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Vater und Sohn beim Sandburgenbau am Mittelmeer bei Venedig 3.5.2016

Vater und Sohn beim Sandburgenbau am Mittelmeer bei Venedig 3.5.2016

 

 

Wolfram Ackner: Warum ich ein Wutbürger bin

„Erstens: In welchem anderen Land der Welt würden Sie lieber leben als in Deutschland?
Zweitens: Zu welcher Zeit in der Vergangenheit hätten Sie gern in Deutschland gelebt?“
Diese Fragen stellte Susanne Gaschke in ihrer Kolumne vom 23. Mai 2016 wütenden Bürgern.
https://www.welt.de/debatte/kolumnen/das-echte-leben/article155617093/Diese-zwei-Fragen-muss-man-jedem-Wutbuerger-stellen.html
Der Beitrag löste viele Reaktionen aus und wurde lebhaft diskutiert. Als am häufigsten genannte Lieblingsländer kristallisierten sich bald Australien und Neuseeland, die Schweiz und Uruguay heraus. Ebenso gibt es offenbar eine große Vorliebe für die Bundesrepublik der frühen 80er-Jahre. Im Folgenden dokumentieren wir die ausführliche Antwort eines Lesers aus Leipzig.

https://www.welt.de/debatte/kommentare/article155713761/Warum-ich-ein-Wutbuerger-bin.html
Wolfram Ackner wurde 1970 in Leipzig geboren, absolvierte bis zur 10. Klasse die Herder-POS und machte eine Berufsausbildung zum Maschinen- und Anlagenmonteur. Seit 1988 arbeitet er als Schweißer im Anlagen- und Rohrleitungsbau, davon verbrachte er mehr als 20 Jahre auf Montage, auch im Ausland. Hier sein Text:

Da es nicht jeden Tag vorkommt, dass die Presse Fragen an uns Wutbürger richtet, in denen sich die Antwort nicht schon in der Art der Fragestellung herauslesen lässt, möchte ich die Gelegenheit ergreifen, diese Fragen für mich zu beantworten.
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Erstens: „In welchem anderen Land der Welt würden Sie lieber leben als in Deutschland?“
Ich würde lieber in Australien leben. Das wäre zwar nicht ganz so einfach, weil man Qualifikationen und ein gewisses Startkapital vorweisen muss. Dieses Handicap ist allerdings in meinen Augen gleichzeitig der erste große Pluspunkt. Leute, die Lebenschancen suchen, die der Gesellschaft etwas zurückgeben können und ins Land passen, kriegen eine faire Chance. Aber kein australischer Premier käme auf den Gedanken, „per ordre de Mufti“ (beziehungsweise de Mutti) so viele Menschen aus den ärmsten, gewalttätigsten und rückständigsten Regionen der Welt ins Land zu holen und mit Milliardensummen zu alimentieren – und das der eigenen Bevölkerung als gigantisches Konjunkturprogramm und Quell künftigen Wohlstands zu verkaufen. Der zweite Pluspunkt ist, dass der Lebensstandard Australiens vergleichbar mit dem Westdeutschlands ist, ohne dass ich dafür unsere abstoßende „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“-Mentalität ertragen muss, mit der wir das Kunststück fertig bringen, Nachbarländer mit unserem moralischen Dünkel unter Druck zu setzen und uns gleichzeitig einzubilden, man würde uns dafür lieben.
Planvoll in die falsche Richtung marschieren
Keine australische Regierung, kein australisches Parlament würde sich anmaßen, den Retter des Weltklimas zu spielen und dafür den Bürgern Billionensummen für eine idiotische Energiewende abzupressen. Na gut, das ist nur die halbe Wahrheit. Ursprünglich folgte Australien tatsächlich dem deutschen Vorbild, erkannte dies allerdings als technische Unmöglichkeit und kehrte zurück zu Kohle und Atom. Der nächste Pluspunkt: Das Land ist offensichtlich in der Lage, Fehler zu erkennen und zu korrigieren. Obwohl man fairerweise hinzufügen muss, dass Australien nicht die deutschen Möglichkeiten hatte, technische Unzulänglichkeiten der Energiewende zu kaschieren.
Das Land kann nicht einfach so seinen überschüssigen Grünstrom in den Pazifik kippen, während Deutschland seine Nachbarländer dafür bezahlt, unseren Strom in deren Stromnetzen verklappen zu dürfen, wenn mal wieder besonders heftig der Wind bläst und die Sonne scheint. Dass man ein teuer erzeugtes Produkt nicht nur verschenkt, sondern viel Geld dafür bezahlt, es verschenken zu dürfen, wird auch noch als „Steigerung der Ökostromexporte“ bejubelt. Sicher werden auch in Deutschland von verantwortlichen Personen Fehler erkannt. Da man aber offensichtlich den Gesichtsverlust und/oder die zu erwartende Reaktion beim Wähler fürchtet, werden in Deutschland Fehler nicht korrigiert, sondern man marschiert mit aller Entschlossenheit weiter in die eingeschlagene Richtung, damit es planvoll und entschlossen wirkt und die einzigen im Land, deren Meinung offenbar zählt (Medien, Ökoindustrie, Sozialindustrie, Aktivisten und NGOs), darauf verzichten, Zeter und Mordio zu schreien.
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Zur zweiten Frage: „Zu welcher Zeit in der Vergangenheit hätten Sie gern in Deutschland gelebt?“
Verdammt, erwischt, Frau Dr. Gaschke. Jetzt haben Sie mich tatsächlich dort, wo Sie mich haben wollten. Ja, ich weiß, Ewiggestrige sind megaout, aber ich schätze, ich wäre tatsächlich gerne Ende der Vierzigerjahre geboren worden. Sicher war es damals hart, ganz Deutschland in Scherben, aber zum Glück gab es damals Trümmerfrauen statt „Netzfrauen“, sonst hätte es keinen Wiederaufbau gegeben, sondern wir würden in Ruinen darüber diskutieren, wie man „einen gerechten Wiederaufbau“ bewerkstelligen kann. Und trotz aller anfänglichen Härte hätte ich spannende Zeiten gehabt. Ich hätte gesellschaftliche Debatten erlebt, polarisierende Vollblut-Politiker wie Herbert Wehner oder Franz Josef Strauss, Leidenschaft in der politischen Arena, klar unterscheidbare Parteien, klar unterscheidbare Zeitungen.
Ich hätte erlebt, dass sich die Menschen auf den technischen Fortschritt freuen, statt wie heute mit angstverzerrtem Gesicht vor einem amerikanischen Tiefkühlhähnchen zu stehen und „Chloralarm!“ zu schreien, am Gemüsestand zu fragen, ob „da Gene drin sind“ oder bei Kindergeburtstagsfeiern auf gluten- und laktosefreiem Kuchen zu bestehen.

