Franz Kafka 100 Jahre – kafkaesk

Vor 100 Jahren ist der Prager Dichter Franz Kafka (3.7. 1883 in Prag – 3.6.1924) in Kierling/Österreich gestorben. Obwohl er nur 41 Jahre alt wurde, gilt er als einer der wirkmächtigsten Autoren seiner Zeit. „Das Schloss“ von Frank Kafka und „Der Kleine Prinz“ von Antoine de Staint-Exupéry – diese beiden Dichtungen bezeichnet Eugen Drewermann in seinem Buch „Das Eigentliche ist unsichtbar“ als „wesentlich und kennzeichnend für das von verzehrenden Konflikten geschüttelte 20. Jahrhundert“ mit seinen zwei Seiten: Einerseits der brutalen Realität des Krieges und andererseits der andauernden Sehnsucht nach Liebe und damit Frieden.
„Das Schloss“ bietet „eine grausame Vision der Aussichtslosigkeit und Unentrinnbarkeit inmitten einer kalten, bürokratisch verwalteten, unbegreifbaren Welt“. Der „Kleine Prinz“ hingegen vermag „das Vertrauen in die unbedingte Treue der Liebe wiederherzustellen“, er verkörpert „eine Welt des Bemühens und der Verantwortung um- und füreinander“.
„Der Kleine Prinz“ von Antoine de Saint-Exupéry (20.4.2024).
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In seinen Dichtungen, insbesondere „Der Prozeß“ und „Das Schloss“, erschließt Franz Kafka die Totalität bürokratischer Allmacht, die im Deutschland seit spätestens 2015 wieder Einzug hält. Thorsten Hinz fasst dies so zusammen (1): „Es ist die Schwarmidiotie der postreligiösen, modernen Massengesellschaften, die, mit dem Vokabular der Aufklärung auf den Lippen, den Rückfall in archaische Muster erzwingt. Deshalb bleibt das Kafkaeske das Gegenwärtige.“
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„Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet“ – mit diesem Satz beginnt Franz Kafka den Roman „Der Prozeß“, in dem sein Protagonist Josef K. dem bürgerlichen Leben entrissen und in einem von Bürokratie und Willkür aufgeblähten Gerichtsverfahren weder sein Vergehen noch den Rechtsanspruch des Anklägers erfahren wird. Aus seinem bürgerlichen Gerechtigkeits- und Verantwortungsfühl heraus beginnt Josef K. eine qualvolle Selbstbefragung, nach eigenem Fehlverhalten, nach eigener Schuld. Ohne Ergebnis. Eine im Wortsinn kafkaeske Situation von Ohnmacht, Fremdbestimmung, Ausgeliefertsein und Ausweglosigkeit, die nichts an Aktualität eingebüßt hat: „In ihr fanden sich in den letzten Jahren viele wieder, die der aktuell beherrschenden Meinung nichts abgewinnen können. Angesichts eines neu auflebenden und von Regierungsseite propagierten Denunziantentums gilt Kafka’s Schlußfolgerung: „Einen solchen Prozeß haben, heißt ihn schon verloren haben“ auch heute noch“ (3). Dieses prophetische Diktum von Franz Kafka „Einen solchen Prozeß haben, heißt ihn schon verloren haben“ sollte man mehrmals lesen, denn es wird häufig so ausgelegt, daß Kafka in seinem Werk den nahenden Totalitarismus beschreibt.

„Kafkas Romane sind … zu Worten geronnene Alpträume, in denen … die Menschen, die uns weiterhelfen könnten, zu Marionetten degradiert sind. Und niemand weiß, wer an ihren Fäden zieht.“ (2) Macht man es sich nicht zu einfach, wenn man heutzutage all die, die nach den Fädenziehern fragen, als Verschwörungstheoretiker alias Querdenker abtut bzw. in die rechte Ecke stellt?

