Angst und Religion

(1) Die Angst als bestimmendes Gefühl des Menschen und (2) die friedensstiftende Kraft von Religion – diesen beiden Grundfragen widmet sich der Theologe und Psychologe Eugen Drewermann in seinem Werk „Die Spirale der Angst – Der Krieg und das Christentum“. Dabei kommt er zu einem ganz und gar nicht optimistischen Schluß: Angst erzeugt Aggression, Bewaffnung und Krieg. Nur die Religiösität kann den Menschen aus seiner Angst befreien. Doch das Christentum in seiner derzeitigen Verfassung hat mehr Angst gefördert als befriedet.
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(1) Angst führt zu Krieg: Angst ist der Preis des Menschen für seinen Intelligenz, Vernunft und Fähigkeit zu vorausschauendem Handeln. Das Grundgefühl der Angst haben schon kleine Kinder: „Willst du ein Geschwisterchen?“ Nein – aus Angst vor der Konkurrenz. Der Mann als Jäger, Waffen, Revierabgrenzung – männliche Eigenschaften um Kraft und Kampf finden eine Aufwertung in Richtung Patriarchat, während weibliche Eigenschaften um Bewahren und Gemüt in den Hintergrund gedrängt werden.
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(2) Religion könnte Kriege verhindern: Jede Religion muß daran gemessen werden, inwieweit sie die Urangst des Menschen (vor Verlust und Tod) dämpfen kann. Das Christentum hat nach Drewermann in der Vergangenheit eher Ängste und damit Kriege gefördert als angebaut – und tut dies heute noch. Die katholische Kirche als Männerverein mit ihrem verängstigendem Zeigefinder-Moralismus.
Buddhismus, Hinduismus (Ghandi) und Taoismus siehtDrewermann alseher friedliebend, aber diese Religionen waren nie staatstragend.
Wenn eine Religion – wie durch die Aufklärung geschehen – an Macht verliegt, dann muß sie um ihre Existenz bangen. Das Christentum hat dies erfahren, der Islam wehrt sich dagehen (Tibi muß seine Vorschläge zum Euro-Islam begraben).
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Zwei aktuelle Beispiele:
Zu (1) Angst fördert Krieg:
Deutschland wuchs von 56 Mio (1900) auf 82 Mio (2000 wie auch 2017). Ägypten wuchs von 11 Mio (1900) über 64 Mio (2000) auf 94 Mio (2017). Die gewaltige Bevölkerungsexplosion in vornehmlich islamischen Ländern (arabischer Raum, Maghreb und Afrika erzeugt Youth Bulges und läßt den Kriegsindex von Irak bis Marokko ansteigen: Die Existenzangst nachgeborener Söhne führt zu Gewalt im Inland (Takir-Platz in Kairo), Gewalt im Ausland (Israel bzw. Juden als äußerer Feind) und schließlich zur Migration. Im April 2017 sind über 80% der jungen Männer bereit, Ägypten sofort zu verlassen in Richtung EU, wenn sie es nur könnten. Die Flüchtlingswelle ist erst am Anfang ihrer Entwicklung.
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Zu (2) Religion könnte Frieden fördern, tut es aber leider nicht:
Im Südsudan (doppelt so groß wie Deutschland bei nur 12 Mio Einwohnern) tobt im April 2017 ein furchtbarer Krieg. Beide Kriegsparteien sind christlichen Glaubens, beide kämpfen im Namen des gleichen Gottes. Die christliche Religion verstärkt Angst vor dem und Aggression gegen den jeweiligen Gegner. Es geht letztendlich um Gebiete mit Erdölvorkommen.
19.4.2017

 

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Zusammenfassung zum Buch „Eugen Drewermann: Spirale der Angst“

