Ost-West

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Sonnenuntergang in Freiburg am 26. August 2020 um 21.20 Uhr

 

 

Die EU mit Deutschland schießen sich auf Polen ein
Polen versus Deutschland. Wieder wird zurückgeschossen wie am 1.9.39, nur anders. Diesen Eindruck konnte man gewinnen beim Anschauen der Fernsehnachrichten dieser Woche und beim Aufschlagen der Zeitung. „Vertragsverletzung, Schlagabtausch, Sanktionen, Ächtung …“ beherrschen die Schlagzeilen und das nur, weil Polen sich vorbehält, sich von Brüssel und Straßburg nicht vollends auf der Nase herumtanzen zu lassen, und in der Justiz unabhängig bleiben will.

Die Visegrad-Staaten sind den Westeuropäern schon lange ein Dorn im Auge, Ungarn im Allgemeinen und jetzt Polen im Besonderen. Unisono beschuldigen die deutsche Kommissionspräsidentin v.d.L., der bayrische Berufseuropäer Manfred Weber und fast alle Medien-Kommentatoren und deren weibliche Spezies die Polen, „Europa in eine Krise zu stürzen“. Alle deutschen Parteien im Europaparlament außer der AfD forderten am Dienstag einen harten Kurs gegen die polnische Regierung und attackierten Morawiecki. „Hart wie Kruppstahl“? Sind die Polen so stark, dass sie Europa in eine Krise stürzen könnten?

Was hat Polen verbrochen? Es möchte seine Gerichtsbarkeit behalten und sein Rechtssystem nicht auch noch der EU opfern. Müssten sie das denn? Nein, müssen sie nicht. Entgegen anderslautender Behauptungen ist ein Vorrang des EU-Rechts in den Verträgen nicht manifestiert. Die Doktrin, dass EU-Recht nationales Recht breche, ist zum Erbrechen. Sie beruht nur auf einem einzigen EuGH-Urteil aus dem Jahr 1964. Seither glaubt man daran, dass dies für alles und alle gelte. Aber ist es für Europa elementar, ob es in Polen ein paar Geschlechter weniger gibt? Für bestimmte Sachbereiche ist das einheitliche Recht tatsächlich geboten.

Im Arbeitsrecht besteht diese Rechtshierarchie. Ich nenne das Beispiel, weil ich als Ex-Landesarbeitsrichter damit vertraut bin. Über allem Arbeitsrecht steht EU-Recht mit seinen EU-Richtlinien. Darunter das Grundgesetz, die Bundesgesetze und Tarifverträge in einem Konkurrenzverhältnis (Günstigkeitsprinzip), Landesgesetze, Verordnungen und nachgeordnete Rechtsnormen. Aber diese Systematik ist dem Postulat des freien Verkehrs von Waren, Dienstleistungen, Arbeit und Kapital geschuldet. Diesbezüglich sollen einheitliche Normen gelten, um Wettbewerbsverzerrungen zwischen den Mitgliedsländern weitgehend zu vermeiden. Trotzdem gab es nach arbeitsrechtlichen Vorlagebeschlüssen schon Zoff zwischen dem EuGH und dem BVerfG.

Auch das Bundesverfassungsgericht sagte einmal, dass es selbst das letzte Wort habe und nicht der EuGH. Im Mai 2020 ging es um das Anleihekaufprogramm der EZB. Und siehe da: Unsere Verfassungsrichter erklärten den Eurozauber der EZB und auch das Urteil des EuGH als nicht vereinbar mit dem deutschen Grundgesetz. Letztes Jahr gab es über die Kompetenz der einen und anderen Robenträger einen Gelehrtenstreit. Aber traute sich jemand, Deutschland dermaßen ans Bein zu pinkeln wie man das jetzt mit Polen tut?

Das höchste Gericht müsse politikfrei sein, fordert man von den Polen. Aber ist unser Verfassungsgericht politikfrei? Nein, ist es nicht, darüber gibt es sogar Streit.
https://www.tagesspiegel.de/politik/besetzung-des-bundesverfassungsgerichts-parteien-streiten-um-vorschlagsrecht-fuer-verfassungsrichter/21077312.html
Auch in Deutschland besteht keine politikfreie Gerichtsbarkeit, dafür aber weit mehr „rechtsfreie Räume“, wenn man unsere laxe Kriminalitätsverfolgung mit Nachbarländern vergleicht.

Auch in anderen Ländern Europas gibt es Vorbehalte gegen den Absolutheitsanspruch der EU. Hier in alphabetischer Reihenfolge: Auch Gerichte in Belgien, Deutschland, Dänemark, Estland, Frankreich, Irland, Italien, Kroatien, Lettland, Polen, Spanien und der Tschechei tun sich schwer mit den europäischen Machtzentren Brüssel (EU-Institutionen), Frankfurt (EZB), Luxemburg (EuGH) und Straßburg (Parlament). Aber mit unseren östlichen Nachbarn scheint man alles machen zu können. Im privaten Bereich würde man das Mobbing oder Bashing nennen.

