostbarste Bildungs- und Kulturgut schlechthin. Dass die stationäre Buchhandlung vorort den gleichen Service bieten kann wie Amazon, nur besser (bestelltes Buch tagsdrauf mit dem Fahrrad vorbeibringen), dies gilt es zu vermitteln. „In“ und „hipp“ gilt nicht für die Arbeitsbedingungen der Amazon-Mitarbeiter.

(13) Wir lesen immer schneller und immer mehr, fühlen uns überflutet und gehetzt von der Informationsflut. Da kommt es auf das Zeitmanagement an: Den Anteil am „informierenden Lesen“ – siehe (2) – von Gebrauchstexten begrenzen, um Zeit für das „tiefe Lesen“ zu behalten, also für die konzentrierte Lektüre. Die lange Argumentationskette von Kant’s „Kritik der reinen Vernunft“ muß auch von der nächsten Generation selbst und selbständig (also nicht digital aufbereitet) gelesen werden können. Andernfalls wird die Aufklärung umsonst gewesen sein.

Henning Lobin: Engelbarts Traum, Campus Verlag Frankfurt, 282 S., 22,90 Euro
Christoph Kucklick: Die granulare Gesellschaft, Ullstein, 272 S., 14,99 Euro.
Maryanne Wolf: Das lesende Gehirn, Spektrum Verlag
https://shop.buchhandlung-christiansen.de/
Hauke Goos und Claudia Voigt: Lesen und lesen lassen, Spiegel 50/2014 vom 8.12.2014, S. 64-72

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