„Aus heutiger Perspektive stellen sich Fragen wie:
Hat sich der Rechtsstaat nicht zu einer Groteske deformiert, wenn allenthalben „gegen „Rechts“ demonstriert wird, zugleich aber die linksextreme Gewalt längst außer Kontrolle geraten ist?
Wenn Energieversorgung und Arbeitsplätze eines Landes zugunsten einer Ideologie zerstört werden – womöglich sogar unter Vortäuschung falscher Tatsachen?
Wenn gar zum Verbot einer demokratisch gewählten Partei aufgerufen wird – zugunsten „unserer“ Demokratie?“ (3)

Wer Kafka gelesen hat, insbesondere „Der Prozess“ oder „Das Schloss“, der vergißt diese Romane niemals in seinem Leben. Denn zu vieles ist geöffnet und zu wenig beantwortet – wodurch die Frage nach der Schuld bleibt. „Kafkas fiktive Welten sind doppelbödig, seine Hauptfiguren stets mit dem (Selbst-)Vorwurf der fehlenden Authentizität und eben jener unausgesprochenen, ja undefinierten Schuld behaftet. Der doppelte Boden in diesen Erzählungen und Romanen überdeckt tiefe Gruben voller böser Überraschungen“ (4)
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In den Werken eines Dichters spiegeln sich die Erfahrungen des Autors wider. Bei Franz Kafka ist es der dominierende und beherrschende Vater in einer Familie, in der er viel zu lange gewohnt hatte und aus der er sich nicht lösen konnte: „Nach eigener Aussage hatte Kafka keine „Vorstellung von Freiheit“, damit fehle ihm auch eine Richtung zur Entwicklung seiner Persönlichkeit. Sein Wunsch nach einem normalen Leben, nach Familie und dem Gefühl von Zugehörigkeit scheiterte immer wieder an seiner „Weltangst“: Angst vor dem Versagen, vor dem Verstoßen-Werden, vor einer undefinierbaren Schuld. “ (4)
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Dank Franz Kafka ist der Begriff der „kafkaesken Situation“ in den deutschen Sprachschatz eingewandert – und auch heute erlebbar. Jeder Bürger verfügt qua Geburt über die im Grundgesetz geschriebenen Grundrechte als Abwehrrechte gegenüber dem übergriffigen Staat. Hier einige Beispiele kafkaesker Situationen im Zusammenspiel Bürger – Staat:
– Ein Häuslebauer wurde zum Rückbau eines Anbaus verpflichtet. Nach dem die von der Behörde verlegte Akte wieder aufgetaucht ist, musste er den Wiederaufbau selbst finanzieren.
– Eine Tochter wird vom Gesundheitsamt im Jahr 2021 gezwungen, ihren Vater alleine sterben zu lassen. Ihre Einsprüche werden von den Behörden kostenpflichtig abgelehnt.
– Ein Arzt wird wegen des Ausstellens „falscher“ Corona-Impfatteste verurteilt, obwohl er damit – wie man heute weiß und damals wissen konnte, aber nicht wissen wollte – ganz im Sinne der Patientengesundheit bzw. des hippokratischen Eides gehandelt hatte.
– Wirtschaft und Bürger haben die EU-höchsten Strompreise zu bezahlen. Grund: Die Regierung verschrottet moderne Kernkraftwerke, um sodann gezwungen zu sein, Kohlekraftwerke zu aktivieren und Atomstrom aus Frankreich zu importieren.
– Oppositionsparteien werden behindert bzw. verboten, obwohl die Opposition konstitutionell notwendig ist für ein demokratisches System (FDGO).
– Das Diktum „You can have a welfare state or you can have open borders. But you can’t have both“ von Friedensnobelpreisträger Milton Friedman gilt seit 1976. Dennoch will die Regierung beides – und der Bürger vermag nichts dagegen zu tun.
– Der Parlamentarismus lebt vom Recht auf Meinungsfreiheit des mündigen Bürgers bzw. des „mündigen Bürgers in Uniform“ (so steht es im Handbuch der Inneren Führung der Bundeswehr von 1962). Gleichzeitig jedoch wird abweichende Meinung bzw. Kritik als „Delegitimierung des Staates“ bestraft.
31.5.2024
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Ende von Beitrag „Franz Kafka 100 Jahre – kafkaesk“
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Beginn von Anlagen (1) – (4)
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(1) Kafkas Aktualität – Wie der Dichter das Totalitäre bürokratischer Allmacht zeitlos erschloß
von Thorsten Hinz
Mit dem Adjektiv „kafkaesk“ ist der Name Franz Kafkas in vielen Sprachen in den alltäglichen Wortschatz eingegangen. Das Wort steht für die Erfahrung der Ohnmacht und der Fremdbestimmung, für das Gefühl, anonymen, unbezwing- und undurchschaubaren Mächten ausgeliefert zu sein. Kafkaeske Situationen spielen sich auf verschiedenen Ebenen ab, so auf der praktischen, der politischen, der metaphysischen Ebene.
„Kafkaesk!“, ruft der verzweifelte Bauherr, der den gerade fertiggestellten Carport auf seinem Grundstück abreißen mußte, weil er keine vollständige Baugenehmigung vorweisen konnte. Nicht aus eigenem Versäumnis, sondern weil einer der zahllosen Folgeanträge im Behörden-dschungel verschwunden gewesen war. Nun ist er wieder aufgetaucht und genehmigt worden, und der Rückbau darf auf eigene Kosten rückgängig gemacht werden. Der Ärmste sieht sich in den Fängen einer absurden, seelenlosen Mechanik, deren höchster Zweck darin besteht, sich die eigene Unabkömmlichkeit zu bestätigen. Und der Staat zieht über die Umsatzsteuer aus jeder Absurdität seinen Profit.
„Kafkaesk!“, schimpfte der Fahrgast in der Zeit des Lockdowns, dem der Zugschaffner mit einem Polizeieinsatz drohte, sollte er nicht umgehend seine FFP2-Maske aufsetzen. Umsonst der Hinweis, daß er sich ganz allein im Abteil befand und weder eine passive noch aktive Ansteckungsgefahr vorlag. Nichts da, die Regierungsanordnung galt für jedermann und überall und gestattete keine Ausnahme. In dem Fall durfte der Betroffene hinter der ehernen Bürokraten-Konsequenz eine politische Absicht vermuten: Der Bürger sollte diszipliniert und in den unbedingten Gehorsam eingeübt werden.
Franz Kafka hatte aus den Erfahrungen mit der siechen k.u.k. Bürokratie geschöpft und deren Potential konsequent zu Ende gedacht. Eine heitere Variante davon findet sich im „Braven Soldat Schwejk“: Dem böhmischen Halbidioten wird mit unabweisbarer Logik nachgewiesen, daß sein uferloses Geschwätz eine staatsgefährdende Handlung darstellt. In seinem Fall löst die Dramatik sich in Heiterkeit auf. Kafkas „Prozeß“ hingegen mit unerbitterlicher Düsternis: „Jemand mußte Josef K. verleumdet haben.“ Warum er verhaftet wurde, wessen er angeklagt ist und warum er am Ende getötet wird, bleibt ihm bis zum Schluß verborgen.