Vielleicht sollten unsere Scharfmacher einmal einen Blick zurückwerfen und den Polen dankbar sein. Deren Vorfahren waren es, die unser Europa im Jahre 1683 vor dem Ansturm der Türken gerettet haben. Und das war nicht das einzige Mal. Sie scheinen sich der außereuropäischen Gefahr eher bewusst zu sein als unsere Polit-Oberlehrer. Ohne die Polen würden unsere Politiker heute nicht ihren leidenschaftlichen Fehden frönen können.

Statt der EU hätten wir wahrscheinlich ein islamisches Europa und somit auch keine Richter in roten Roben und seltsamen Hüten. Die Scharia-Rechtsprechung (?) läge in der Hand eines islamischen Herrschers. Dieser würde sich vielleicht eine „Fatwa“ schreiben lassen, mit der die Polen geächtet würden. Aber noch herrscht er nicht, der zentralistisch-autoritäre grüne Islam. Das Trommelfeuer gegen Polen, Ungarn und andere durch die jetzigen EU-Machthaber ist eine Schande.

Wen es interessiert, die Morawiecki-Rede hier oder hier:
https://www.achgut.com/artikel/im_wortlaut_die_rede_des_polnischen_premiers_mateusz_morawiecki_vor_dem_eu_

Dieser Artikel erscheint auch auf der Webseite des Autors,
http://www.die-andere-sicht.de/

22.10.2021, Albrecht Künstle, Herbolzheim, a.kuenstle ät gmx.de

 

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Warum der Westen den Osten nicht versteht
Arroganz und Bockigkeit
Norbert Mappes-Niediek analysiert, warum das westliche Europa den Osten nicht versteht
Buchbesprechung von Thorsten Hinz

Ein Abgesandter aus dem Westen erschien im Osten und verkündete: „Ich bin nicht gekommen, um mich verwirren zu lassen, sondern um euch zu bessern.“ Die Angesprochenen waren empört und schimpften: Frechheit, Anmaßung, Überheblichkeit! Die Szene, die der Journalist und Osteuropa-Kenner Norbert Mappes-Niediek schildert, hat sich östlich der Elbe nach 1989 in unzähligen Variationen abgespielt. Auch der Rezensent erlebte vor 30 Jahren während einer Germanisten-Tagung in Bonn, daß auf dem Podium ein recht bekannter Literaturprofessor der Berliner Humboldt-Universität sich über die Abwicklung der Ost-Akademiker beklagte und ein Wessi dazwischenrief: „Sie werden nicht nur abgewickelt, sie werden entwickelt!“
Der Besser-Wessi jedoch, von dem Mappes-Niediek berichtet, hieß Humbert von Moyenmoutier. Er war ein hochgebildeter Benediktinermönch, den Papst Leo IX. 1054 zum Kaiser nach Konstantinopel mit dem Auftrag geschickt hatte, die Ostkirche auf Westkurs zu bringen. Er scheiterte am Patriarchen Kerullarios. Der war bereit zu einem Formelkompromiß. Als er jedoch begriff, daß sein Gegenüber die Unterwerfung verlangte, schalt er die Gäste aus Rom als „Gotteslästerer“ und „Teufelskinder“.

Die unterhaltsame Aufbereitung dieser mittelalterlichen Affäre steht exemplarisch für die dramaturgischen und erzählerischen Qualitäten des Buches. Der Autor schlägt mit leichter Hand den Bogen von der Alltagserfahrung zur großen Geschichte und wieder zurück. Er demonstriert, daß der europäische Himmel – „dieses ganze Gewölbe von Hoffnung und Sehnsucht, von Liebe und Trauer“ (Christa Wolf) – nicht erst seit den Jalta-Beschlüssen vom Februar 1945, sondern schon seit tausend Jahren geteilt ist. Die Theologen des Westens wollten dem Herrgott mit Rationalität und Logik beikommen, die östlichen hielten es mehr mit Mystik und Kontemplation, der Westen erhob Anspruch auf den Besitz einer alleingültigen Wahrheit, der Osten beharrte auf seiner Besonderheit. Das alte religiöse Schisma schreibt sich in säkularer Form bis heute fort. Was 1989/90 als die Wiedervereinigung Europas gefeiert und mit der EU-Osterweiterung scheinbar besiegelt wurde, beruhte daher zu einem guten Teil auf einem Mißverständnis. Der Autor will es beheben.