Zwei Fragen, die bei der Lektüre des Buches von Eugen Drewermann stellen:
1. Frage: Wie entsteht Krieg und Gewalt? Beziehungsweise wodurch entsteht die menschliche Aggression, ohne die Kriege nicht möglich wären?
2. Frage: Wie kann die Aggression, beziehungsweise die Angst, die in der menschlichen Psyche verankert und als Ursache der Aggression gesehen wird, befriedet und sublimiert werden?
Die Antwort auf die letzte Frage kann von einem Theologen wie Eugen Drewermann nur religiös sein.
Zuvor ein Zitat von Mahatma Ghandi aus seinem Buch „Freiheit ohne Gewalt“:
„Es ist ein eigenartiger Kommentar auf den Westen, daß es dort, obwohl es sich zum Christentum bekennt, kein Christentum und keinen Christus gibt – sonst hätte es dort keinen Krieg gegeben.“
Gewaltlosigkeit, so Ghandi weiter, muß zu jedem Opfer bereit sein, auch zum Letzten, dem eigenen Tod, um von Furcht frei zu sein.

Zur ersten Frage: Wie entsteht Krieg und Gewalt
Aggression und Krieg ist keine Erfindung einer Gesellschafts- oder Wirtschaftsordnung oder eines Sozialsystems. Aggression war und ist von Kind auf im Menschen angelegt. Sie ist der Preis , den der Mensch zahlen muß für seine Fähigkeit zu vernünftigem, vorausschauendem Denken. Dadurch entsehen Ängste wie Existenzangst (Angst vor dem Tod) oder Verlustangst (Angst vor dem Verlust von Besitz, Macht, Einfluß, Ehre, Kultur bzw. Überfremdung).
Krieg ist zwar, wie schon erwähnt, keine Erfindung irgend einer Gesellschaftsform, die Bereitschaft zu kriegerischen Handlungen wird aber durch bestimmte gesellschaftliche Gegebenheiten befördert. wie z.B. Demütigung, Landnahme , Rechtsansprüche, Zugang zu lebensnotwendigen Ressourcen wie z.B. Wasserquellen.
So sehr die Jagd den Aufstieg der Menschheit ermöglichte, so sehr hat sie auch die Grundlagen des Krieges in die sich entfaltende Intelligenz hineingelegt. Die Gesetze des Gruppenzusammenschlusses zu einem bestimmten aggressiven Tötungszweck müssen sich kriegsbegünstigend ausgewirkt haben.
Viele Tiere in ihrer Kraft, Instinkt und Schönheit werden jedoch von den frühen Jägern höher geachtet als der Mensch. Manche Tiere genossen geradezu göttliche Verehrung. Es ist anzunehmen, daß Schuldgefühle beim Töten von Tieren bei den frühen Jägern vorhanden waren, daß Schuldgefühle also bereits seit Urzeiten im Menschen angelegt waren.
Die Notwendigkeit des Tötens, um selbst leben zu können, diese Widerspruchseinheit von Leben und Tod wurde beklagt und mußte ausgehalten werden. Religiöse Rituale waren dabei eine Hilfe. Indem die Menschen das Fleisch des Tiergottes aßen, nahmen sie selber an dem Leben und der Auferstehung des göttlichen Tieres und mithin an seiner Unsterblichkeit teil. So wie der Getötete im Akt des Essens in ein neues Leben eingeht und in gewisser Weise dadurch im Leben der Kultgemeinde unsterblich wird, so macht auch umgekehrt der unsterblich Gewordene selbst die Essenden eines ewigen Lebens teilhaftig.
Historisch gesehen ist die Vorstellung von der christlichen Eucharistie von Gott, der auf die Erde kommt und sich töten läßt um durch sein Fleisch und sein Blut zur Speise der Menschen zu werden, jedenfalls außerordentlich alt und beginnt mit Sicherheit schon in der Zeit der frühen Jäger.
Damit gibt sich die christliche Eucharistie als ein wahres Ursakrament zu erkennen. In den antiken Ackerbaukulturen des Mittelmeerraumes war ebenso das Ritual des ´´Gottessens´´ seit Jahrtausenden weit verbreitet als ein archetypischer Gedanke und mußte von der frühen christlichen Kirche nur noch zur Deutung der eigenen Glaubenserfahrung aufgegriffen und aktualisiert werden. Auch hier, in der christlichen Eucharistie opfert der Sohn Gottes sein Fleisch in Gestalt des Brotes und sein Blut in der Gestalt des Weines, um über den Tod hinaus seinen Gläubigen gegenwärtig zu sein und ihnen an seinem Tod und an seiner Auferstehung Anteil zu geben.
Ebenso der Korngott Osiris oder der Weingott Dionysos bildeten in ihrem Sterben nicht nur im materiellen, sondern vor allem im mystisch-religiösen Sinne die Grundlage des menschlichen Lebens. In der Weltsicht der alten Mythen war das Leben selbst ein Sakrament. Wenn man das Korn der Felder aß, nahm man das Leben des Korngottes zu sich.Wenn man das Blut der Reben trank, trat man selbst in den ekstatischen Bereich ein, in dem die Grenzen der irdischen Existenz in Raum und Zeit sich in die Ewigkeit hinein öffneten.
Diese urtümliche sakramentale Einheit des Menschen mit dem Gott, der durch seinen Tod zur Grundlage des menschlichen Lebens wird, setzt sich von den eiszeitlichen Jägern her bei den Pflanzern ungebrochen bis ins Christentum fort.

