Abitur ungleich Hochschulreife

Die Abiturnoten werden immer besser: In Hessen 2,46 in 2009 auf 2,42 in 2013, die Rate der 1,0-Abiture stieg von 1,2% auf 1,6% eines Jahrgangs. In NRW verdoppelten sich die 1,0-Abis zwischen 2007 und 2011. Gleichzeitig aber melden die Universitäten Das Abitur qualifiziert nicht mehr zum Studium“ und richten Vorbereitungskurse ein, in dem die Erstsemester das nachholen (Lerntechniken, Rechtschreibung, Rechnen, …), was bis zum Abi eigentlich hätte „sitzen“ müssen.
Der Bund zahlt für diese „universitäre Nachhilfe“ als neue Schulart 2 Mrd Euro an die Länder. Eine der vielen Grotesken des „Merkelismus“ zu Lasten des Steuerzahlers: Was die Kultusminister an verkürzter Schulzeit (G9 > G8) einsparen, geben die Wissenschaftsminister für Brückenkurse wieder aus.
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Volker Ladenthin, Professor für Erziehungswissenschaften an der Uni Bonn und Kritiker zu „Bologna-Reform“ und „Pisa-Zirkus“, verfasste nach Auswertung von über 1000 Erstsemester-Klausuren den Weckruf „Da läuft etwas ganz schief“ im Organ des deutschen Hochschulverbandes https://www.forschung-und-lehre.de. Darin fragt er ungläubig: „Wie konnten sie denn in der Schule lernen? Ohne Lerntechniken?“.
Deutschland hat keine nennenswerten Rohstoffe – außer Bildung. Doch diese geht in den Jubelstatistiken der guten Abiturnoten unter: „Das Abitur qualifiziert nicht mehr zum Studium“ lautet Ladenthin’s erschreckendes Fazit, das Abi sei offenbar „sinnlos“ geworden. Unser derzeitiger Wohlstand und Wirtschaftsboom beruht darauf, daß Deutschland früher einmal „Bildungsnation Nr. 1“ (Bildung, Forschung, Science) war. Aus diesem „war“ muß wieder ein „ist“ werden – andernfalls läßt sich unser Sozialstaat in Zukunft nicht mehr finanzieren.
18.12.2018.