Der Westler, der „Osten“ sagt, verbindet damit in der Regel über die Himmelsrichtung hinaus die Vorstellung von Rückständigkeit, Armut, Stammesdenken und Autoritarismus. Doch wo beginnt der Osten überhaupt? Hinter der Elbe, der Oder oder hinter dem Bug? Die Völkerschaften, die auf diesen Territorien siedeln, haben ganz unterschiedliche Erfahrungen und Prägungen. Sind Böhmen oder Ungarn tatsächlich östlich? Kann man die Balten und die Serben in dieselbe Schublade stecken? In diesem Sinne könnte man beliebig fortfahren. Als Formelkompromiß bietet sich an: Der Osten liegt jedenfalls westlich des muslimischen Orients, wobei Rußland eine Sonderrolle einnimmt.

Der Westen will dem Osten seine Lebensweise aufdrängen
Deutschland wird eine „verspätete Nation“ genannt, weil die Deutschen später als die Westeuropäer in einem Nationalstaat zusammenfanden, der zudem viele Deutsche außen vor ließ. Ein Vergleich mit den kleinen Völkern des Ostens, die bis zum Ersten Weltkrieg meistenteils in Imperien – in der k.u.k. Monarchie, dem Zarenreich und unter den Osmanen – lebten, relativiert den deutschen Sonderfall. Laut Mappes-Niediek behaupteten sie sich, indem sie die Nation als eine erweiterte Familie verstanden, während in den modernen Nationalstaaten die Nation als erweiterte Nachbarschaft definiert wurde. Die Familie ist eine Gemeinschaft, die Nachbarschaft ist gesellschaftlich. Die Gemeinschaft regelt ihre Angelegenheiten informell, nach ungeschriebenen Gesetzen, die Gesellschaft pocht auf formalisiertes Recht.

Aus diesem tradierten Unterschied rühren viele der neuen Ost-West-Konflikte her. Der Autor nimmt die Positionen der beiden Konfliktparteien gleichermaßen ernst, anstatt – wie sonst üblich – die westliche als die einzig richtige vorauszusetzen. Er erläutert sie ausführlich am Umgang mit der Homosexualität. In den 1960er Jahren war es für schwule Paare leichter, in Warschau oder Budapest ein gemeinsames Hotelzimmer zu bekommen als in westlichen Hauptstädten. Die sogenannte Homophobie wurde hier erst zum Problem, als der sexuell revolutionierte Westen versuchte, dem Osten vermeintliche Errungenschaften wie die Schwulenehe als neue Normalität aufzudrängen und die stillschweigend geübte, innerfamiliäre Toleranz gesellschaftspolitisch und ideologisch zu überformen. Der Autor idealisiert diese Toleranz-Variante keineswegs, sondern stellt dar, daß sie die Korruption begünstigt.

Interessant ist seine Erklärung der Krim-Annexion: Rußland habe der wertebasierten Übergriffigkeit des Westens damit eine reziproke Antwort zuteil werden lassen. Sie sei als Reaktion auf die Abspaltung des Kosovo von Serbien konzipiert worden. Der Westen hatte damals argumentiert, mit dem Krieg hätten die Serben ihr Recht verspielt, das albanisch besiedelte Territorium weiter zu regieren. Die Russen verzichteten auf moralische Begründungen, ihnen genügte zur Legitimation eine Volksabstimmung.

Die Westeuropäer sind davon überzeugt, daß sie die armen Ost-Verwandten in der EU durchfüttern müssen. Die Osteuropäer sehen das anders. Sie verweisen auf die Profite, die westliche Konzerne aus den niedrigen Lohnkosten vor Ort ziehen, sowie auf die Abwanderung von Akademikern, insbesondere von Medizinern, wovon der Westen ebenfalls profitiert. Lettland hat seit 1990 gut 27 Prozent seiner Einwohner verloren. Ähnlich sieht es in Bulgarien aus, wo ein nochmaliger Aderlaß von 25 Prozent bis 2050 prognostiziert wird. Die Steuereinnahmen brechen ein, die schrumpfende Bevölkerung wird mit den Problemen allein gelassen. Mappes-Niediek sieht als Vorbild die USA, wo die reichen Staaten viel mehr zur Finanzierung der armen beitragen als in der Europäischen Union. Hier wäre einzuwenden, daß US-Bundesstaaten auch pleite gehen können, während in Europa die Staatsschulden schleichend vergemeinschaftet werden.

Aber vielleicht drängen sich schon bald ganz andere Fragen in den Vordergrund. Ethnisch und religiös aufgeladene Verteilungskämpfe in den westlichen Metropolen liegen längst im Bereich des Denkbaren. Manche Regionen Westeuropas werden dann für die angestammte Bevölkerung kaum noch lebenswert sein. Auch deshalb empfiehlt es sich, den Osten besser verstehen zu lernen. Mappes-Niediek bietet dafür einen guten Einstieg.
… Alles vom 2.7.2021 von Thorsten Hinz bitte lesen in der JF, 27/21, Seite 21
https://www.junge-freiheit.de
Norbert Mappes-Niediek:
Europas geteilter Himmel. Warum der Westen den Osten nicht versteht
Ch. Links Verlag, Berlin 2021, gebunden, 297 Seiten, 22 Euro