Lesen: Seite 301 bis 304
Weshalb gelingt dem Christentum die religiöse Heilung des Daseins, die Beruhigung der elementaren Ängste des Meschen nicht? Man muß die psychischen Gründe verstehen, die den Menschen zum Krieg befähigen.
Judentum , Christentum und Islam sind patriarchalisch strukturiert. Die Unterdrückung der weiblichen Anteile der Psyche könnte kriegsbegünstiged wirken. Mit der sozialen Rollenverteilung ging psychologisch auch eine Wertung bestimmter menschlicher Eigenschaften einher. Weibliche Eigenschaften wurden abgewertet, männliche Eigenschaften wurden aufgewertet.
Lesen: Seite 244 bis 254
Zur zweiten Frage: Wie könnte die menschliche Angst befriedet werden?
Was kann (könnte) das Christentum tun, um seinem Anspruch zu genügen, dem Frieden wenigstens ein Stück weit näher zu kommen? Wie befreit sich das Christentum von seiner seelenlosen männlichkeit ?
Das Christentum müßte die weibliche Seite der Seele, das Unbewußte religiös tiefer integrieren. Es müßte sich lösen von seiner Verstandeseinseitigkeit. Das hieße Verzicht auf Machtausübung durch moralische Vorschriften und Gängelung der Menschen. Dies hieße Abkehr von der patriarchalischen männlichen Ideologie der Machbarkeit und der moralischen Verkürzung des Menschen. Es müßte sich erinnern an die religiösen Kräfte des Gemüts, des Weiblichen, des Unbewußten. Es müßte sich abkehren von der Mythenfeindlichkeit, die es vom Judentum übernommen hat, sowie von seiner historischen Selbstverteidigung. Das Abendmahl als archetypisches Symbol, müßte von seiner christlich abendländischen Exklusivität befreit werden. Denn: Bestimmte religiöse Anschauungsweisen und Bilder sind offenbar im Menschen archetypisch angelegt. Das heißt, sie sind zu allen Zeiten, an allen Orten der Erde unabhängig voneinander hervorgebracht worden und sind den christlichen Lehrmeinungen sehr ähnlich.
Ein besseres Zeugnis für die christlichen Lehren gibt es nicht als die Feststellung, daß die Dogmen und Bilder des Christentums allesamt von den Konflikten und Spannungen, den Hoffnungen und Wünschen der menschlichen Psyche getragen und vorbereitet sind. Mythologie ist projizierte, unbewußte Psychologie. Mythen werden nie nur einfach so ersonnen, sondern entstammen dem Unbewußten des Menschen. Die Seele denkt in Bildern, d.h. indem sie Symbole schafft, kann sie sich erneuern und entwickeln.