Kafkas Werk wird daher auch als Vorwegnahme des Totalitarismus gedeutet, der Terror, Ideologie und Bürokratie miteinander verbindet, und die Wächter, die K. festsetzen, als Vorboten der Gestapo und der Tscheka interpretiert. Im Dritten Reich wurde mit bürokratischer Akkuratesse erfaßt, ob und, wenn ja, wieviel jüdische Anteile ein jeder im Blut hatte; deren Höhe entschied über die gesellschaftliche und rechtliche Stellung und schließlich über Leben und Tod.

Kafkaest war auch der Große Terror unter Stalin. Niemand, selbst seine Exekutoren nicht, durfte sich vor ihm sicher fühlen, weil seine Logik und Absichten verborgen blieben. Menschen wurden verhaftet, verschwanden im Gulag oder sofort im Massengrab, weil sie der Partei und dem weisen Führer zu wenig Zuneigung bekundet hatten. Doch auch ein Zuviel erweckte Verdacht als der besonders raffinierte Versuch von Volksfeinden, ihre Gesinnung und Pläne zu tarnen. Die besondere Perfidie lag darin, daß niemand festlegte und keiner wußte, welches Maß an Zustimmung das richtige war. Das Geheimnis der Macht ließ sich nicht entschlüsseln. Alle lebten in ständiger Ungewißheit und Angst vor dem Zorn der Götter. Wie die Menschen der Antike konnten sie nur hoffen, sie durch Opfergaben günstig zu stimmen, zum Beispiel durch die Denunziation von Freunden und Familienmitgliedern.

1989 schien zumindest in Europa das Licht der Demokratie über die kafkaeske Finsternis der Diktatur gesiegt zu haben. Die Angelegenheiten der Res publica, so das Versprechen, würden künftig transparent und der Kontrolle, der Kritik und öffentlichen Diskussion zugänglich gemacht werden. Doch auch der Westen hatte seine kafkaesken Geheimbereiche, nur waren sie weniger auffällig. Nachdem er seinen dialektischen Widerpart verloren hat, tritt das Gemeinsame in den Vordergrund.

