Stromzeitalter

d

Blick vom Schauinsland über Stohren und Münstertal ins neblige Rheintal 11/2021

 

Der lange Weg ins Stromzeitalter
Damit Deutschland bis 2045 klimaneutral wird, sollen Straßenverkehr, Industrie und die Heizung daheim mit Strom laufen. Wie kann der steigende Bedarf gedeckt werden? Ist Strom stets besser fürs Klima?
In Zukunft soll ein Großteil der deutschen Energieversorgung auf Elektrizität basieren – im Verkehr, in Gebäuden, in der Industrie. Zugleich sollen nach den letzten deutschen Atomkraftwerken Ende des laufenden Jahres auch nach und nach die fossilen Kraftwerke abgeschaltet werden. Wie kann das funktionieren? Wie viel Strom wird Deutschland dann brauchen? Und woher soll der kommen?

Wo steht Deutschlands Stromwirtschaft heute?
Deutschland hat im vergangenen Jahr 560 Milliarden Kilowattstunden (Terawattstunden, TWh) Strom verbraucht. Das ergab eine erste Schätzung der AG Energiebilanzen. Die Stromerzeugung lag mit 580 TWh darüber. Deutschland hat also mehr Strom produziert als verbraucht; deshalb war die Bundesrepublik Nettoexporteur – wie in jedem Jahr seit 2003. Die Stromerzeugung erfolgte zu 41 Prozent aus erneuerbaren Energien, zu 28 Prozent aus Kohle, zu 15 Prozent aus Erdgas und zwölf Prozent aus der Atomkraft (rundungsbedingte Differenz).

Wie hoch wird der Stromverbrauch in Zukunft sein?
Deutlich höher, sagen alle Prognosen aus Politik und Energiewirtschaft. Das Bundeswirtschaftsministerium rechnet für 2030 mit einem Verbrauch von 645 bis 665 TWh – mindestens 15 Prozent mehr als heute, andere Akteure mit deutlich mehr. Die Deutsche Energieagentur setzt für 2030 bereits 698 TWh an und für 2045 gar 910 TWh. Eine Kooperation zahlreicher Institute kommt im jüngst erschienenen Ariadne-Report mit dem Titel „Deutschland auf dem Weg zur Klimaneutralität 2045“ gar auf einen Strombedarf von bis zu 1580 TWh 2045, was fast eine Verdreifachung des heutigen Verbrauchs wäre. Grund sei „die direkte und indirekte Elektrifizierung der Energienachfrage“.

Welche Sektoren sind verantwortlich für den steigenden Stromverbrauch?
Nehmen wir an, es gebe nur noch E-Autos auf Deutschlands Straßen: Für diesen Fall lässt sich der Verbrauch gut abschätzen, wenn man annimmt, dass das Verkehrsaufkommen sich nicht ändert. Heute legen Autos in Deutschland jährlich 650 Milliarden Kilometer zurück. Bei einem mittleren Verbrauch von 18 Kilowattstunden pro 100 Kilometer eines E-Autos ergibt sich ein zusätzlicher Stromverbrauch aller Autos von rund 120 TWh jährlich. Nimmt man an, der Lkw-Verkehr würde ebenso komplett elektrifiziert (alle technischen Herausforderungen mal hintangestellt), kämen mindestens weitere 50 TWh hinzu.

Ein weiterer Sektor sind Gebäude. Will man alle Wohngebäude elektrisch mit Wärmepumpen beheizen, ergibt sich folgende Abschätzung: Angenommen, der mittlere Heizenergiebedarf sinkt dank Sanierungen auf 100 Kilowattstunden pro Quadratmeter (heute: 130), so ergibt sich bei aktuell 48 Quadratmetern Wohnfläche pro Kopf ein Verbrauch an Heizwärme von 4800 Kilowattstunden im Jahr. Wird diese mit einer effizienten Wärmepumpe (vier Kilowattstunden Wärme pro Kilowattstunde Strom) bereitgestellt, ergibt sich ein zusätzlicher Stromverbrauch von 1200 Kilowattstunden pro Kopf. Das sind 100 TWh für ganz Deutschland. Hinzu kommen weitere Gebäude, etwa öffentliche Bauten und das Gewerbe.