Die Eucharistie will dem Menschen von Gott her versichern, daß ihm sein Dasein von Grund her geschenkt wird. Gott gibt also freiwillig, was der Mensch sich gewaltsam aneignen zu müssen meint. Eucharistie ist nach Art des Psychodramas ein Versuch, im Ausagieren des an sich Zerstörenden zu heilen. Eucharistie ist ein Versuch, das Ewigschuldigmachende, das Verbotene bewußt zu machen und zu tun, um es im Tun als unschuldig zu akzeptieren. Die Kriege und die Gewalt innerhalb des Christentums zeigen, daß der ethische und moralische Optimismus, wie er heute immer noch gepflegt und vertreten wird, eine Irrlehre ist. Weder Moral noch Ethik bewirken in der menschlichen Psyche eine Veränderung, solange ihre Tiefenschichten nicht angesprochen werden. Ethik und Moral gebieten oder verbieten. Religion muß versuchen, sakramental zu segnen und zu heilen. Zur Idee der Integration, der Heilung und der Vergebung muß allerdings eine Wandlung, d.h. die Verinnerlichung hinzukommen. Ansonsten dient das Symbol der Eucharistie zwar dem Gruppenerhalt, aber der Feind „lauert“ dann immer noch von außen. Nur so läßt sich verstehen, daß Kriege von kirchlicher Seite „gesegnet“ werden. Falls eine innere Wandlung, wie sie das Abendmahl eigentlich beabsichtigt, gelänge, wären Kriege undenkbar.
Man sollte der Religion nicht vorwerfen, daß sie eine Vielzahl „irrationaler“ Lehren und Gebräuche in sich birgt und aufgenommen hat, sondern daß sie in Gestalt des Christentums die Verwurzelung ihrer archetypischen Bilder im Unbewußten auf eine geradezu chizophrene Weise verleugnet hat. Die objektive Unwirksamkeit ihrer Dogmen und Riten und sakramentalen Symbole ergibt sich im Christentum gerade aus der Verstandeseinseitigkeit mit der diese Religionsform daherkommt. Gerade das Sakrament der Eucharistie sollte die Einheit alles Lebens und aller Menschen darstellen und begründen. Statt dessen ist dieses wichtige Sakrament zum Zankapfel der verschiedenen Konfessionen geworden. Erst wenn das Christentum seine Dogmen und Riten als universale und integrale Symbole verstehen lernt, die in den Tiefenschichten der Psyche des Menschen zu allen Zeiten und an allen Orten der Erde unabhängig voneinander angelegt sind, wird es zur Einheit mit sich selbst gelangen. Nur wenn das Christentum selber menschlicher wird, indem es seine eigenen menschlichen Grundlagen begreift und akzeptiert, wird es im Innern mit sich selbst friedlicher leben und nach außen hin zur Befriedung des Menschen und der Menschheit beitragen können. Aber wer von sich glaubt, im alleinigen Besitz der Wahrheit zu sein, ist nicht lernfähig und läßt keinerlei Anerkennung für den Reichtum anderer Religionen zu (siehe Kolonialzeit und Missionierung).
Ein Gottesglaube, der sich nur durch Verwüstung fremder Kulturen und durch die Eroberung und Ausbeutung fremder Länder durchsetzen läßt, muß als eine Ideologie der Herrschaft und Entfremdung, nicht aber als ein Dokument religiöser Wahrheit verstanden werden. Dies erweckt den Eindruck, daß man eine solche Religion eines Tages ohne jeden Schaden durch ein staatliches Regiment ersetzen könnte, ja, so schnell wie nur möglich ersetzen sollte.

