Kirchenglaube – Volksglaube

Der Einfluß der Kirchen schwindet stetig. Weniger als 25% der Westdeutschen geht einmal im Monat in die Kirche und im Osten sind es nur 12%. Historiker erklären den Niedergang damit, dass der Kirchenglaube zu kompliziert, zu bürokratisch bzw. zu wenig anschaulich ist und deshalb nur von Theologie-Experten verstanden werden kann. Nichts neues, denn dies war auch schon im Mittelalter so, mit dem verordneten Christentum konnten nur der Adelsstand und die wenigen Bildungsbürger etwas anfangen. Das Christentum mit so komplizierten Begriffen wie Dreifaltigkeit, Jungfrauengeburt, Gott ohne Gestalt, Abendmahl und Sakrament ist unbegreiflich. Und da es so komplex ist, lässt es sich nur auf langweilige Art vermitteln – erlebnisarm und wenige anschaulich. Nach dem US-Psychologen Justin Barrett führen Gläubige deshalb ein Doppelleben: Einerseits akzeptieren sie die theologisch  korrekten, abstrakten Glaubenswahrheiten. Andererseits aber machen sie sich ihr individuelles, menschennahes Gottesbild selbst und bedienen sich dabei der vielen Symbole, die Volksglaube, Aberglaube, Leuteglauben, Alltagsmagie, Rituale bieten. Das ist die „Tragik der Theologen“, sagt der franz. Religionsforscher Pascal Boyer: Was auch immer sich die klugen Theologen an Glaubenswahrheiten ausdenken, die Leute beten es zwar willig nach, verinnerlichen es sich aber nicht. Sie bleiben lieber beim anschaulich Greifbaren bzw. magisch Übersinnlichen . Dabei unterstützt sie die kath. Kirche weit mehr als die ev. Kirche mit Pilgerwallfahrten, malerischen Prozessionen, Marienkult, Heiligenverehrung, Nothelferritualen, Ablasshandel, Grotten, …
Wer behauptet, die Menschen hätten sich in ihrem ständigen Online-Sein per Smartphone  geändert, irrt:
– 38% glauben, dass es Engel gibt
– Über 50 % der Deutschen glauben an Wunder
– 54% der Westdeutschen glauben, dass Gott existiert (2008: 52%)
– 23% der Ostdeutschen glauben, dass Gott existiert (2008: 12%)
– 24% glauben an die Wiedergeburt.
– Neun von zehn Deutschen glauben spüren können, wenn jemand sie von hinten anstarrt.
– 82% der Deutschen halten etwas oder viel von magischen Zauberkügelchen und Bachblüten.
– Erwachsene weigern sich, ein Foto des Ehepartners zu zerschneiden, da sie damit befürchten,
per magischer Fernwirkung ihre Ehe zu gefährden.
– Überzeugte Atheisten kommen ins Schwitzen, wenn sie über Gott lästern sollen.

Weil die Theologie zu komplex ist, muß sie der Laienschaft ständig eingepaukt werden. Die großen Religionen geben sich notgedrungen autoritär und haben dafür Rituale geschaffen: Formelhafte Bekenntnisse, genormte Liturgie, wortreiche Predigten. Der britische Anthropologie Harvey Whitehouse spricht von der „doktrinären Methode“. Aber viele Studien zeigen, dass maximal 10% der Gottesdienstbesucher imstande sind, die Kernpunkte einer Predigt wiederzugeben, die anderen 90% genossen die Predigt als Zeit zum Innehalten, Abschalten oder Nachdenken.
Als Gegenstück zum Doktrinären bieten spektakuläre und bildstarke Rituale einmalige und unvergessliche Erlebnisse: Initiationsriten, Opferfeste, Tamtam, Wallfahrten, Jakobswege.

Die Kirche hat sich gewandelt. Sie hat immer weniger mit dem religiösen Erleben der Menschen zu tun. Auch die gar nicht Bildungsfernen wollen sich nicht mit den aktuellen theologischen Grundfragen beschäftigen – schon allein aus Zeitgründen: Wer hat schon die Muße, sich mit Eugen Drewermann’s Rausschmiß aus der kath. Kirche auseinanderzusetzen  (da lässt sich viel lernen übers Christentum) oder eines der 60 Bücher des Welt-Ethikers Hans Küng zu lesen (da lässt sich viel lernen über die religionen dieser Welt)? Die Kirche ist mutiert zu einem Dienstleister für die rituelle Betreuung der großen Lebenswendepunkte Taufe (am Schwarzwaldbach in einem Zuber mit echtem Jordan-Wasser), Hochzeit (incl. 60-min-DVD) und Beerdigung (Ruhewald im Nationalpark Oberengadin).

Dass Volksglaube und Glaube an magisch Übersinnliches im Zweifel stärker ist als Theologie, dies gilt für alle Religionen: Sogar im Buddhismus, der doch ganz ohne einen Gott auskommt, beten viele Buddhisten ungeniert ihren eigenen Buddha vorort an. Genauso wie die viele Christen, die bei Problemen und Anliegen hoch in den Schwarzwald zum Balzer Herrgott zwischen der Wilden Gutach und Gütenbach pilgern.

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