Emma: Offener Brief an Scholz

28 Intellektuelle und KünstlerInnen schreiben einen Offenen Brief an Kanzler Scholz. Sie befürworten seine Besonnenheit und warnen vor einem 3. Weltkrieg. Der vollständige Brief hier. Ebenso die Gesamtliste der ErstunterzeichnerInnen. Ab sofort kann jede und jeder unterzeichnen!

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler,
wir begrüßen, dass Sie bisher so genau die Risiken bedacht hatten: das Risiko der Ausbreitung des Krieges innerhalb der Ukraine; das Risiko einer Ausweitung auf ganz Europa; ja, das Risiko eines 3. Weltkrieges. Wir hoffen darum, dass Sie sich auf Ihre ursprüngliche Position besinnen und nicht, weder direkt noch indirekt, weitere schwere Waffen an die Ukraine liefern. Wir bitten Sie im Gegenteil dringlich, alles dazu beizutragen, dass es so schnell wie möglich zu einem Waffenstillstand kommen kann; zu einem Kompromiss, den beide Seiten akzeptieren können.
Wir teilen das Urteil über die russische Aggression als Bruch der Grundnorm des Völkerrechts. Wir teilen auch die Überzeugung, dass es eine prinzipielle politisch-moralische Pflicht gibt, vor aggressiver Gewalt nicht ohne Gegenwehr zurückzuweichen. Doch alles, was sich daraus ableiten lässt, hat Grenzen in anderen Geboten der politischen Ethik.

Zwei solche Grenzlinien sind nach unserer Überzeugung jetzt erreicht: Erstens das kategorische Verbot, ein manifestes Risiko der Eskalation dieses Krieges zu einem atomaren Konflikt in Kauf zu nehmen. Die Lieferung großer Mengen schwerer Waffen allerdings könnte Deutschland selbst zur Kriegspartei machen. Und ein russischer Gegenschlag könnte so dann den Beistandsfall nach dem NATO-Vertrag und damit die unmittelbare Gefahr eines Weltkriegs auslösen. Die zweite Grenzlinie ist das Maß an Zerstörung und menschlichem Leid unter der ukrainischen Zivilbevölkerung. Selbst der berechtigte Widerstand gegen einen Aggressor steht dazu irgendwann in einem unerträglichen Missverhältnis.

Wir warnen vor einem zweifachen Irrtum: Zum einen, dass die Verantwortung für die Gefahr einer Eskalation zum atomaren Konflikt allein den ursprünglichen Aggressor angehe und nicht auch diejenigen, die ihm sehenden Auges ein Motiv zu einem gegebenenfalls verbrecherischen Handeln liefern. Und zum andern, dass die Entscheidung über die moralische Verantwortbarkeit der weiteren „Kosten“ an Menschenleben unter der ukrainischen Zivilbevölkerung ausschließlich in die Zuständigkeit ihrer Regierung falle. Moralisch verbindliche Normen sind universaler Natur.

Die unter Druck stattfindende eskalierende Aufrüstung könnte der Beginn einer weltweiten Rüstungsspirale mit katastrophalen Konsequenzen sein, nicht zuletzt auch für die globale Gesundheit und den Klimawandel. Es gilt, bei allen Unterschieden, einen weltweiten Frieden anzustreben. Der europäische Ansatz der gemeinsamen Vielfalt ist hierfür ein Vorbild.

Wir sind, sehr verehrter Herr Bundeskanzler, überzeugt, dass gerade der Regierungschef von Deutschland entscheidend zu einer Lösung beitragen kann, die auch vor dem Urteil der Geschichte Bestand hat. Nicht nur mit Blick auf unsere heutige (Wirtschafts)Macht, sondern auch in Anbetracht unserer historischen Verantwortung – und in der Hoffnung auf eine gemeinsame friedliche Zukunft.
Wir hoffen und zählen auf Sie!
Hochachtungsvoll
29.4.20222, https://www.emma.de/artikel/offener-brief-bundeskanzler-scholz-339463
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WER DEN OFFENEN BRIEF EBENFALLS UNTERZEICHNEN MÖCHTE,
BITTE AB SOFORT AUF CHANGE.ORG
https://www.change.org/p/offener-brief-an-bundeskanzler-scholz