Lesen: Seite 364 bis 365

Das umgreifende Verstehungsorgan psychischer Not und seelischer Heilung ist heute nicht die Theologie sondern die Tiefenpsychologie.
Der Friede ergibt sich zuallererst durch die Versöhntheit der eigenen Person, oder er ist nicht. Der Friede ist global, oder er ist nirgends.
Wenn die Analyse zutrifft, daß Aggression und Krieg im Wesentlichen der menschlichen Angst, die vom Bewußtsein selbst ausgeht, entstammen, so wird jede Religion und hier vornehmlich das Christentum daran zu messen sein, was sie zur Überwindung der Angst beitragen kann.
Lesen: Seite 376 bis 379?

Wann ist eine Waffe abschreckend (Seite 92 )?
Die heutige Annahme, daß die Atomwaffen ein Vernichtungspotenzial haben, das den Krieg unmöglich macht, ist fragwürdig. Zum einen hebt die moderne Waffentechnik die Tötungshemmung auf (vergleiche: Schwertkampf und Drohnen, die per Knopfdruck bedient werden, ohne daß der Bedienende irgend einen Sichtkontakt mit dem Gegner haben muß). Zum Anderen haben moderne Waffen (Chemie-, bakterielle- und Atomwaffen) ein Vernichtungspotenzial, das sich kein Mensch vorstellen kann. Was aber unvorstellbar ist, ist auch nicht abschreckend. Was man selbst tun könnte, kann auch nicht verhindern, daß es einem selbst angetan wird. Wenn die katastrophale Vernichtungskraft der heutigen Waffen bewußt und emotional erfaßt würde, wie es zur Abschreckung von Krieg notwendig wäre, bestünde die Gefahr, daß sich das menschliche Gefühl weltweit gegen sie richten und ihren Einsatz verhindern würde. Deshalb muß man sie geheim halten. Geheim gehaltene Waffen erschrecken aber niemanden. Die moderne Abschreckung basiert demnach auf Waffen, die sich dem Gefühl der Angst und dem Mitleid entziehen müssen, um überhaupt hervorgebracht und eingesetzt werden zu können. Kann mit diesem blutigen Kalkül der Antrieb (Angst) und die Reaktionsweisen des Menschen (Gruppendynamik), die immer wieder in der Geschichte zum Krieg geführt haben, kontrolliert und verhindert werden?

Gibt es eine Selbstaufhebung des Krieges durch praktische Vernunft (Seite 98)?
Da Krieg in sich selbst unvernünftig und unlogisch ist, wurde immer wieder die Hoffnung laut, daß dieselbe Vernunft und Logik, die moderne Massenvernichtungswaffen erfindet, auch dazu verhilft, den Krieg überflüssig zu machen. Der Krieg richtet sich gegen alles, was man mit seiner Hilfe zu schützen hofft. So zieht man in den Krieg, um Frauen und Kinder zu schützen. Frauen und Kinder sind aber die ersten und häufigsten Opfer des Krieges. Man zieht in den Krieg, um moralische Werte zu schützen. Moralische Werte gehen im Krieg immer verloren. Selbst dann, wenn der Ausgang des Krieges mit technischen Mitteln im voraus berechenbar wäre, durch Demütigung und Unterwerfung des Gegners bzw. des Besiegten, würden neue Kriege heraufbeschworen. Ein geplanter und gekonnter Ausrottungskrieg zerstörte jegliches Vertrauen und steigerte die Angst auf allen Seiten ins Uferlose. Einem Gegner, der den Krieg mit allen Mitteln zu führen droht, ist buchstäblich alles zuzutrauen.