Studenten können kaum zwischen Theorie und Realität unterscheiden
Es fehlt an Urteilskraft im Umgang mit parallelen oder gar widersprüchlich zueinander stehenden Theorien – etwa der Differenz einer Sozialisations- und einer Bildungstheorie. Theorien werden nicht als Theorien referiert, sondern als unmittelbar realitätsbezogene Aussagen: Statt „Wehler stellt die These auf, dass das Bildungssystem ungerecht sei“, wird im Referat formuliert: „Das Bildungssystem ist ungerecht.
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Der „Berichts­charakter“ kann bei Referaten sprachlich nicht durchgehalten werden, was unter anderem dadurch bedingt ist, dass der Konjunktiv I im Deutschen keineswegs sicher gebildet werden kann. Der Frage nach Voraussetzungen von Thesen („Wer behauptet, dass etwas ungerecht sei, muss ein Kriterium haben für das, was gerecht und ungerecht ist“) wird mit dem Hinweis begegnet, davon stehe aber nichts im Text. Dem Hinweis, dass man dann eben die Voraussetzungen selbst bedenken müsse, wurde entgegengehalten, dass man als Studenten doch keine Texte von Professoren kritisieren könne.
… Alles von Prof Volker Ladenthin zu
„Da läuft etwas ganz schief. Erfüllt das Gymnasium nicht mehr seine wesentlich Aufgabe: Junge Menschen studierfähig zu machen? Eine Kritik aus erziehungswissenschaftlicher Sicht.“ vom 6.8.2018 bitte lesen auf
https://www.forschung-und-lehre.de/lehre/da-laeuft-etwas-ganz-schief-894/
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Studenten sind kognitiv kaum zu Abstraktion fähig
Wolfgang Müller: „Abitur heißt nicht Hochschulreife –
Rabenschwarze Betrachtungen zu Bildung, Schule und Universität in der Ära Merkel“
Für den Erziehungswissenschaftler (Prof Ladenthin) erschöpfen sich die schlimmen Konsequenzen eines derart defizitären Schulunterrichts nicht darin, daß „Kommaregeln so gut wie gar nicht systematisch angewandt“ würden, bei Groß- und Kleinschreibung, auch „dank“ der famosen Rechtschreibreform, die Unsicherheit epidemisch sei, oder achtzig Prozent der Klausuren „ein oft nur schwer lesbares Schriftbild“ zeigten – „mit Schriftzeichen, die keinem einheitlichen Alphabet mehr zugeordnet werden können“. Darüberhinaus beschädigen negative Auswirkungen des an ökonomischen Standards angepaßten, auf „Kompetenzen“ statt Bildung ausgerichteten Unterrichts mittlerweile die geistigen Grundlagen vernünftiger Praxis.
So schockiert Ladenthin mit dem Befund, wonach Studierende „mehrheitlich kognitiv kaum zu Abstraktion fähig sind“. Um ihnen komplexe Texte wie die Wilhelm von Humboldts (1767–1835), pikanterweise ein Urheber des modernen preußisch-deutschen Bildungssystems, zu erschließen, bedürfe es „erheblicher Einhilfen“. Auch bereite eigensprachliche Reproduktion Schwierigkeiten. Texte könnten in der Regel nicht „komplex, systematisch vollständig und in eigenen Worten“ zusammengefaßt werden. Nicht einmal der Gedankengang werde strukturiert, in Haupt- und Nebenargumente getrennt, so daß der Interpret keine Bedeutungshierarchie freilege. Deshalb markiere er mit dem Marker kurzerhand alles – einfarbig.
… Alles vom 14.12.2018 von Wolfgang Müller zu „Abitur heißt nicht Hochschulreife –
Rabenschwarze Betrachtungen zu Bildung, Schule und Universität in der Ära Merkel“
bitte lesen in: Junge Freiheit 51/18, Seite 19, https://www.jungefreiheit.de
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Nicht abgelegte kindliche Egozentrik der Studierenden
Kritik wird als narzißtische Kränkung empfunden: Wie Sprache und Denken korrelieren, „schlechter Stil faules Denken verrät“ (Friedrich Nietzsche), ungenügende Grammatikkenntnisse Barrieren intellektueller Realitätsverarbeitung darstellen, demonstriert Ladenthin am gestörten Verhältnis zum Konjunktiv I, an der Verwechslung konditionaler Aussagen mit kausalen Erklärungen, an der Unfähigkeit, Theorien als Theorien zu referieren. Aus „A stellt die These auf, das Bildungssystem ist ungerecht“ werde etwa im Referat eine unmittelbar realitätsbezogene Aussage: „Das Bildungssystem ist ungerecht.“
Diese nahezu autistische Weigerung, mit der Wirklichkeit Kontakt aufzunehmen, erklärt Ladenthin mit Jean Piaget: Es handle sich um „nicht abgelegte kindliche Egozentrik“. Zu deren Kultivierung bot die Schönwetter-Demokratie der Bundesrepublik mit ihrem Mangel an authentischer Lebenserfahrung ideale Voraussetzungen. Etwas anderes als die eigene Wirklichkeit, das Hier und Jetzt, ohne historisches Bewußtsein, ist ihren Geschöpfen nicht vorstellbar.
Daher gehöre „geringe Frustrationstoleranz“, das aus US-Seminaren importierte „Schneeflöckchen“-Syndrom, inzwischen zum seelischen Normalhaushalt auch deutscher Studenten. Lernen und Kritik werde als narzißtische Kränkung empfunden.
Nach dreißig Dozenten-Jahren, so berichtete der konsternierte Ladenthin, habe er erstmals erfahren müssen, daß Studierende nach der Kritik an ihrem Gruppenreferat in Tränen ausbrachen. Dazu passe die zunehmende Unselbständigkeit dieser jungen Erwachsenen, die beim Lernen und in Prüfungen davon ausgingen, andere würden alles Wichtige für sie erledigen.
Eigenes Denken gerate folglich aus der Mode. Problembewußtsein? Weitgehend Fehlanzeige. Sinn für die Komplexität des Daseins und den nicht relativierbaren Sinn lebensweltlicher Entscheidungen? „Fehlen nahezu völlig.“ Desto rigoroser würden eigene Erfahrungen verabsolutiert. Wissenschaftliche Aussagen seien mithin „Ansichtssage“. Es gebe „eh keine Wahrheit“. Universitäres Wissen sei allenfalls prüfungsrelevant, dürfe danach aber ohne Schaden vergessen werden.
… Alles vom 14.12.2018 von Wolfgang Müller zu „Abitur heißt nicht Hochschulreife –
Rabenschwarze Betrachtungen zu Bildung, Schule und Universität in der Ära Merkel“
bitte lesen in: Junge Freiheit 51/18, Seite 19, https://www.jungefreiheit.de

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