DIE ERSTUNTERZEICHNERiNNEN
Andreas Dresen, Filmemacher
Lars Eidinger, Schauspieler
Dr. Svenja Flaßpöhler, Philosophin
Prof. Dr. Elisa Hoven, Strafrechtlerin
Alexander Kluge, Intellektueller
Heinz Mack, Bildhauer
Gisela Marx, Filmproduzentin
Prof. Dr. Reinhard Merkel, Strafrechtler und Rechtsphilosoph
Prof. Dr. Wolfgang Merkel, Politikwissenschaftler
Reinhard Mey, Musiker
Dieter Nuhr, Kabarettist
Gerhard Polt, Kabarettist
Helke Sander, Filmemacherin
HA Schult, Künstler
Alice Schwarzer, Journalistin
Robert Seethaler, Schriftsteller
Edgar Selge, Schauspieler
Antje Vollmer, Theologin und grüne Politikerin
Franziska Walser, Schauspielerin
Martin Walser, Schriftsteller
Prof. Dr. Peter Weibel, Kunst- und Medientheoretiker
Christoph, Karl und Michael Well, Musiker
Prof. Dr. Harald Welzer, Sozialpsychologe
Ranga Yogeshwar, Wissenschaftsjournalist
Juli Zeh, Schriftstellerin
Prof. Dr. Siegfried Zielinski, Medientheoretiker
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WEITERE UNTERZEICHNERiNNEN
Renate Schmidt, SPD-Bundesministerin.a.D.
Hasso von Henninges, Künstler
Katja Lange-Müller, Schriftstellerin
Katharina Fritsch, Künstlerin
Prof. Klaus Staeck, Grafiker, Heidelberg

… mehr auf
https://www.emma.de/artikel/offener-brief-bundeskanzler-scholz-339463
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Schwarzer-Brief: Diskussion bei „Viertel nach Acht“
Den von Alice Schwarzer initiierten Offenen Brief an Kanzler Scholz haben inzwischen über 200.000 Menschen unterschrieben
In der BILD-Talksendung „Viertel nach Acht“ vom 3.5.2022 diskutieren über diesen Brief Frauke Petry, Henryk M. Broder, Ulrike Guérot und Alexander Kissler.
https://youtu.be/QH4Z2Q8LhMk
Frage 1: Was ist das Ziel de Lieferung schwerer Waffen?
Frage 2: Gefahr der Ausweitung zu einem Atomkrieg?
3.5.2022

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Dieter Nuhr: Klarstellung zum Offenen Brief bezüglich Waffenlieferungen in die Ukraine
Zur Diskussion um den offenen Brief bezüglich der Waffenlieferungen in die Ukraine möchte ich Folgendes hinzufügen:

Die Berichterstattung über den offenen Brief von Alice Schwarzer an den Bundeskanzler, den ich, wie viele andere, unterschrieben habe, ist – wie so oft in dieser Zeit – unangemessen, irrational und teilweise leider auch verlogen. Sie schreit förmlich nach einer Klarstellung.

Leider wurde das im offenen Brief Geschriebene allzu häufig bis zur Unkenntlichkeit verdreht. Es ist heute in der öffentlichen Auseinandersetzung üblich, dass der Andersmeinende durch Etikettierung und Diffamierung abgewertet wird und dass Empörung Abwägung ersetzt. Es passiert leider immer öfter, dass selbst in ehemals seriösen Medien Beleidigungen mit Argumenten verwechselt werden. Teilweise wurde der Eindruck vermittelt, die „sogenannten Intellektuellen“ (DLF), die diesen Brief unterschrieben haben, seien alles Geistesgestörte. Das ist bitter, aber leider ist so der Zustand unserer Öffentlichkeit, ich beklage das seit Jahren…

Um es klar zu sagen: Weder wurde im Brief gefordert, dass sich die Ukraine widerstandslos ergeben sollte, wie den Unterzeichnern, also auch mir vorgeworfen wurde, noch stand im Brief irgendetwas davon, dass die Unterzeichner die russische Kriegsschuld anzweifeln oder irgendwelche Sympathien für Putin hätten. Der Brief fordert allerdings, alles zu unterlassen, was eine Ausweitung des Konflikts auslösen könnte. Dies habe ich unterschrieben.