Der Krieg, ein kollektiver Wahnsinn (Seite 103)
Die Utopie des Religiösen und das ethische Dilemma (Seite 107).
Das ethische und religiöse Bemühen um die Lösung der Problematik des Krieges ist so alt wie der Krieg selbst. Die wichtigsten Gedaken zum Krieg sind außerhalb des vom Griechentum und der Bibel geprägten Abendlandes entstanden (siehe die taoistische Gewaltlosigkeit). Tschuangtse meint, daß bereits der Wille, ein moralisch einwandfeier, gerechter, edelmütiger Herrscher bzw. Mensch zu sein, das Gegenteil hervorbringt. Dieselbe Einsicht wird Jahrhunderte später in der Bergpredigt verkündet. Gerade in der Bergpredigt, der Lehre vom Geist der Versöhnung, wollte und will man die spezifischen Merkmale des Christentums sehen. Würde nicht sofort Frieden herrschen auf Erden, wenn Matthäus 5 bis 7 ernsthaft befolgt würde? Man versteht aber die Bergpredigt erst, wenn man die verkrampften asketischen Willensanstrengungen der christlichen Tugendlehre vergißt und bei den Texten Laotses und Buddhas nachschlägt.
Die Lehren der Bergpredigt sind keine moralischen Anweisungen und Gebote. Sie wollen nur sagen, wie man leben und sich verhalten könnte, wenn die Angst des menschlichen Daseins durch ein tiefes religiöses Vertrauen überwunden wäre.
Wie aber lernen wir als Menschen menschlich zu leben und zu tun, was sich alle Religionen zum Ziel gesetzt haben: Die Menschwerdung des Menschen zu ermöglichen? Welchen Beitrag dazu könnte die Religion des Christentums leisten? Das Christentum verfügt nämlich an und für sich über ein sehr breites Spektrum archetypischer Riten und Symbole, die über die Ohnmacht der religiösen Lehre hinaus in einer Art universeller Psychotherapie Frieden stiftend wirken könnten, wenn sie sich in ihrem eigenen Lösungsansatz tief genug begreifen würden. Wenn die Analyse zutrifft,daß der Krieg im Wesentlichen der menschlichen Angst entstammt und zwar einer Angst, die vom Bewußtsein selbst ausgeht, so wird jede Religion und hier vornehmlich das Christentum daran zu messen sein, was sie zur Überwindung der Angst beitragen kann.

