Jude sein – Israeli sein

Shlomo Sand, Historiker an der Universität von Tel Aviv, hat mit „Warum ich aufhöre, Jude zu sein“ keine wissenschaftliche Schrift, sondern ein Essay bzw. eine Diatribe geschrieben. Anhand persönlicher Erfahrungen sucht er Antworten auf die wichtigen Fragen: Was genau bedeutet »jüdische Identität« und worauf gründet sie?
Wann bin ich Jude – wenn ich mich selbst als solcher verstehe oder wenn ich so bezeichnet werde?
Gibt es eine säkulare jüdische Kultur, die all jenen gemeinsam ist, die sich als Juden betrachten?
Was ist der Unterschied zwischen einem Israeli und einem Juden? 
Wie kann Israel demokratisch sein, wenn es nicht seinen Staatsbürgern, sondern den Juden der Welt gehört?
Was bedeutet es, in diesem Staat »Jude« zu sein, und was empfinden jene, die es nicht sind bzw. nicht sein dürfen?     
Sand hinterfragt als Atheist seine vermeintliche Identität als „säkularer Jude“ und kommt zu dem Schluß, dass es übehaupt keine säkular-jüdische Identität gibt. Denn „säkulare Juden“ haben für Sand keine Gemeinsamkeiten, die sie als „jüdisch“ auszeichnen: sie schreiben keine jüdischen Romane (wie Franz Kafka oder Philip Roth), drehen keine jüdischen Filme (wie Stanley Kubrick), singen keine jüdischen Chansons (wie Serge Gainsbourg). Sie alle werden nur geeint durch ihre Herkunft und Sand sieht keine Aussicht „auf irgendeine gemeinsame Zukunft“ (Seite 41). Sand beklagt Ethnozentriertheit, Tribalismus, Besatzung und Rassismus in Israel. Er fordert einer Änderung der „antirepublikanischen Identitätspolitik“ des Staates Israel.
      
Shlomo Sand hebt die folgenden drei Punkte der Kritik besonders hervor:
(1) Jude ist, wer eine jüdische Mutter hat oder gemäß den religiösen Gesetzen konvertiert ist
Sand schildert die Absurdität dieser Regelung an seinem eigenen Fall. Er wurde als Kind polnisch-jüdischer Eltern, die dem Holocaust entkommen waren, in einem Lager für DP’s (Displaced Persons) 1946 in Linz (Österreich) geboren. Er ist nach dem israelischen Gesetz Jude, weil seine Mutter ihre jüdische Abstammung nachweisen konnte. Wäre nun sein Vater Jude und die Mutter Nicht-Jüdin, hätten die israelischen Behörden in seinen Pass bei der Nationalität „Österreich“ eingetragen. Zwar hätte er die israelische Staatsbürgerschaft bekommen, hätte aber sein Leben lang als Angehöriger des österreichischen Volkes gegolten. Jude in Israel sein – so Sand – bedeutet einem Stamm, einem auserwählten Ethnos (altgriechisch: das Volk) anzugehören, einem geschlossenen Club von Privilegierten. Im Reisepaß eines Palästinensers, der israelischer Staatsbürger ist, ist „Araber“ eingetragen. „Auf dieses unabänderliche Identifizierungsetikett haben sie keinen Einfluss. Was gäbe es für einen Aufruhr, wenn die Behörden in Frankreich, in den Vereinigten Staaten, in Italien, in Deutschland oder in einer anderen liberalen Demokratie bei denjenigen, die sich als „Juden“ bezeichnen, diese Selbstdefinition in den Personalausweis oder in das staatliche Bevölkerungsregister einintrügen.“
Sand bekennt sich zu seiner israelischen Staatsbürgerschaft (er nennt das „Israelisch-Sein“), nicht aber zur säkularen jüdischen Identität, denn „Betrug, Unaufrichtigkeit und Überheblichkeit prägen sämtliche Aspekte der Definition von Jüdisch-Sein im Staat Israel.“ Sand sieht Israel weniger durch einen äußeren Feind als von innen her bedroht, weil es „einen direkten Zusammenhang zwischen dem Verständnis der Juden als ‚Ethnie‘ und als unvergänglichem Rassenvolk einerseits und der Politik Israels andererseits gibt, die der Staat gegenüber Bürgern, die nicht als Juden gelten, gegenüber den geplagten Arbeitsimmigranten aus fernen Ländern und natürlich gegenüber seinen rechtlosen Nachbarn, die seit 50 Jahren unter israelischer Besatzung leben, verfolgt.“
    