Außerdem hätte ich elegante Großstädter mit guten Manieren erlebt. Jaja, ich kann ihn schon hören, den Einwand, dass diese altmodische Höflichkeit und Zuvorkommenheit bloß „oberflächlich“ war. Na und? Mir ist eine aufgesetzte Höflichkeit trotzdem lieber als aufrichtige Patzigkeit. Und last but not least hätte ich die Wirtschaftswunderzeit der Bundesrepublik erlebt, die goldenen Jahrzehnte, in denen es für hart schuftende Facharbeiter wie mich immer nur steil bergauf ging.
Und um meine „Früher-war-alles-besser“-Leier endlich zu einem Schluss zu bringen: Ich hätte im hier und jetzt keinerlei materielle Sorgen, eine höhere Rente als das, was viele Werktätige heutzutage als Lohn erhalten, und ein großes abbezahltes Haus (mit Riesensolaranlage, die ich mir von der Allgemeinheit bezahlen lasse).
Und ich könnte es mir leisten, mich wie ein alterswilder Norbert Blüm über den „Materialismus“ der heutigen „entpolitisierten“ Zeit zu erregen, über den Mangel an Idealismus und gesellschaftlichem Engagement zu klagen und mich über die Angst vor der Islamisierung Europas lustig zu machen.

Warum sollte ich auch etwas anderes sagen? Das bringt nur Ärger, und es ist schließlich nicht mehr mein Bier, wie Europa in 40 Jahren aussieht. Tja, aber Träume sind Schäume, ich lebe in fortschrittlichen #CheckYourPrivilege-Zeiten, wo es für alles und jeden einen Antidiskriminierungsbeamten gibt, außer für weiße 45-jährige Arbeiterklassetypen wie mich, die noch nicht geschnallt haben, dass „Meinungsfreiheit“ nicht dasselbe bedeutet wie „Meinungsäußerungsfreiheit“.
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Soviel zu mir, jetzt hätte ich auch zwei Fragen an Sie.
Erste Frage: Welche Relevanz haben diese beiden Fragen mit Ihrer Schlussfolgerung, dass nicht Presse und Politik an der Wut von Leuten wie mir schuld sind, sondern dass diese schlechte Laune durch Bindungsunfähigkeit und Einsamkeit verursacht wird?  Diese Bindungsunfähigkeit, diese absolute Vermeidung von Verbindlichkeit gibt es tatsächlich.
Aber, zweite Frage, glauben Sie, dass Themen wie unverbindliche Poly-Amorösität und hektisches Party-Hopping tatsächlich für die schlechte Laune von uns Wutbürgern verantwortlich ist? Wie auch immer, Ihre These ist tatsächlich eine Überlegung wert. Zumindest würde es mir eine Erklärung für das Aggressionspotenzial von Grüner Jugend und Antifa liefern.
26.5.2016 , Wolfram Ackner in:
https://www.welt.de/debatte/kommentare/article155713761/Warum-ich-ein-Wutbuerger-bin.html

 

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