Die Gesellschaft ist einer umfassenden, dabei unproduktiven, ja zerstörerischen Dynamik ausgesetzt, die in alle Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens vordringt. Die „politische Korrektheit“ zerfällt in immer mehr und kleinteiligere Segmente. Die Antreiber sind Wahrnehmungs- und Kommunikationsblasen, die ihre Glaubenssätze gegen alle Einwände verpanzern. Wer ihre Wahrheit anzweifelt, wird mit dem Stigma des „Leugners“ versehen. Daber entsteht eine Kakophonie unvereinbarer Geltungsansprüche. Zur materiellen und mentalen Kriegstüchtigkeit beispielsweise, die gegenwärtig gefordert wird, passen weder die klimafreundliche Deindustrialisierung noch die Dekonstruktion der Energiesicherheit, noch der LGBT-Kult.
Diabolo, der große Verwirrer und Verleumder, scheint das Zepter zu schwingen. Er läßt das demokratische Versprechen des angstfreien Meinungsstreits im Orkus verwinden und gleichzeitig den Geheimdienst zu neuen, altbekannten, allzu berüchtigten Ehren kommen.

Über der Frage, welcher Plan hinter dem Chaos wohl steckt, verfällt der verzweifelte Bürger schnell auf den „tiefen Staat“, bei dem angeblich alle Fäden zusammenlaufen. Doch die öffentlichen Figuren, die als Vertreter der Macht hervortreten, wirken auch nur als untergebene, austauschbare Sprechpuppen.
Bei Kafka wird den Protagonisten der Zugang zum Schloß, zum Gericht, zum Gesetz, denen sie unterworfen sind, konsequent verweigert. Das läßt sich auch so deuten, daß es die eine zentrale Machtinstanz überhaupt nicht gibt. Statt einer hierarchischen Machtpyramide muß man sich ein Rhizom, ein netzartiges, transnationales Geflecht mit zahlreichen Nervenknoten unterschiedlicher Größe vorstellen, die miteinander kommunizieren. Es herrscht nicht der eine diabolische Wille, es ist viel schlimmer: Es ist die Schwarmidiotie der postreligiösen, modernen Massengesellschaften, die, mit dem Vokabular der Aufklärung auf den Lippen, den Rückfall in archaische Muster erzwingt. Deshalb bleibt das Kafkaeske das Gegenwärtige.
… Alles vom 31.5.2024 von Thorsten Hinz bitte lesen in der JF 23/24, Seite 2
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(2) Wenn das Unerklärliche hingenommen wird
Literatur: Vor hundert Jahren starb Franz Kafka. Er ist einer der wenigen Schriftsteller, die um so heller strahlen, je länger sie tot sind. Woran liegt das?
Dietmar Mehrens
Erstellt man einen Quotienten aus literarischer Langzeitwirkung und Lebensdauer, war er der wirkmächtigste deutschsprachige Autor des 20. Jahrhunderts. Legion sind die Schriftsteller deutscher und nichtdeutscher Sprache, die sich von ihm inspiriert fühlten. Von Filmemachern ganz zu schweigen. Wer einmal „Das Schloß“ gelesen hat, Franz Kafkas leider unvollendet gebliebenen und dennoch eindrücklichsten Roman, der weiß, warum. Das Buch vergißt man sein ganzes Leben lang nicht. Die verstörende Erzählung über ein fernes Schloß, das über einem Landstrich thront, alle menschlichen Geschicke beherrscht und sich dem, der sich ihm zu nähern versucht, auf geheimnisvolle Weise entzieht, ist einfach große, zeitlose, stilbildende Kunst. Wer würde nicht mitfühlen mit dem Landvermesser K., dem das Banalste nicht gelingen will: die Arbeit, für die er hinbestellt wurde in diese namenlose Gegend, einfach endlich zu erledigen. Wer würde nicht ebenso mitfühlen mit Josef K., dem Namensvetter des Landvermessers, der eines Morgens, „ohne daß er etwas Böses getan hätte“, verhaftet, aber doch in Freiheit gelassen wird und danach einen ganzen Roman lang versucht herauszufinden, was da schiefgelaufen ist.

