Globale Probleme und Verstand

Individuelle Probleme, die uns a) jetzt konkret, b) sichtbar und c) plötzlich betreffen, sind uns wichtiger als die großen Probleme, die sie verursachen. Der dreiwöchige Kita-Streik in 2015 ist dringlicher als der Klimawandel. Aber jenseits der persönlichen Betroffenheit: Sind die großen globalen Probleme, die unsere Zukunft bestimmen, nicht überhaupt zu kompliziert für den menschlichen Verstand?
a) Wenn eine Roma-Familie nach Asyl-Ablehnungsbescheid und jahrelangem Hinauszögern zur Abschiebung abgeholt wird, dann ist die Anteilnahme riesig – Bilder mit weinenden Kindern gehen ans Herz und lassen die Proteste bis hin zur Online-Petition anschwellen. Das zugrundeliegende globale Problem, dass die EU an Rumänien Jahr für Jahr viele Mio Euro bezahlt, die aber statt bei den Roma in der Korruption ankommen, ignorieren die Gutmenschen einfach. Diejenigen, die auf dem ev. Kirchentag in Stuttgart fordern, allen UMFs (unbegleiteten jungen männlichen Flüchtlinge) aus Afrika ein bedingungsloses Aufenthaltsrecht zu geben, essen abends preiswert Hähnchenbrust und -schlegel, wohl wissend, dass die Hähnchenflügel und -innereien in Ghana zu Dumpingpreisen den Markt übeschwemmen und die einheimischen Klein-Geflügelbauern kaputt gemacht haben. Das zugrundeliegende globale Problem wird von den Protestanten ignoriert.
b) CO2 riecht man nicht, wird deshalb auch nicht als bedrohlich empfunden. Feinstaub ist unsichtbar, die dauernde Überschreitung der Grenzwerte oder das Überhaupt-Nicht-Messen z.B. an der B31 durch Freiburg hindurch läßt uns kalt. Die nahende Klima-Erwärmung verdrängen wir.
c) Plötzlich eintretende, lokale Katastrophen wie Tsunami und Erdbeben rütteln auf und machen uns regelmäßig zu Spendenweltmeistern.
Die großen Probleme kann man nicht anfassen, vollziehen sich in Zeitlupe, verursachen kein Desaster, haben keine eindeutigen Opfer (nur viele Täter). Greenpeace-Veteran Wolfgan Lohbeck wollte mit seinem zum Smile umgebauten Renault Twingo „Este Hilfe fürs Klima: Gleiche Leistung – halber Verbrauch“ aufrütteln und scheiterte kläglich. „Das Klima ist nicht kampagnenfähig“ resignierte er, der Klimawandel verschließt sich dem Herzen und Gefühl, nur der Verstand könnte ihn begreifen, aber der tut sich schwer. In der Klimadebatte ist seit dem Club-of-Rome-Bericht von den „Grenzen des Wachstums“ die Rede, aber wahrscheinlich handelt es sich um ein Problem der „Grenzen des Verstandes“ bzw. der Endlichkeit des menschlichen Versandes. „Vielleicht ist das menschliche Gehirn zu klein, der Klimawandel zu groß, um diese komplexe Sache zu verstehen“ – so der Umweltpsychologieprofessor Andreas Ernst von der Uni Kassel („Klimawandel – Morgen vielleicht – Unser Gehirn ist nicht mitgewachsen“, DIE ZEIT vom 3.6.2015, S. 15-17).
Im Herbst 2015 steht die 21. Weltklimafonferenz an, in Paris, dann wird wieder gegen unsere „Grenzen des Verstandes“ angekämpft. Vielleicht hat bis dahin die Divestment-Bewegung gewirkt: Das Abziehen von Geld. Konzerne brauchen Geld bzw. Kapital, das sie von den Anlegern erhalten. Also hört auf, solche Aktien und Anleigen zu kaufen, und Kohle, Gas und Öl bleiben in der Erde. Man muß nicht allem Komfort entsagen, es hilft schon, auf etwas Rendite zu verzichten. Es hilft schon, wenn das Geld icht mehr dorthin fließt, wo es die höchste rendite erzielt, sondern auch dorthin, wo es den geringsten Schaden anrichtet. Diese Vision der Divestment-Bewegung beginnt zu wirken: Der norwegische Staatsfonds hat sein Geld aus Öl–, Gas- und Kohlekonzernen abgezogen, wie auch die Städte Seattle, San Franzisko, Brisbande, Oxford.
8.6.2015

https://gofossilfree.org/de/was-ist-divestment/

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