Opportunismus

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Vor Gericht 2023: Ärztin in Handschellen und Messerstecher ohne Handschellen

Der Opportunist: schweigt auch mal, gibt den Wendehals, passt sich an, …

 

  • Frank Lisson: „glücklicher bewegt er sich durchs Leben“ (8.12.2023)

 

Frank Lisson: „glücklicher bewegt er sich durchs Leben“
Der philosophische Autor und stolze Einzelgänger Frank Lisson hat in seinem Buch „Mythos Mensch” den Opportunisten geradezu zum Paradeexemplar der Evolution erhoben. „Je weniger der Mensch an sich und an der von seinesgleichen errichteten Welt zweifelt, desto glücklicher bewegt er sich durchs Leben – und desto mehr Nachkommen wird er zeugen. Daher liegt es in der Natur der Sache, dass der Skeptiker gegen den Mitmacher evolutionär keine Chance hat”, statuiert der Gattungsverhaltensbegrübler. „Tatsächlich”, fährt er in seiner süffisanten Anthropodizee fort, „wird man niemanden als degeneriert abqualifizieren dürfen, der als Resultat des Zeitgeistes wie zufällig gerade diejenige Haltung einnimmt, die ihm in seiner Umgebung die meisten Vorteile verschafft.”
Wo Mitmachen Erfolg und damit das „schöne Leben“ verspreche, seien Zweifel, Skepsis oder Gewissensnöte „das klare Anzeichen eines ungesunden Gemüts. – Loben und feiern wir also die Geschickten und Gewieften, die Arrivierten und klugen Taktiker”. Denn sie, so das Resümee, „sind die vor Gesundheit strotzenden Alphatiere des Lebens”.

Zweifellos gehört die Fähigkeit, sich wechselnden Herrschaftsverhältnissen ebenso anzupassen wie unsere jagenden und sammelnden Altvorderen sich jenen der Natur, seit je zu den Grundvoraussetzungen des Überlebens. Nicht-Opportunisten lebten (und leben) gefährlich, man machte früher kurzen Prozess mit ihnen, auch wenn zumindest in unserem Weltteil inzwischen die soziale Isolation – in Extremfällen auch die soziale Vernichtung – die physische Beseitigung ersetzt hat. Natürlich bestand für alle halbwegs Exponierten bisweilen die Möglichkeit, die Seiten zu wechseln, was sie aber von der Klugheit des sich-Anpassens an die neue Linie nicht entband. Es gibt eine köstliche Anekdote über eine französische Gesellschaftsdame, der Name ist mir entfallen, die sich erst Napoleon andiente, ihn nach seiner Absetzung und Verbannung 1814 verfluchte, den Bourbonen ewige Treue schwur, nach der Rückkehr des Korsen von Elba vor ihm auf die Knie sank und um Vergebung bat, um schließlich nach Waterloo die ganze Charade noch einmal vor Ludwig XVIII. zu wiederholen. Da Bonaparte sie nicht geköpft, sondern allenfalls ignoriert hätte, bewegte sich die Dame mit ihren Exaltationen in den Regionen der Peinlichkeit. Ihr Bäumchen-wechsle-dich-Spiel vollzog damals aber fast die gesamte Pariser Gesellschaft mit. Wie auch anders?

Opportunismus, sage ich immer, ist ein Menschenrecht. Niemand ist auf Widerstand zu verpflichten, wo ihm eine Tyrannei mit Strafe droht. Es kann auch niemand darauf verpflichtet werden, sich ausschließen zu lassen, wenn es sich nur um eine Tyrannei der Mehrheit, der „Zivilgesellschaft”, der Partei, der Gruppe, des „Teams” handelt. Wenn Opportunismus sich nicht lohnen würde, würde es ja nicht dermaßen viele Opportunisten geben.

Der Opportunist kommt niemals zu früh – sondern höchstens, wenn er ein besonders mittelmäßiger Opportunist ist, viel zu spät. Meistens ändert er seine Meinung so termingerecht, wie früher die Bahn fuhr, woraus zu folgern sein dürfte, dass er gar keine hat. Demjenigen, der eher recht hatte, gilt gleichwohl seine beharrliche Missgunst.
Die Meinungen und Verhaltensweisen eines Menschen sind ja ohnehin zu einem sehr erheblichen Teil von der ihn umgebenden Gruppe, von der ihn prägenden Kultur und vom Zeitgeist geprägt; wirklich selbsterworbene, selbsterdachte Meinung ist nur ein Bruchteil dessen, was den Leuten im Kopf herumgeht. Es handelt sich um einen wirklichen Luxus, und die meisten Menschen verfügen nicht über einen einzigen Prozent eigenen Meinungsanteils, sondern ihr sogenanntes Denken und Meinen ist nur eine Collage aus übernommenen Ansichten und Reflexen, sie adaptieren die allgemeine Stimmung und deren Umschwünge, wie die Sardine auf die Richtungsänderung des Schwarms reagiert. Deswegen sind Opportunisten auch so unglaublich langweilig, man kann sie keine zwanzig Zeilen lesen, ohne in schweres Gähnen zu verfallen. Alles, was sie schreiben, weiß man schon.
Ist das aber ein Argument gegen Opportunismus? Hat man sich nicht vielmehr den Opportunisten als glücklichen, im Kollektiv aufgehobenen, dort gern gesehenen Menschen vorzustellen?
… Alles vom 10.12.2023 bitte lesen auf
https://www.klonovsky.de/2023/12/10-dezember-2023/