Kafkas Romane sind Existenzdramen. Es geht immer ums Ganze. Und sie sind zu Worten geronnene Alpträume, in denen die Gesetze der Logik außer Kraft gesetzt, die Sicherheiten, die uns in unseren Alltagsverrichtungen Halt geben, ausradiert und die Menschen, die uns weiterhelfen könnten, zu Marionetten degradiert sind. Und niemand weiß, wer an ihren Fäden zieht. Ist es der verborgene Gott der jüdischen Thora, wie Interpreten des Kafkaschen Werks, allen voran sein Intimus Max Brod, immer wieder spekuliert haben? Sind es die Schergen der Bürokratie, mit der er als Beamter im Versicherungsgewerbe zeit seines Lebens zu tun hatte? Oder ist alles, ist Kafkas gesamtes literarisches Werk eine sich ständig in ihrer Gestalt wandelnde Metapher für den übermächtigen, oft als herrisch und emotional unterbelichtet beschriebenen Vater, der seine Jugend prägte und explizit sowohl in der Prosaskizze „Das Urteil“ (1916) als auch dem überlieferten „Brief an den Vater“ (1919) verewigt wurde? Auch die berühmte Erzählung „Die Verwandlung“ (1915), in der sich Hauptfigur Gregor Samsa beim Aufwachen eines Morgens in ein riesenhaftes Insekt verwandelt vorfindet, spiegelt vor allem innerfamiliäre Konflikte und einen eklatanten Mangel an Zuneigung und Zuwendung.

Wirkte der schon 1912 begonnene Roman „Der Verschollene“, den Max Brod 1927 unter dem Titel „Amerika“ herausbrachte, über den in den USA nach Arbeit suchenden Karl Roßmann noch unfertig und in der Handlungsführung unreif, weisen „Der Prozeß“ (posthum 1925 erschienen) und das ein Jahr später veröffentlichte „Schloß“ – wie die bereits zu Lebzeiten erschienene „Verwandlung“ – trotz fehlender Vollendung alle Markenzeichen auf, denen Kafka seinen epochalen Nachruhm hauptsächlich verdankt und die deutsche Sprache das Wort „kafkaesk“: Sie kreieren einen surrealen, gleichwohl realistisch gezeichneten und in sich stimmigen Kosmos des Absurden, in dem das Unerhörte und Unerklärliche wie eine banale Selbstverständlichkeit hingenommen wird, lassen ihre Helden durch diese Alptraum-Matrix tapern wie arglose Ameisen über einen gefliesten Küchenboden, und wehrlos wie diese werden sie am Ende zertreten. „Einen solchen Prozeß haben, heißt ihn schon verloren haben“, lautet ein prophetisches Diktum in „Der Prozeß“. Es ist – und das ist wohl das Bemerkenswerte am Werk des großer Pragers –, als hätte er’s von Anfang an geahnt, wie es mit ihm enden müsse.
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Franz Kafka: Sämtliche Werke Mit einem Nachwort von Peter Höfle.
Suhrkamp, Berlin 2008, broschiert, 1.463 Seiten, 30 Euro

…. Alles vom 31.5.2024 von Dietmar Mehrens bitte lesen in der JF 23/24, Seite 13
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(3) Die Lüge als Weltordnung
Klassiker wiedergelesen: Franz Kafkas posthum erschienener Roman „Der Prozeß“ hat nichts von seiner beklemmenden Aktualität eingebüßt
Regina Bärthel

„Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ Mit diesem vielzitierten Eingangssatz zu „Der Prozeß“ schleudert Franz Kafka seinen Protagonisten Josef K. in eine vom eigenen bürgerlichen Leben weit entfernte Parallelwelt. Der Satz führt ein in eine absurde Gerichtsverhandlung; in einen Prozeß, in dem weder das Vergehen des Angeklagten definiert wird, noch das Gericht selbst einem gültigen Recht folgt. Er ist der Auftakt zu einer im Wortsinn kafkaesken Situation, die nichts an Aktualität eingebüßt hat: In ihr fanden sich in den letzten Jahren viele wieder, die der aktuell beherrschenden Meinung nichts abgewinnen können. Angesichts eines neu auflebenden und von Regierungsseite propagierten Denunziantentums gilt auch heute noch die Schlußfolgerung: „Einen solchen Prozeß zu haben, heißt ihn schon verloren zu haben.“

In seinem Roman schildert Kafka in der verworrenen Logik des (Alb-)Traums, wie Josef K. in die Mühlen einer Bürokratie gerät, die weder Stringenz noch Kompetenz aufweist: Eines Morgens, Josef K. liegt noch im Bett, betreten schwarz gekleidete Männer sein Zimmer und verkünden ihm, er sei angeklagt. Ein grotesker Start in den Tag; so sehr, daß K. zunächst an einen üblen Scherz glaubt. Doch die Empörung folgt sofort: Er lebe immerhin in einem Rechtsstaat, es sei unerhört, unbescholtene Bürger derart zu überfallen!