Laut Umfragen steht etwa die Hälfte der Bevölkerung der Bundesrepublik hinter dem, was im offenen Brief gefordert wurde. 50 Prozent der Bevölkerung ist offenbar mit uns der Meinung, es sei nicht Deutschlands Aufgabe, eine weitere Eskalation des Krieges voranzutreiben. In der einseitigen journalistischen Aufarbeitung kommt diese Einstellung nur selten zum Ausdruck. Es ist kein Wunder, dass viele Menschen ihre Haltung im Journalismus unserer Tage nur noch unzureichend gespiegelt sehen.

Die Aufrüster halten sich heute für moralisch überlegen. Leute, die gestern noch auf einer naiven pazifistischen Grundhaltung bestanden, wollen nun aus sittlichen Gründen mit schwerstem Geschütz um sich werfen und blenden dabei völlig aus, dass eskalierendes Verhalten bis in einen Weltkrieg führen kann. Ich verstehe die Emotionen, die dahinterstecken. Aber ich plädiere dennoch für Vorsicht und Abwägung!

Wer gestern noch radikaler Pazifist war, blendet heute selbst atomare Gefahren einfach aus, weil er die Moral auf seiner Seite weiß, das ist gefährlich. Aus Friedensbewegten werden Kriegstaktiker. Ein interessanter Vorgang…

Wer Krieg führt, muss wissen, zu welchem Ziel. Ein solches hat mir bisher niemand nennen können. Der offene Brief, den auch ich unterschrieben habe, fordert auf, Deutschland nicht zur Kriegspartei zu machen. Dies unterstütze ich. Wenn mir jemand erklären kann, zu welchem Ziel der Krieg in der Ukraine weiter angefeuert werden soll, dann bin ich gerne bereit meine Meinung zu ändern.

Wir werden nicht umhinkommen, uns zu fragen, was eskalierende Waffenlieferungen, die den Krieg auf eine neue Stufe heben und die Zahl der Toten in die Höhe treiben, überhaupt bewirken sollen. Wenn der Brief es geschafft hat, eine solche Diskussion anzustoßen, dann war er erfolgreich. Es steht zu befürchten, dass dies nicht der Fall ist. In unserer öffentlichen Diskussion herrscht emotionale Erregung, nicht rationale Abwägung.

Ein Ausweg aus der verfahrenen Situation in der Ukraine ist schwer zu finden. Mir konnte jedenfalls bisher niemand erklären, wie die Lieferung schwerer Waffen dazu beitragen könnte, die Ukraine zu befrieden. Ich finde den von Russland angezettelten Angriffskrieg im Übrigen genauso deprimierend und unerträglich, wie die Befürworter der Waffenlieferungen. Aber selbst diese Haltung wird mir und den Unterzeichnern teilweise abgesprochen. Wahnsinn!

Wie immer in den letzten Jahrzehnten – das lehrt die Geschichte – hat ein Krieg keine Gewinner. Es ist für mich klar, und meines Wissens sehen das auch die anderen Unterzeichner des offenen Briefes so, dass der Angriffskrieg Russland aus Europa und dem Kreis der zivilisierten Nationen herauskatapultiert hat. Ohne Regimewechsel darf es kein zurück zur Normalität mit Russland geben.

Tatsache ist aber auch: Es wird – so weh das tut – keinen Frieden in der Ukraine ohne Beteiligung Russlands geben. Es wird deswegen nicht zu verhindern sein, dass die zivilisierte Welt mit Russland den Dialog suchen muss. Russland ist Atommacht.