Die Fehler des Christentums (Seite 177)
Die Geschichte des Christentums ist zu blutig, als daß sie nicht den Glauben an ein friedfertiges Christentum Lügen strafen müßte. Bei einer solchen Vielzahl von unchristlichen Kriegen und einer derart hemmungslosen Ausweitung und Entwicklung der Kriegsmittel, kann es sich nicht nur um Einzelverfehlungen handeln, die mit ein wenig gutem Willen zu beseitigen wären. Weshalb gerät das Christentum immer wieder in Widerspruch zur eigenen Lehre? Welche innere Pathologie läßt die eigenen Absichten ins Gegenteil verkehren?
Zuallerest muß hier das Erbe der Bibel gesehen werden. Die Bibel, als historisch bedingtes Menschenwort, ist geprägt von dem kulturellen Umkreis ihrer Entstehung, und diese war kriegerisch. Der Gott der Juden war auch Kriegsgott. Das kriegerische Erbe der Semitischen Stämme, angefangen bei den „Kindern Israels“ , ist auffallend. Dazu gehört die Ausrottung und Vertreibung ganzer Völker als „die rechte Art“ des „Heiligen Krieges“ , die ein Stammesgott zur eigenen „Ehre“ und zum „Nutzen seines eigenen Volkes“ gebietet. Die wenigen Stellen der Bibel, wo es sich um friedliche Äußerungen handelt wie z.B. in Jes. 2 Vers 4: „Schwerter zu Pflugscharen“, werden heute als Zeugnis des biblischen Pazifismus bemüht. Dagegen steht in Jes. 2 unmittelbar danach, wie man sich den „Frieden Gottes“ vorzustellen hat: Als Sieg über die sogenannten Heidenvölker. Die Bibel liefert dafür genügend andere Beispiele:
Psalm 144 V. 1 : Der meine Hände den Kampf lehrt und meine Fäuste den Krieg.
Psalm 137,V.9 : Der die Säuglinge des Feindes packen und sie mit ihren Köpfen am Fels zerschmettern wird.
Psalm 58, V. 11: Wo man den „Gottlosen“ der Erde wünscht, sie mögen zerfließen wie der Schleim der Schnecke.
Psalm 110 spricht davon, wie der Erwählte Gottes den besiegten Feinden in den Nacken tritt und Gericht unter den Heiden hält, daß es voll wird von Leichen.
Weder dem Christentum, noch dem Judentum, noch dem Islam ist es bis heute gelungen, dieses kämpferische Erbe des alten Testaments mit seinem nationalegoistischem Horizont abzustreifen.
Zum Erbe des alten Testaments gehört auch die Fremdheit des biblischen Denkens gegenüber der äußeren Natur. Der biblische Mensch steht im Mittelpunkt, die Natur bleibt außen vor und kann rücksichtslos ausgebeutet werden. „Der Mensch mache sich die Erde untertan“. Die Gewalttätigkeit gegenüber der Natur ist nur die Außenseite der Gewalttätigkeit gegen sich selbst. Man vergleiche das Judentum, das Christentum und den Islam mit dem Buddhismus, dem Taoismus oder mit dem iranischen Zaratustra und deren Umgang mit den Tieren und der Natur. Die Art und Weise, wie eine Religion über den Umgang des Menschen mit der Natur und den Tieren denkt und handelt, ist das beste Kriterium zur Beurteilung seiner Menschlichkeit.
Zum oben Genannten hinzu kommt die vom Patriarchalismus geprägte Verstandeseinseitigkeit des biblischen Menschen und seine Fremdheit gegenüber der inneren Natur (Seite 195).
Die Unterdrückung der äußeren Natur führt zur Unterdrückung der inneren Natur. Die Zentrierung der Welt auf den Menschen als den vernunftbegabten Teil der Kreatur kann auch im Menschen selbst nur die rationalen Kräfte wie Verstand und WIllen gelten lassen. Die Welt der Triebe, der Instinkte, des Unbewußten , des weiblichen wird als etwas Unvernünftiges bekämpft. Allen drei monotheistischen Religionen wie Judentum, Christentum und Islam ist diese Einseitigkeit eigen. Sie wird jedoch im Christentum durch den Rationalimus des griechischen Denkens und den Dogmatismus gegenüber den heidnischen Mythen verschärft. Dies bedeutet psychologisch:
a) Die Unterdrückung der menschlichen Aggression
b) Moralismus im Denken, d.h. das ethische Mißverständnis des Religiösen
c) Unterdrückung der Sexualität
d) Patriarchalische Abwertung des Weiblichen
e) Unterdrückung der archetypischen Bilder des kollektiv Unbeewußten
Indem es die triebhaften, unbewußten Regungen der menschlichen Psyche verdrängte und ignorierte, oder noch schlimmer, moralisch dirigierte, vermehrte das Christentum das Feld der Angst und der Schuldgefühle, aus denen sich dann die Aggression speist. Psychologisch muß man deshalb das Christentum an der Häufigkeit und Furchtbarkeit der Kriege im christlichen Abendland mitschuldig sprechen.