Die Wächter, die sich weder legitimieren noch den Grund der Anklage nennen können, verteidigen ihren Auftrag: „Es gibt darin keinen Irrtum. Unsere Behörde (…) sucht doch nicht die Schuld in der Bevölkerung, sondern wird, wie es im Gesetz heißt, von der Schuld angezogen (…). Das ist Gesetz.“ Die Behörde folgt also ihren eigenen, möglicherweise geheimen Regeln, die aber mit denen eines Rechtsstaates nicht zwingend kongruent sein müssen. Immerhin inhaftieren die Wächter Josef K. nicht, sondern führen lediglich eine Art Gefährderansprache durch.

Ein absurdes Verfahren mit slapstickartigen Szenen
Doch gerade hierdurch wird der Prozeß in Gang gesetzt: Josef K. ist sich der Absurdität des Verfahrens sehr wohl bewußt, doch gerade durch seine Widersprüche, sein Verlangen nach Aufklärung und Richtigstellung verstrickt er sich in dessen groteskes System – bis sich K.s vormalig bürgerliche Existenz regelrecht auflöst. Zwar geht der Bankangestellte weiter seinen üblichen Verpflichtungen nach, doch sein neuer Status als Angeklagter führt einerseits zu einer ausufernden Selbstbefragung und läßt andererseits das zuvor in ihn gesetzte Vertrauen rasch schwinden. K.s Reputation wird zerstört: vor sich selbst, am Arbeitsplatz wie auch innerhalb der Familie.

Dabei stellt sich die Justiz selbst als Farce heraus: Einbestellt zu einer Anhörung findet K. die Gerichtskanzleien auf dem labyrinthischen Dachboden einer heruntergekommenen Mietskaserne. Ihre Vertreter sind alles andere als ehrwürdige Diener des Rechtsstaates, die Angeklagten vom Verfahren zermürbte Jammergestalten. Kafka schildert die Vorgänge an diesem irrwitzigen Gericht mit großer Komik und in slapstickartigen Szenen; da baumelt auch mal ein Bein durch die Decke, weil es durch den maroden Grund gebrochen ist. Tatsächlich bestehe der einzige Sinn des Prozesses darin, kritisiert K., „daß unschuldige Personen verhaftet und gegen sie ein sinnloses und meistens wie in meinem Fall ein ergebnisloses Verfahren eingeleitet wird“. Sinnlos mag das Verfahren sein, ergebnislos wird es am Ende nicht bleiben.

Der Türhüter verwehrt den Zugang zum Gesetz
Wie alle Romane Franz Kafkas blieb auch „Der Prozeß“, begonnen 1914, ein Fragment: Nach der endgültigen Trennung von Felice Bauer, seiner mehrmaligen Verlobten, fühlte er sich wie ein „Verbrecher nach der Tat“ und nur eine neue literarische Arbeit, so notierte er, könne ihn aus seiner Erstarrung retten. Eine Erstarrung, verursacht durch Schuldgefühle, die ihn hoffnungslos begleiteten: Er war zerrissen zwischen dem Anspruch auf ein Leben nach der Norm – hier also Bürgerlichkeit und Familie – und seiner „wahren“ Identität als Schriftsteller.

Kafka legt noch eine andere Spur: In der Parabel „Vor dem Gesetz“, zuerst erschienen 1915 in einer Wochenzeitschrift, ersucht ein Mann um Zugang zum Gesetz, doch der Türhüter verwehrt es ihm: Prinzipiell sei es möglich, aber nicht jetzt. Der Mann fügt sich, wartet sein Leben lang – um in seiner Todesstunde zu erfahren: Dieses Tor war nur für ihn bestimmt. Es ist der Gefängniskaplan, der Josef K. die Geschichte erzählt und hinzufügt: „Man muß nicht alles für wahr halten, man muß es nur für notwendig halten.“ Worauf K. erwidert: „Trübselige Meinung (…). Die Lüge wird also zur Weltordnung gemacht.“

Eine willkürliche Anklage, ein korrumpiertes Rechtssystem: Ist „Der Prozeß“ also eine prophetische Vorwegnahme des Totalitarismus? Gerade in Deutschland sah man immer wieder das Regime der Nationalsozialisten, aber auch des Kommunismus antizipiert. Und sicher, auch heute ist es verlockend, Parallelen zwischen Josef K. und Whistleblowern, Querdenkern oder unliebsamen Politikern zu ziehen. Allerdings wissen hier die Behörden – im Gegensatz zu jenen im „Prozeß“ – recht genau, was sie tun: Führen sie womöglich Verfahren im Sinne eines Maßnahmenstaates, in dem der politische Zweck die Entscheidungen der Justiz diktiert?

Josef K. kann zwar als ein unberechtigt Verfolgter angesehen werden, doch wird ihm zunächst weder Zwang noch Gewalt angetan. Er ist weder unschuldiges Opfer noch kämpferischer Held innerhalb eines repressiven Systems, vielmehr verspottet er die groteske Gerichtsbarkeit – und genießt gleichzeitig deren lustvolle Freizügigkeit des bohèmehaften Milieus rund um den Maler und Rechtsberater Titorelli. Zumal Frauen vor Gericht „eine große Macht“ haben, wie K. erkennt. Nicht im Sinne von Gleichstellung oder gar einer feministischen Jurisprudenz, sondern ausschließlich aus Gründen des erotischen Verlangens. Denn: „Es gehört ja alles zum Gericht!“
Damit verkörpert das Gericht womöglich die öffentliche Meinung; beide sind obrigkeitsgläubig, leicht korrumpierbar und folgen einer bisweilen lächerlichen Willkür. Josef K. wäre dann in eine Maschinerie aus Schuldzuweisungen und Diffamierung geraten, die gar nicht darauf bedacht ist, ein reales Vergehen zu ahnden, sondern vielmehr – ähnlich der Türhüter-Parabel – potentielle Abweichler von ihrem Ziel abzubringen. Wider besseres Wissen läßt sich Josef K. ein auf diesen Prozeß, versucht sogar, seine Rechtschaffenheit zu beweisen. Wird er aber nicht gerade dadurch zum Konformisten, zum Täter für ein gutes Gewissen?
Die grundlegenden Fragestellungen, die „Der Prozeß“ aufwirft, gelten möglicherweise weniger einer politischen Ordnung, als der persönlichen Positionierung. Darf die Wahrheit verbogen, mithin instrumentalisiert werden, um einer vorgeblichen Notwendigkeit zu dienen? Vielmehr noch: Darf man gemäß öffentlich propagierter Normen etwas für notwendig halten, das nicht wahr ist?
Aus heutiger Perspektive stellen sich Fragen wie: Hat sich der Rechtsstaat nicht zu einer Groteske deformiert, wenn allenthalben gegen „Rechts“ demonstriert wird, zugleich aber die linksextreme Gewalt längst außer Kontrolle geraten ist? Wenn Energieversorgung und Arbeitsplätze eines Landes zugunsten einer Ideologie zerstört werden – womöglich sogar unter Vortäuschung falscher Tatsachen? Wenn gar zum Verbot einer demokratisch gewählten Partei aufgerufen wird – zugunsten „unserer“ Demokratie? Kafkas „Prozeß“ ist voller karikaturhaft-humoristischer und frivoler Szenen; er selbst soll beim Vorlesen seiner Werke oft lauthals gelacht haben. Karikaturhafte Szenen sind auch heute alle Tage zu erleben.
„Der Prozeß“ macht noch etwas anderes deutlich: Das Verfahren – so grotesk es auch sein mag – stößt beim Angeklagten Josef K. eine Selbstbefragung an. Er durchforstet sein Inneres auf der Suche nach einem Fehlverhalten, einer Schuld. Ein zutiefst bürgerliches Verhalten, das nicht zuletzt mit sozialen, im besten Sinne moralischen Werten wie Gerechtigkeits- und Verantwortungsgefühl zu tun hat. Werte, die man heute bei zahlreichen Vertretern staatlicher Institutionen, besonders aber der Politik schmerzlich vermißt. An diesem Punkt findet sich die Literatur von der Realität umzingelt.
Bild:
Zeichnung von Frank Kafka: „Du, ich war einmal ein großer Zeichner, nur habe ich dann bei einer schlechten Malerin schulmäßiges Zeichnen zu lernen angefangen und mein ganzes Talent verdorben.“ (Aus einem Brief an seine erste Verlobte Felice Bauer)

Franz Kafka: Der Process. Kommentierte Ausgabe,
herausgegeben von Reiner Stach.
Wallstein, Göttingen 2024, gebunden, 397 Seiten, 34 Euro

… Alles vom 31.5.2024 von Regina Bärthel bitte lesen in der JF 23/24, Seite 16
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(4) Rüdiger Safranski beobachtet Franz Kafka beim Schreiben
Zögern vor der Geburt
Regina Bärthel
… in Kafkas einhundertstem Todesjahr kommen weitere Bücher, Filme und TV-Serien hinzu. Zu ihnen gehört auch eine Monographie des Literaturwissenschaftlers und Philosophen Rüdiger Safranski: Unter dem Titel „Kafka. Um sein Leben schreiben“ hat der Autor zahlreicher Biographien – Safranski beschäftigte sich bereits mit Goethe, Schiller, Hölderlin, Nietzsche, Schopenhauer, Hoffmann und Heidegger – sich nun auch Kafkas angenommen. Der Untertitel „Um sein Leben schreiben“ ist dabei nicht nur ein bei Kafka selbst immer wieder auftauchendes Motiv, sondern wird auch zum Leitfaden für Safranski, der für diese Monographie vornehmlich Aussagen des Autors heranzieht.

„Der Prozeß“, jene Verhandlung innerhalb eines undurchschaubaren Systems von Anschuldigungen und bürokratischer Willkür, ist eines der tatsächlich die Zeiten überdauernden Werke des Autors (siehe Seite 16 dieser Ausgabe). Nicht zuletzt ist der Begriff der kafkaesken Situation längst in den allgemeinen Sprachschatz eingewandert – und weiterhin erlebbar.
Kafkas fiktive Welten sind doppelbödig, seine Hauptfiguren stets mit dem (Selbst-)Vorwurf der fehlenden Authentizität und eben jener unausgesprochenen, ja undefinierten Schuld behaftet. Der doppelte Boden in diesen Erzählungen und Romanen überdeckt tiefe Gruben voller böser Überraschungen – und bewirkt meist einen unvermeidbaren Fall in die Auslöschung. Ob diese Auslöschungen tatsächlich immer negativ zu werten sind, steht jedoch auf einem anderen Blatt: Katastrophische und epiphanische Momente liegen bei Kafka stets eng beieinander, wie Safranski einleuchtend darstellt; sie bedingen einander oder sind sogar deckungsgleich, wie in der 1919 veröffentlichten Erzählung „In der Strafkolonie“.
Auch in seinen stringenten Textinterpretationen bezieht sich Safranski vornehmlich auf den in zahlreichen Briefen und Tagebüchern erläuterten Erfahrungshintergrund Kafkas. Dies zeigt sich bereits formal, indem Zitate aus den Originaltexten direkt in die Monographie einfließen, gekennzeichnet lediglich dadurch, daß sie kursiv gesetzt sind. Dies birgt die Gefahr einer Bruchstelle zwischen den Schreibstilen, die Safranski durch einen umsichtigen Sprachgebrauch – niemals überbordend oder besserwisserisch – zu vermeiden versteht. Leider aber haben einige sprachliche wie inhaltliche Wiederholungen sowie orthographische und grammatische Fehler das Lektorat überlebt.
Nach eigener Aussage hatte Kafka keine „Vorstellung von Freiheit“, damit fehle ihm auch eine Richtung zur Entwicklung seiner Persönlichkeit. Sein Wunsch nach einem normalen Leben, nach Familie und dem Gefühl von Zugehörigkeit scheiterte immer wieder an seiner „Weltangst“: Angst vor dem Versagen, vor dem Verstoßen-Werden, vor einer undefinierbaren Schuld. Angesichts des übermächtigen Vaters sowie der prekären Stellung als deutscher Jude in Prag, somit als Angehöriger gleich zweier Minderheiten, können diese Ängste kaum verwundern. Allerdings entwickelte Kafka aus ihnen die Notwendigkeit, in die Tiefen seines Inneren, letztlich des Unbewußten vorzudringen und genau daraus seine Literatur zu heben. Nur so konnte er der Selbstkritik entkommen.
… Alles vom 31.5.2024 von Regina Bärthel bitte lesen in der JF 23/24, Seite 14
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