Ein Atomkrieg ist unbedingt zu verhindern. Mich verwundert, dass dieses Argument offenbar viele Journalisten nicht interessiert. Als Warner vor einem Atomkrieg von Linken und Grünen belächelt und herabgesetzt zu werden, dürfte für die meisten Unterzeichner eine neue Erfahrung sein.
2.5.2022, Dieter Nuhr auf https://www.facebook.com

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Alica Schwarzer: DER OFFENE BRIEF UND DIE FOLGEN
Es gibt einen Meinungsumschwung. Die Hälfte der Bevölkerung, die gegen weitere Waffen und für Verhandlungen ist, hat jetzt eine Stimme. Inzwischen fordert auch die „New York Times“ das Ende des Krieges und Kompromisse von der Ukraine. Denn die Gefahr eines 3. Weltkrieges ist weiterhin hoch.
Vor rund einem Monat habe ich den Offenen Brief an Kanzler Scholz initiiert, der von weiteren 27 Intellektuellen und KünstlerInnen unterzeichnet wurde. Innerhalb von nur wenigen Tagen hat dieser Brief die Meinungen und Debatten in Deutschland tiefgreifend verändert, wie auch Umfragen belegen. Die bisher stumme Hälfte der Bevölkerung hat jetzt eine, hat viele Stimmen. Endlich wird diskutiert. Doch unter dem Eindruck der täglichen Bilder des Grauens kommen die Menschen zu unterschiedlichen Schlüssen. Was ist richtig: noch mehr Waffen – oder schnellstmögliche Verhandlungen?
Bis dahin waren in den Medien fast ausschließlich BefürworterInnen weiterer Waffenlieferungen und GegnerInnen von Verhandlungen zu Wort gekommen. Heute wissen wir, dass die Hälfte der Bevölkerung für Kompromisse plädiert, nicht zuletzt, weil sie zu recht die Gefahr einer Eskalation bis hin zu einem atomaren Weltkrieg fürchtet.
Im Fernsehen sehen wir nur Helden oder Opfer. Hie Putin, der auf dem Roten Platz seine Armee aufmarschieren, oder Selenskyi, der vor den Trümmern seine Muskeln spielen lässt; da verstümmelte Männer, vergewaltigte Frauen und verlorene Kinder.

GEDEMÜTIGTE MACHOS SIND LEBENSGEFÄHRLICH, ALS EHEMÄNNER WIE ALS PRÄSIDENTEN
„Es wäre furchtbar, wenn Putin diesen Krieg gewinnt“, hat der Generalsekretär der NATO, Jens Stoltenberg gesagt und hinzugefügt: „Noch furchtbarer wäre nur, wenn Putin den Krieg verliert.“

Will sagen: Die Helden dürfen ihr Gesicht nicht verlieren. Gedemütigte Machos sind lebensgefährlich, als Ehemänner wie als Präsidenten. Toxische Männlichkeit heißt das. Und wenn dann so ein Mann auch noch über die größte Atommacht der Welt verfügt, ist er nicht nur für seine direkten Gegner gefährlich, sondern für die ganze Welt.

Der Offene Brief an Kanzler Scholz. Die Chronik der Ereignisse. Die ErstunterzeichnerInnen in den Medien.
Der Offene Brief an Kanzler Scholz. Die Chronik der Ereignisse. Die ErstunterzeichnerInnen in den Medien.
Wir 28 sind nach der Veröffentlichung unseres Briefes zunächst einmal heftig und nicht selten hämisch angegriffen worden als: „Vulgärpazifisten“ und „Sofapazifisten“ oder als „total naiv“ und „daneben“.

Zum Glück ist die Mehrheit von uns 28 medienerfahren. Wir gingen und gehen an die Medienfront und stellen Missverständnisse sowie böswillige Unterstellungen klar. Nein, wir sind nicht für „Kapitulation“, sondern gratulieren der Ukraine zur erfolgreichen Gegenwehr. Doch wir fragen uns, ob nach der Verteidigung von Kiew nicht der Zeitpunkt gekommen ist, an den Verhandlungstisch zu gehen. Nicht zuletzt, weil uns die fortschreitende Zerstörung und das Leid der Ukraine tief bewegt, bezweifeln wir, dass der erhoffte Verhandlungsvorteil – der vielleicht, vielleicht!, nach weiteren Wochen oder Monaten Kämpfen zu erzielen wäre – dafür steht: für weitere tausende von Opfern in der Ukraine.

Ganz zu schweigen von den zu erwartenden Millionen Hungertoten im globalen Süden, als Folge dieses Krieges. Denn längst wirft der Krieg in der Ukraine seine Schatten über die ganze Welt. ExpertInnen sprechen schon jetzt von der „größten humanitären Katastrophe“ unserer Zeit.

Es wäre nicht das erste Mal, dass die Folgen eines Krieges ungleich dramatischer sind, als es die Folgen eines Kompromisses sein können. Selbst nach der – hoffentlich baldigen – Beendigung dieses Krieges werden Millionen von bewaffneten und kriegstraumatisierten ukrainischen Männern im Land sein; plus tausende streunende Söldner, Berufs- wie Hobbykiller. Die vergewaltigten Frauen werden dann in der Ukraine nicht mehr als Opfer gelten, sondern als „Schlampen“ (Das berichten Ukrainerinnen schon jetzt). Und die Mafia sowie die islamistischen Terroristen freuen sich schon auf die Tonnen von Waffen, die nach einem Waffenstillstand in ganz Europa verdealt werden.
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MAN MUSS MIT PUTIN REDEN. DAS IST KEINE MORALISCHE, SONDERN EINE MACHTFRAGE
Aber man kann doch mit einem Verbrecher wie Putin nicht reden, heißt es bei den Wohlmeinenden. Tja, man muss wohl, ob man es will oder nicht. Das ist keine moralische, sondern eine Machtfrage. Wir verhandeln ja sogar mit den Taliban. Auch ist es nicht das erste Mal, dass der Präsident einer Weltmacht sich einen kriegerischen Überfall in einem schwächeren Land erlaubt. Stichwort Vietnam oder Irak oder Libyen. Der völkerrechtswidrige Überfall des Irak durch Amerika und seine Alliierten (darunter die Ukraine) forderte 2003 zehntausende von Toten und hinterließ verbrannte Erde. Und wir haben trotzdem weiter mit George W. Bush geredet.

Präsident Selenskyi und sein fragwürdiger Botschafter in Deutschland fordern ohne Unterlass noch „mehr schwere Waffen“ vom Westen. Im Namen der Opfer. Doch wollen wirklich alle Kämpfenden in der Ukraine Helden sein? Auch all die 18- bis 60-jährigen Ukrainer, die vom ersten Kriegstag an zwangsmobilisiert wurden? Unter ihnen hatten drei von vier vermutlich zuvor noch nie eine Waffe in der Hand. Wie stehen deren Überlebenschancen?

In dieser Debatte versuchen unsere KritikerInnen, den Begriff „Pazifismus“ zum Schimpfwort zu degradieren. Zeit also, klar zu sagen: Ja, ich bin Pazifistin! Immer gewesen. Ich bin allerdings keine absolute, sondern eine relative Pazifistin. Eine, die sich, wenn es sein muss, auch mit Gewalt verteidigt – und dies selbstverständlich auch der Ukraine zugesteht. Doch auch eine, die weiß, dass Krieg immer das größte Übel ist.
Wäre dieser Krieg noch wenige Wochen vor Ausbruch vermeidbar gewesen? Mitte Dezember 2021 soll Putin Washington Verhandlungen angeboten haben zur Lösung des Ukraine-Konfliktes. Washington habe nicht geantwortet, heißt es. Gab das den Ausschlag? Denn – und das weiß vermutlich nur der grüne Rüstungsexperte Hofreiter nicht – dieser Krieg in der Ukraine ist weit über den territorialen Konflikt hinaus ein Stellvertreterkrieg zwischen Amerika und Russland.