Die Industrie hat am deutschen Energieverbrauch einen Anteil von 30 Prozent. Bei voller Elektrifizierung ergäbe sich ein zusätzlicher Strombedarf von mehreren Hundert TWh pro Jahr. Nutzt man alternativ Wasserstoff, so müsste der erst produziert werden, was viel Strom verbraucht, egal, ob im In- oder Ausland. Oder man gewinnt Wasserstoff aus fossilen Energien, wobei dann CO2 entsteht.
Klimaschutzpolitik: Was bedeutet die Energiewende für Baden-Württemberg?

Wie kann Deutschland seinen steigendem Verbrauch decken?
Spätestens 2023 dürfte Deutschland erstmals seit 20 Jahren in seiner Jahresbilanz zum Stromimporteur werden. 2021 lag der Exportüberschuss bei 20 TWh, doch allein wegen der Stilllegung von drei Atomkraftwerken zum Jahreswechsel 21/22 werden in diesem Jahr 30 TWh an Erzeugung wegfallen. Durch mehr Strom aus erneuerbaren Energien könnte sich zwar für 2022 noch eine positive Exportbilanz ergeben, doch 2023, wenn auch die letzten drei Atomkraftwerke sowie weitere Kohlekraftwerke abgeschaltet sind, gilt ein Nettoimport als wahrscheinlich. Dieser dürfte – nimmt man 2021 als Maßstab – vor allem aus Frankreich, Dänemark und Norwegen kommen.

Können die erneuerbaren Energien die Lücke schließen?
Theoretisch können Sonne und Wind in Deutschland pro Jahr mehr als 1000 TWh erzeugen (2021: 237 TWh). Aber es gibt zwei Herausforderungen: Erstens würde sich das Landschaftsbild massiv ändern, was die Akzeptanz der Bürger vor Ort voraussetzt. Zweitens wäre ein erheblicher Zubau an Speichern für Dunkelflauten nötig – für Zeiten also, wenn keine Sonne scheint und kein Wind weht.

Ist Strom für das Klima wirklich besser als andere Energieträger?
Die Rechnung geht oft davon aus, dass man zur Stromerzeugung allein CO2-neutrale erneuerbare Energie nutzt. Einstweilen stimmt das aber noch lange nicht; pro Kilowattstunde des in Deutschland erzeugten Stroms wurden 2021 im Mittel 400 Gramm CO2 ausgestoßen. Bei nüchterner Bilanzierung muss aktuell stets ein solcher Wert angesetzt werden. Da dieser sich aber schon deutlich verringert hat (1990 lag er noch fast doppelt so hoch) und zügig weiter sinken soll, setzt man Strom schon heute gern pauschal als umweltfreundliche Energiequelle an. Man rechnet mit einer Konstellation der Zukunft.

Ist Strom tatsächlich immer die beste Wahl?
Nicht generell. Es gibt Einsatzgebiete, in denen erneuerbar erzeugte Wärme überlegen ist – speziell Solarthermie, die in Wärmenetze eingebunden ist. Die größte Anlage dieser Art in Deutschland steht in Ludwigsburg und Kornwestheim. Die Freilandanlage mit 14 800 Quadratmetern Kollektorfläche wurde 2020 aufgebaut; sie soll jährlich 5,5 Millionen Kilowattstunden in das örtliche Fernwärmenetz einspeisen. Noch größere Anlagen sind im Aufbau. Da die Wärmenetze in der Regel so ausgelegt sind, dass die Solarwärme auch an einem Hochsommertag komplett genutzt wird, ist die Energieausbeute bezogen auf die Fläche sehr gut.

Welche Rolle wird Wasserstoff spielen?
Das Thema wird unter Experten leidenschaftlich diskutiert, wobei darüber nicht zwingend politisch entschieden werden muss. Wenn die Politik ergebnisoffen agiert, also weder strombasierte Lösungen noch Wasserstoff marktverzerrend bevorzugt, werden am Ende Kunden, Energieanbieter und der technische Fortschritt entscheiden. Ein solcher Wettbewerb würde entstehen, würde die Politik als einziges Steuerungsinstrument einen hohen CO2-Preis ansetzen. Davon ist die Förderpolitik aber weit entfernt.