(2) Die ungerechte Konstruktion des israelischen Staates 
Der Staat definiert sich nicht als israelisch, sondern als „jüdisch“, was bedeutet, dass 20 Prozent der Bürger (Palästinenser und Drusen) nicht zum Kreis der Bürger dieses Staates gehören. Sand zählt ausführlich all die bekannten Privilegien auf, die in Israel nur Juden vorbehalten sind – im Gegensatz zu den Nicht-Juden, „denen neben den Bürgerrechten auch die Ausübung der eigenen Souveränität versagt bleibt. Als Jude kann man nicht nur auf Grund und Boden siedeln, der einem nicht gehört, sondern darf auch auf Umgehungsstraßen durch Judäa und Samaria fahren, während sich die lokale Bevölkerung in ihrer Heimat nicht frei bewegen darf. Als Jude wirst du, Gott bewahre, nicht an Checkpoints angehalten, du hast keine Folter zu erdulden, niemand dringt mitten in der Nacht in dein Haus ein, um eine Durchsuchung vorzunehmen, man schießt nicht versehentlich auf dich und zerstört auch nicht dein Haus. Nein, denn all diese Maßnahmen, die schon seit knapp fünfzig Jahren angewandt werden, richten sich allein gegen Araber.“
Und Sand folgert für sich selbst aus diesen täglichen Realitäten in Israel und den besetzten Gebieten: „Wie kann ein Mensch, der nicht religiös ist, sondern einfach Humanist, Demokrat oder Liberaler, und nur einen Funken Rechtschaffenheit besitzt, sich unter diesen Umständen weiterhin als Jude bezeichnen? Kann sich ein Nachkomme von Verfolgten unter diesen Bedingungen zum Stamm der neuen säkularen Juden zählen, die Israel als ihren alleinigen Besitz betrachten? Schließt man sich durch die Selbstdefinition als Jude im Staat Israel denn nicht eigentlich einer privilegierten Kaste an, die unerträgliche Ungerechtigkeiten begeht?“
  
(3) Erinnerungspolitik Israels in Bezug auf den Holocaust
Sand beklagt den Aufbau einer Holocaust-Industrie: „Diese war darauf aus, das Leiden der Vergangenheit zu maximieren und aus ihm so viel politisches Prestige und sogar wirtschaftliches Kapital zu schlagen wie nur möglich.“ Sand warnt von den Gefahren, die ein solcher Kult um die Shoah in sich birgt: „Wenn die Zionisten und ihre Sympathisanten aber die Erinnerung an die Tragödie in eine Zivilreligion mit Wallfahrten zu den rekonstruierten Schauplätzen der Vernichtung verwandeln und so der ‚jüdischen‘ Generation von morgen die dazugehörige Paranoia einimpfen, sollte man innehalten und sich Folgendes klarmachen: Eine Identität, die auf der kontinuierlichen Mobilisierung eines Traumas beruht, ist in der Regel pervertiert und potentiell gefährlich sowohl für seine Träger als auch für Menschen in ihrer Umgebung. Obwohl Israel die einzige Atommacht im Nahen Osten ist, schürt es dennoch beständig die Angst seiner Unterstützer im Ausland, indem es die Bedrohung durch eine weitere Shoah an die Wand malt – höchstwahrscheinlich ein gutes Rezept für zukünftige Katastrophen.“
   
Shlomo Sand fordert die Einführung einer an der Staatsbürgerschaft orientierten israelischen Nationalität anstelle der jüdischen Nationalität. Er setzt sich ein für eine offene, demokratische Gesellschaft, die den Palästinensern als gleichberechtigten Mitbürgern die Hand reicht.
28.12.2013
  
Gejammer einer Hassliebe
Shlomo Sand versucht, sich von seiner jüdischen Identität zu lösen, indem er sie für »imaginär« erklärt … So liest sich Warum ich aufhöre, Jude zu sein, dem Titel zum Trotz, weniger wie eine Abschiedserklärung, sondern wie das Gejammer eines in eine symbiotische Hassliebe Verstrickten.
Alles vom 31.10.2013 bitte lesen auf https://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/17424 
  
Argumentiert man in Deutschland wie Shlomo Sand, gilt man als Antisemit?
Gäbe es die brutale und völkerrechtswidrige Besatzungspolitik nicht, man müsste Sympathie haben für dieses Land – allein schon wegen seiner kritischen Intellektuellen. Man kann dieses komplexe und schwierige Gebilde Israel erst verstehen, wenn man die Bücher und Aufsätze seiner besten oppositionellen Köpfe gelesen hat. Um nur ein paar Namen zu nennen: Uri Avnery, Abraham Burg, Akiva Eldar, Simcha Flapan, Amira Hass, Jeff Halper, Jeshajahu Leibowitz, Gideon Levy, Reuven Moskovitz, Ilan Pappe, Tom Segev, Israel Shahak, Idith Zertal, Moshe Zuckermann und eben Shlomo Sand, wobei diese Liste bei weitem nicht vollständig ist. Die Ausführungen dieser intelligenten und human gesinnten Aufklärer haben mein Israel-Bild geprägt, das natürlich ein Gegenentwurf zum zionistischen Mainstream ist. Die Krux ist nur: Argumentiert man in Deutschland mit Darlegungen dieser Intellektuellen, dann steht man als „Antisemit“ dar, wird gleich mit Nazi-Schergen in einen Topf geworfen. Allein an diesem Tatbestand zeigt sich, wie absurd, um nicht zu sagen pervers, die gegenwärtige Diskussion um Israel und den Nahen Osten ist …
Alles von Arn Strohmeyer vom 15.11.2013 bitte lesen auf
https://www.palaestina-portal.eu/Stimmen_deutsch/strohmeyer_arn_%20Ich%20steige%20aus%20dem%20Judentums%20aus.htm
   
Shlomo Sand:
Warum ich aufhöre- Jude zu sein – Ein israelischer Standpunkt
ISBN 978-3-549-07449-7
www.propylaeen-verlag.de , 2013, 156 S., 19.95 Euro

 

Dieser Beitrag wurde unter Buchhandel, Global abgelegt und mit , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar