Gier

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Naturkita Dietenbach am Ruhbauernhof (links) 24.2.2024 – Blick nach Westen im Schwarzwald

  • Gier und Egoismus in Liberalismus und Marktwirtschaft (1.3.2024)
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  • Liberalismus

 

Gier und Egoismus in Liberalismus und Marktwirtschaft
Wie der freie Markt Egoismus in etwas Gutes verwandelt
Wer ewig strebend sich bemüht
Olivier Kessler

Kaum jemand gilt in der weitgehend vom Nullsummenglauben beherrschten Gesellschaft als unanständiger als derjenige, der sich nicht mit seinem jetzigen Wohlstand zufriedengeben will, sondern nach mehr strebt. Dies trifft insbesondere dann zu, wenn dem Beschuldigten attestiert wird, daß er doch bereits „genug“ habe. Der moralische Vorwurf, der dann im Raum steht, ist jener der „Gier“.

Gier ist zwar nach heutigem Recht nicht strafrechtlich belangbar, allerdings sorgt die soziale Ächtung der Neidgesellschaft für eine fast ebenbürtige Bestrafung. Alle, die über sich selbst hinauswachsen und Erfolg haben bei dem, was sie tun, werden mit entsprechenden Diffamierungen sprichwörtlich einen Kopf kürzer gemacht, damit ja niemand das egalitaristische Ideal zu stören wagt. Einzig berühmte Sportler scheinen dem Rufmord noch entkommen zu können, vielleicht weil sie in der allgemeinen Bevölkerung als zu beliebt eingeschätzt werden und man sich nicht mit ihnen anzulegen wagt.

„Gier“ ist aber nicht nur zu einer Art Lieblings-Diffamierungsbegriff von Neidern geworden, um ihrer angedichteten moralischen Überlegenheit gegenüber den wirtschaftlich Erfolgreicheren Ausdruck zu verleihen. „Gier“ ist auch zu einem der wichtigsten Kampfbegriffe gegen eine marktwirtschaftliche und freiheitliche Ordnung geworden.
Nach der entsprechenden Tirade, welche die großartigen Erfolge der Marktwirtschaft großzügig ausklammert und behauptet, sie würde lediglich die Gier befördern, wird anstatt dessen ein System propagiert, in welchem Gier angeblich keine Rolle spiele: die Sozialdemokratie oder der Sozialismus, wobei die beiden Systeme genau genommen auf das gleiche hinauslaufen: entweder das sofortige (sozialistische Revolution) oder schleichende (sozialdemokratische) Abschaffen des Privateigentums und damit der individuellen Freiheit der Bürger.

Der Vorwurf lautet in etwa so: Der freie Markt setze dem Individuum und seiner Gier keine Grenzen und entfessele damit den Egoismus. Das führe zu einem rücksichtslosen Streben nach persönlichem Nutzen auf Kosten sowohl des Allgemeinwohls als auch der Solidarität mit den Schwächeren. Das ist in mehrerlei Hinsicht falsch, einerseits weil hier der falsche Nullsummenglaube mitschwingt und andererseits, weil Charaktereigenschaften nichts mit dem System zu tun haben. Aber eines nach dem anderen.

Wer den falschen Nullsummenglauben verinnerlicht hat, läßt sich leichter durch das obige „Gier“-Argument irreführen. Der Nullsummenglaube ist die falsche Vorstellung, die Wirtschaft sei ein Nullsummenspiel. Der Wohlstand gleicht in dieser Vorstellung einem immer gleich großen Kuchen, der – wie von magischer Hand – in regelmäßigen Zeitabständen neu aus dem Ofen geholt und lediglich „gerecht“ verteilt werden müsse. Wer die Ökonomie unzulässigerweise auf reine Verteilungsfragen reduziert, wird „die Reichen“ wenig überraschend für Schmarotzer an der Gesellschaft halten, die sich frecherweise ein zu großes Kuchenstück herausgenommen haben. „Was fällt diesen ungehobelten Bonzen bloß ein?“, werden sich diese ökonomischen Laien aufregen: „Entreißt den Gierigen ihr zu großes Stück, daß sie sich genommen haben, und verteilt es an die Armen!“

Doch diese Sichtweise ignoriert, daß die Größe des gebackenen Kuchens stark davon abhängt, welche Anreize man jenen setzt, die ihre Arbeit und ihr Kapital in diesen Produktionsprozeß einbringen. Wenn sich gute Leistungen nicht lohnen – wenn also am Ende ohnehin alle das gleich große Kuchenstück erhalten –, wird sich auch niemand besondere Mühe geben oder sich anstrengen. Entsprechend fällt dann auch die Kuchengröße als Ganzes kleiner aus. Mangelwirtschaft und Armut melden sich zurück, so wie das in allen sozialistischen Systemen der Fall war und ist.

Die Wirtschaft ist eben kein Nullsummenspiel. Sie ist kein immer gleich großer Kuchen. Ansonsten hätten wir weltweit übers Ganze gemessen immer noch den gleichen Wohlstand wie vor 200 Jahren – eine offensichtlich absurde Vorstellung, wenn man bedenkt, daß im selben Zeitraum die Weltbevölkerung von rund einer auf heute acht Milliarden gestiegen ist, es also für den Einzelnen achtmal weniger Wohlstand geben müßte als noch vor 200 Jahren.

Wohlstand wächst, wenn man die Menschen frei miteinander interagieren und tauschen läßt. Jedesmal, wenn jemand einen Tausch eingeht, tauscht er damit etwas ein, das aus seiner subjektiven Sicht weniger Wert hat als das Gut, das er im Gegenzug bekommt. Sein Wohlstand ist also gestiegen. Der Wohlstand des Vertragspartners sinkt dabei im Gegenzug aber nicht, wie es die Nullsummengläubigen vermuten. Denn der Wert einer Sache ist subjektiv und hängt davon ab, wie stark es zur Erreichung subjektiver Ziele beiträgt. Ein freiwillig eingegangener Tausch zeigt, daß allen Vertragsparteien das jeweils andere Gut wichtiger ist als dasjenige, das sie herzugeben bereit sind. Der Wohlstand von allen Vertragsparteien ist also gewachsen, was eine wunderbare Sache ist. Denn das bedeutet, daß es den Menschen besser geht und sie mehr von ihren Bedürfnissen befriedigen können.
Wer die freie Wirtschaft nicht mehr als Nullsummenspiel begreift, sondern als das, was sie ist – nämlich ein System, das alle Beteiligten besserstellt –, der wird jene, die nach besseren Verhältnissen streben, kaum mit dem Vorwurf der „Gier“ konfrontieren. Er wird sich vielmehr ob der wunderbaren Marktwirtschaft erfreuen.

Der zweite Vorwurf war, daß es in der Marktwirtschaft mehr Gier gebe als in der Sozialdemokratie oder im Sozialismus. Ob jemand mehr oder weniger egoistisch, empathisch oder solidarisch, gierig oder genügsam ist, hängt allerdings nicht vom System, sondern von den individuellen Charaktereigenschaften ab. Es steht und fällt mit der Persönlichkeit des Betroffenen und hat letztlich nichts mit dem Wirtschaftssystem zu tun, in welchem dieser lebt.
Marktwirtschaften haben im Gegensatz zu staatssozialistischen Systemen bewiesen, daß sie dazu in der Lage sind, den vorhandenen Egoismus und die vorhandene Gier in einen Nutzen für alle umzumünzen. Der Marktwirtschaft wohnt ein das Allgemeinwohl fördernder Mechanismus inne, der selbst durch Egoismus und Gier angetriebene Menschen dazu bringt, der Gesellschaft Gutes zu tun.

Wie soll das gehen? Wer einen möglichst großen Nutzen in Form eines hohen Einkommens oder Vermögens für sich selbst herausziehen möchte (Egoismus und Gier), muß anderen einen möglichst großen Nutzen stiften. Etwa indem man der Allgemeinheit Produkte oder Dienstleistungen anbietet, die diese als nützlich betrachtet und deshalb freiwillig nachfragt und kauft. Nur wer anderen am besten dient, schafft es, von seinen Mitmenschen das Geld zu bekommen, nach dem er sich so sehnt.

Der Liberalismus mit seiner aus ihm folgenden Marktwirtschaft zeichnet sich durch den Schutz des Privateigentums und die Steuerung des Wirtschaftslebens durch Märkte aus. Dies impliziert, daß jeder mit seinen Eigentumstiteln das machen darf, was er für gut befindet, solange er damit nicht das Eigentum anderer Menschen verletzt. In anderen Worten: Es herrscht Wahl- und Vertragsfreiheit unter der Bedingung der Eigenverantwortung und der Einhaltung des Rechts. Restlos alle Menschen profitieren von diesem Schutz. Was konkret an dieser Ordnung zu mehr Egoismus und Gier führen soll, ist nicht ersichtlich.

Ganz anders sieht es in staatsinterventionistischen Systemen aus, in denen es keine engen Grenzen der staatlichen Machtausübung gibt. Diese Systeme bieten gewissenlosen, egoistischen und gierigen Menschen die Möglichkeit, sich auf Kosten anderer zu bereichern, ohne ihren Mitmenschen einen Dienst erweisen zu müssen. Für mächtige Interessengruppen ist es dann ein leichtes, für sich Privilegien herauszuholen: etwa in Form von Subventionen für einzelne Branchen, NGOs oder Unternehmen, welche von der Bevölkerung bezahlt werden müssen. Oder in Form von marktbehindernder oder -verdrängender Regulierung, welche die Konkurrenz daran hindert, in einen fairen Wettbewerb zu treten. Für die Konsumenten bedeuten solche Regulierungen eine Reduktion der Wahlfreiheit und tendenziell höhere Produktpreise.

Sobald es für Interessengruppen salonfähig geworden ist, für gesetzliche Privilegien zugunsten der eigenen Klientel zu kämpfen, verkümmert das Bewußtsein für die wenigen allgemeinverbindlichen Regeln, die es für friedliche und faire Austauschbeziehungen braucht. An die Stelle der Ordnungspolitik treten dann rücksichtslose und raffgierige Gruppenegoismen: Immer schamloser und gieriger bedient man sich mit Hilfe des staatlichen Gewaltmonopols am Portemonnaie anderer Bürger und Gruppen.

Ganz anders in einer liberalen Marktwirtschaft: Die Theorie und die Erfahrung haben gezeigt, daß Werte, die allgemein als „gut“ erachtet werden – wie Zuverlässigkeit, Aufrichtigkeit und Friedfertigkeit –, hier eher gefördert werden, während „schlechtes“ Verhalten eher sanktioniert wird. Agiert eine Person verlogen, aggressiv oder hinterhältig, schadet dies ihrem persönlichen Ruf, womit sie sich diverse unternehmerische und berufliche Opportunitäten verbaut. Solange kein ausgebauter Sozialstaat zu Hilfe eilt, schaden sich die Personen selbst, die sich so benehmen.

Gleiches gilt für ein Unternehmen, das seine Produkte unzuverlässig ausliefert, unehrlich mit seinen Kunden umspringt oder diesen sogar droht: Sein Ruf oder die Reputation seiner Marke wären schnell zerstört, worauf sich viele Kunden von ihm abwenden dürften. Dies trifft um so mehr im heutigen Internetzeitalter zu, wo innerhalb kurzer Zeit – für alle sichtbar – Rezensions-Sternchen vergeben sowie Kundenbewertungen und Erfahrungsberichte verfaßt werden können. Es ist also im ureigenen Interesse der Marktteilnehmer, sich adäquat, aufrichtig und anständig zu verhalten.

In einer freien Marktwirtschaft gibt es viele solcher Mechanismen zur Eindämmung und Sanktionierung schlechter Verhaltensweisen. Diese ermöglichen es, daß die Informationsasymmetrien zwischen Herstellern und Verbrauchern auf ein Minimum herabgesenkt werden können. Nebst dem Ruf der Führungsperson oder einer Firma gibt es beispielsweise das Mittel der Garantie. Diese ist ein äußerst wirkungsvolles Instrument gegen Betrug, weil sie vertraglich abgeschlossen und notfalls gerichtlich durchgesetzt werden kann, wenn ein Produkt nicht das hält, was es versprochen hat.

Wir können also festhalten: Gier ist ein Charaktermerkmal, das bei einigen mehr, bei anderen weniger ausgeprägt ist. Es ist nun mal da, unabhängig des gerade herrschenden Systems. Die Frage ist mehr, wie wir idealerweise damit umgehen. Wir kommen nach all den Überlegungen zum Schluß, daß nur die Marktwirtschaft in der Lage ist, Gier in einen Nutzen für die Allgemeinheit umzuwandeln, während die Sozialdemokratie und der Sozialismus die schädlichen Seiten der Gier verstärken – zum Schaden der Allgemeinheit.
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Olivier Kessler, Jahrgang 1986, ist Direktor des Liberalen Instituts Zürich. 2023 ist sein Buch „64 irreführende Politikbegriffe“ erschienen. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über das Verhältnis von Freiheit und Demokratie („Wahlen werden überschätzt“, JF42/23).

… Alles vom 1.3.2024 von Oliver Kessler bitte lesen in der JF 10/24, Seite 18
https://www.junge-freiheit.de