DIE NEW YORK TIMES STELLT DIE ZENTRALE FRAGE: WAS IST DAS ZIEL DIESES KRIEGES?
Gerade wacht das bisher aus der Ferne so rüstungs- und kampffreudige Amerika auf. Nach der Gewährung weiterer 40 Milliarden Dollar an die Ukraine für Waffenkäufe (die vermutlich überwiegend bei der US-Waffenindustrie getätigt werden) stellt die einflussreiche New York Times (NYT), die Medienstimme der Demokraten, die Frage nach dem Ende des Krieges. Es könne schließlich nicht sinnvoll sein, „sich in einen totalen Krieg mit Russland zu stürzen, auch wenn ein Verhandlungsfrieden der Ukraine einige harte Entscheidungen abverlangen könnte“. Drei Monate nach Kriegsbeginn stellt die NYT nun die zentrale Frage: Was ist eigentlich das Ziel des Krieges? Da stehen nur drei Optionen im Raum.
1. Die Vertreibung des russischen Okkupators aus dem gesamten Gebiet der Ukraine, inklusive der Krim und dem seit langem umkämpften Donbass. – An diesen beiden Punkten wird Putin nicht zurückweichen wollen. Und es ist schwer vorstellbar, wie die kleine Ukraine die Weltmacht Russland dazu zwingen könnte.
2. Die Vertreibung des russischen Okkupators aus der Ukraine bei Verzicht auf die Krim sowie der Umsetzung des schon 2014 vereinbarten Sonderstatus für den Donbass (Minsker Abkommen). Plus einer neutralen, NATO-freien Ukraine. – Das wäre realistisch. Dazu müssten allerdings beide Seiten Kompromisse machen, auch Selenskyi, wie die NYT schreibt.
3. Ein Krieg mit dem Ziel, dass „Putin nie mehr ein anderes Land angreifen kann“. Oder, um es mit US-Verteidigungsminister Austin zu sagen: „Wir wollen Russland so sehr geschwächt sehen, dass es zu etwas wie dem Einmarsch in die Ukraine nicht mehr in der Lage ist.“ Also die totale Entmachtung Russlands. – Was fatal wäre. Nicht nur für Russland, sondern für die ganze Welt. Denn darauf würde Putin wohl mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln reagieren. Mit allen. Das haben wir ja bereits an seinem brutalen Überfall auf die Ukraine gesehen.

RUSSISCHE TRUPPEN AN DER MEXIKANISCHEN GRENZE – WIE WÜRDEN DIE USA REAGIEREN?
Auch dürfen wir nicht vergessen: In dem von Deutschland verantworteten Zweiten Weltkrieg hatte die Sowjetunion über 27 Millionen Tote zu beklagen. Und heute hat Russland mit der Ukraine eine 2.300 Kilometer lange, gemeinsame Grenze. Die NATO stünde also bei einem NATO-Mitglied Ukraine ante portas. Das wäre vergleichbar mit russischen Truppen und Raketen an der mexikanischen Grenze zu den USA. So etwas würden auch die USA nicht hinnehmen.
Das ist die reale Lage, über die geredet werden muss. Dagegen darf nicht das tägliche Leid der ukrainischen Bevölkerung ausgespielt werden. Mitgefühl statt Analysen? Nein. Beides! Eine realistische Analyse der Machtverhältnisse nutzt auch den Menschen in der Ukraine mehr als Denkverbote und Illusionen. Darin sind wir 28 uns einig.
Jüngst hatten wir eine Videokonferenz. Die meisten von uns haben sich dabei erstmals von Angesicht zu Angesicht erlebt. Wir sind sehr unterschiedlich. Aber keine und keiner von uns 28 hat in den vergangenen Wochen auch nur eine Sekunde daran gezweifelt, dass es richtig war, diesen Offenen Brief an Kanzler Scholz zu schreiben; ihn darin zu bestärken, besonnen zu bleiben und die schon jetzt auch für uns spürbaren grauenvollen Folgen dieses Krieges nicht aus dem Auge zu verlieren. Von einem sehr real drohenden Weltkrieg ganz zu schweigen.
ALICE SCHWARZER
… Alles vom 1.6.2022 bitte lesen auf
https://www.emma.de/artikel/ja-ich-bin-pazifistin-339529

 

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