Die Notwendigkeit der Tiefenpsychologie für eine theologische Lehre von Sünde und Erlösung (Seite 209)
Aufgabe der Religion wäre es, die fundamentale Angst des Menschen und ihre Gründe bewußt zu machen und sie vom Glauben her zu überwinden. Die Religion selbst müßte darauf vertrauen, daß der Schutz des menschlichen Lebens ganz und gar in den Händen Gottes liegt. Die Theologie bedürfte aus diesem Grund die Einsicht der Tiefenpsychologie in die Strukturen und Mechanismen des Unbewußten in seinen Erlebnis- und Verarbeitungsweisen von Angst und Aggression.
Solange die Theologie aber das Unbewußte nicht anerkennt, bleibt nur die Verdrängung und Verteufelung der menschlichen Triebe. Die aus dieser Angst entstehende Aggression entlädt sich dann nach außen in Form wie z.B. Konkurenzkampf oder Krieg, nach innen als Depression oder Drogensucht. Nicht durch Drohung oder ethisch moralische Gesetze, sondern nur durch ein tiefes Verständnis seiner Not im Feld der Angst wird man dem Menschen zu einer Haltung des Vertrauens und der Angstberuhigung im Glauben führen können.
Indem aber das Christentum den Menschen systematisch auf seinen Verstand und Willen verkürzt hat, kann es gar nicht anders sein, als daß es in der Diskussion um den Frieden seit Jahrtausenden rein moralisierend an seiner eigenen Lehre ebenso vorbeiredet, wie an den Menschen, die es zum Frieden führen will.
Was im Augenblick über den Frieden unter Zuhilfenahe der Bergpredigt gesagt wird, ist nichts anderes als selbstgefälliger Zweckoptimismus. Man hat am Ende zwar immer alles richtig gesagt, man hat, bevor der Patient am Fieber starb, gesagt, er dürfe nicht so hitzige Phantasien haben, keine Schweißausbrüche und sein Puls müsse ruhiger schlagen. Alles richtig und trotzdem Kurpfuscherei. Friede kann nur erwachsen aus der inneren Erfahrung der Ganzheit und der Verbundenheit mit seinem Ursprung. Macht man dem Menschen seine Friedlosigkeit mit moralischen Ge- und Verboten zum Vorwurf, so erreicht man nur, daß seine innere Zerrissenheit noch weiter zunimmt. Die Bergpredigt enthält, wie schon erwähnt, weder Ethik noch Moral. Sie beschreibt nur, wie Menschen sich verhalten, die ohne Angst sind.

Glaubenskriege
Nachdem durch die Verdrängung der unbewußten Kräfte der Mensch selbst als ein Wesen mit Verstand und Willen aufgefaßt wird, ist auch die Beziehung zu Gott, das Bekenntnis des Glaubens, ein Akt des Verstandes, befohlen vom Willen. Und im Dienst dieses Glaubens muß sich die verdrängte Aggression entladen. Die Folge sind Glaubenskriege nach außen und Inquisition nach innen. Entzieht man einer solchen Religion die Macht, wie es seit der Aufklärung geschieht, muß sie um ihre Existenz bangen.
Gerade die Worte der Bergpredigt, wenn sie ihres religiösen Erfahrungshintergrundes entkleidet und gegen ihren eigentlichen Sinn in moralische Ideale verwandelt werden, führen zum Kampf gegen eingebildete oder wirkliche Repräsentanten des eigenen verdrängten Materials. Ein Beispiel dafür ist der radikale Terror innerhalb sogenannter pazifistischer Gruppen (Antifa, Rote Armeefraktion).
Auf diese Weise führt der ethische Optimismus zu einer Polarisierung zwischen den moralisch Guten und den moralisch Bösen, d.h. zur Spaltung der Gesellschaft. Steht erst einmal fest, wer oder was als absolut böse gelten muß, wird der moralische Pazifismus nach außen hin so terroristisch, wie er es psychologisch von Anfang an war. Der ethische Optimismus als Glaube an das Machbare des Friedens, ist in sich selbst terroristisch.

Der Friede des Nicht-Machens (Seite 230)
Für eine Religion, die sich der Wahrhaftigkeit verpflichtet fühlt, sollte die Frage „Wer bin ich selbst?“ wichtiger sein als die Frage „Was muß ich tun?“. Die innere Wahrheit des Menschen, seine Wichtigkeit als Einzelner, sollte vorrangig sein vor der Richtigkeit seines Handelns.
Der Religion sollte es nicht um die äußere Korrektur, sondern um die innere Versöhnung des Menschen, nicht um seine Erziehung, sondern um seine Erlösung, nicht um seine Verbesserung, sondern um seine Begnadigung gehen. Das Nicht-Machen und das Verstehen könnte den inneren Frieden und damit auch den äußeren Frieden des Menschen ermöglichen.
Aber wie weit ist das Christentum gegenwärtig davon entfernt?

4. April 2017, Anita Kaier, zu:

Eugen Drewermann:
Die Spirale der Angst
Der Krieg und das Christenzum – Mit vier Reden gegen den Krieg am Golf
436 S., Herder Verlag, 2. Auflage 1991
ISBN 3-451-04003-4
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