Wie teuer ist die Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien?
Solar- und Windstrom sind vergleichsweise günstig geworden – vorausgesetzt, sie stehen zur Verfügung. Photovoltaik aus Großanlagen kommt in Deutschland mitunter auf Preise von unter vier Cent pro Kilowattstunde, Windstrom an Land auf vier bis acht Cent. Da können konventionelle Kraftwerke nicht mithalten – falls man bei Atomkraftwerken angemessene Versicherungsprämien und die Entsorgung des Atommülls einkalkuliert, bei fossilen Kraftwerken die CO2-Preise.

Was bedeutet das für die Endverbraucherpreise?
Dass der Strom für die Endverbraucher durch die Energiewende billiger wird, ist trotzdem nicht absehbar – es sei denn, man erzeugt eigenen Strom auf dem Dach. Betrachtet man die gesamte Stromwirtschaft, muss man berücksichtigen, dass Preise und Kosten zwei verschiedene Dinge sind. Die Strompreise im Großhandel, wo die Versorger die Energie für ihre Kunden beschaffen, hängen nur bedingt von den Erzeugungskosten ab. Vielmehr ergeben sich Preise aus Angebot und Nachfrage. Wenn Kraftwerke abgeschaltet und so die verfügbaren Strommengen reduziert werden, steigen die Preise, unabhängig von den Produktionskosten der einzelnen Kilowattstunde.

Bedeutet das, dass hier Spekulation im Spiel ist?
Spekulation gibt es an jedem Markt, doch sie ist nicht der Grund für steigende Börsenstrompreise, sondern die Verknappung. Jeder, der schon mal auf einer Auktionsplattform im Internet gehandelt hat, weiß, dass der erzielbare Preis einer Ware wenig mit dem materiellen Wert des Gutes zu tun hat, sondern vielmehr mit der Frage, wie viele Interessenten dieses begehren und wie deren Zahlungsbereitschaft aussieht. So ist es auch beim Strom: In Zeiten, in denen die verfügbare Strommenge knapp und die Nachfrage hoch ist, steigen die Preise. Das zeigten die vergangenen Wochen eindrücklich, als Strom an der Börse historisch teuer war.
… Alles vom 5.1.2022 von Bernward Janzing bitte lesen auf
https://www.badische-zeitung.de/der-lange-weg-ins-stromzeitalter–207779698.html

Kommentar:
Keine noch so moderne (Zukunfts-)Technologie kann den Planeten je retten
Der Artikel schildert gut zusammengetragen und auf eindrückliche Art und Weise die Voraussetzungen für den Umbau der Energieversorgung in Deutschland, ohne dabei die möglichen negativen Auswirkungen zu verschweigen.
Neben der viel größeren Abhängigkeit von Strom ist insbesondere der enorm ansteigende Strombedarf ein klares Manko dieser „Energierevolution“. Nichts gegen Photovoltaik auf Dächern, diese Flächen kann man hierzu sehr gut und sinnvoll nutzen. Großflächige Freiflächenanlagen und Windparks hingegen, die notwendig wären für die Erzeugung der ganzen benötigten Terawattstunden, würden nicht nur das Landschaftsbild massiv beeinträchtigen, sondern hätten unter anderem auch gravierende negative Auswirkungen auf die Natur, insbesondere die Tiere. Das sollte nicht unbedacht bleiben und dem Aktionismus zum Opfer fallen.
.
Wer allen Ernstes meint, es brauche lediglich eine Energiewende, um weitermachen zu können wie bisher, der irrt gewaltig. Vernünftige, sich als Teil der Natur begreifende Menschen sind längst zur Einsicht gelangt, dass wir uns den gegenwärtigen Lebens- und Wirtschaftsstil nicht mehr leisten können und Nachhaltigkeit nur durch einen Umbau des gesellschaftlichen Lebens, Produktions- und Kaufverhaltens möglich ist. Und dazu gehören wiederum Einsicht und Bereitschaft, auf bestimmte Güter und Sachwerte, Mobilität und Reisen zu verzichten.
Gelingt uns das nicht, wird keine noch so moderne (Zukunfts-) Technologie diesen Planeten je retten. Bleiben wir also wieder öfter zu Hause, wagen wir mehr Regionalität und unterstützen wir Landwirte, Handel und Betriebe vor Ort. Ganz nebenbei sinkt unser CO2-Abdruck. Es lebe der Tante-Emma-Laden!
12.1.2022, Stefan Rieger, Glottertal