Sie ist eine Tradition zum Schutz der vermeintlichen Familienehre und ein Verbrechen gegen die Würde der Frau: In Südbaden suchen immer mehr Mädchen und Frauen aus Migrantenfamilien Hilfe aus Angst vor einer Zwangsheirat. Die meisten dieser Ehen werden im Ausland geschlossen, viele davon gerade jetzt, in den Sommerferien. Die Mitarbeiterinnen von Freiburger Hilfseinrichtungen geben Betroffenen Schutz – und fordern die Schaffung eines eigenen Straftatbestands Zwangsheirat. Auffallend viele Frauen haben sich vor Ferienbeginn an das Freiburger Frauenhaus gewandt: „Einige fürchten ihre Zwangsverheiratung, andere erleben häusliche Gewalt“, berichtet Ellen Breckwoldt, Vorsitzende des Freiburger Frauen- und Kinderschutzhauses. Es sind Frauen wie Leila (Name geändert), die im Freiburger Umland lebt, die deutsche Staatsbürgerschaft hat und die Hochzeit mit ihrem unbekannten Verlobten aus dem Libanon schon zwei Mal aufschieben konnte, indem sie absichtlich durch die Prüfung zur Arzthelferin fiel. Doch im Frühsommer riss dem Vater die Geduld, ein Flug wurde gebucht, das Hochzeitskleid bestellt – da entzog sich die 19-Jährige durch Flucht ins Frauenhaus der Zwangsheirat. Jetzt lebt sie ohne Kontakt zur Familie in einer anderen Stadt. Betroffen sind aber auch Frauen wie die Afghanin Sima (Name geändert), 36 Jahre alt und Mutter von vier Kindern. Sie will sich von ihrem Mann trennen, der sie schlägt und bedroht, und muss das Schlimmste fürchten: „Wenn sie sich scheiden lässt, kann es sein, dass sie nach Afghanistan verschleppt und gesteinigt wird“, erklärt Roswitha Strüber, Leiterin des Fachdienstes Migration beim Caritasverband Freiburg Stadt und Mitglied in der Fachkommission Zwangsheirat der Landesregierung Baden-Württemberg.
Genaue Zahlen zur Zwangsheirat gibt es nicht. Nach Angaben von Terre des Femmes hat sich die Zahl der Frauen, die Schutz vor einer Zwangsehe suchten, im vergangenen Jahr gegenüber 2004 fast verdoppelt. Insgesamt würden in Deutschland jedes Jahr mehr als tausend Frauen Opfer dieser modernen Form von Sklaverei. „Vor zehn Jahren hat niemand über Zwangsheirat gesprochen, seit das Tabu gebrochen ist, nehmen die Hilfegesuche zu“, sagt Strüber.
Obwohl die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte seit 1948 beinhaltet, dass eine Ehe „nur auf Grund der freien und vollen Willenserklärung der zukünftigen Ehegatten geschlossen werden“ darf, setze sich erst langsam die Erkenntnis durch, dass es sich bei einer Zwangsehe keineswegs um eine Privatsache handelt. „Ich weiß – aber es ist eben meine Familie“, zitiert Helga Kade vom Freiburger Frauenhaus die typische Antwort junger Musliminnen auf die Rechtslage. Zerrissen zwischen dem Wunsch nach Selbstbestimmung und der Familientradition beugen sie sich der Sitte. Die Frauen der Familie „anständig“ und damit die Ehre „rein“ halten – das ist laut Strüber der Hintergrund der arrangierten Ehe, die unter Zwang geschlossen wird.
Manche Mädchen werden bereits mit zwölf Jahren einem Mann versprochen, bei anderen steigt die Gefahr mit jedem Lebensjahr: „Ziel ist der Schutz der Tochter vor westlichem Einfluss.“ Manche Mädchen wachsen schon in dem Wissen auf, dass sie eines Tages mit einem Unbekannten verheiratet werden, andere werden überrascht – plötzlich, etwa während einer Reise in die Heimat der Familie, kann es so weit sein. Von den Müttern ist meist wenig Hilfe zu erwarten, berichtet Breckwoldt: „Die leben oft selbst in einer Zwangsehe und schützen den Ehrbegriff ganz besonders.“
Obwohl der Islam nach Auskunft der prominenten Berliner Rechtsanwältin und Frauenrechtlerin Seyran Ates Zwangsehen verbietet, werden die meisten von ihnen zwischen Muslimen geschlossen: Eine Umfrage der Fachkommission Zwangsheirat ergab, dass von den 213 Frauen und zwei Männern, die 2005 in Baden-Württemberg Hilfe gesucht haben, 95 Prozent dem Islam angehörten. Die meisten stammten aus türkischen Familien, weitere waren Kurdinnen oder kamen aus dem Kosovo, Afghanistan, Pakistan, dem Irak, Syrien und afrikanischen Ländern. „Bildungsstand und Schicht spielen überhaupt keine Rolle“, sagt Strüber, „auch der deutsche Pass schützt nicht.“
Im Gegenteil: Gerade die deutsche Staatsangehörigkeit mache ein Mädchen zur beliebten Braut für Männer, die in der Bundesrepublik leben wollen. Neben dieser „Ehe als Einwanderungsticket“ stehe die Heirat zwischen einem hier lebenden Mann und einer Frau aus seiner Heimat, die meist kein Deutsch spricht, einer so genannten Importbraut. Außerdem würden Töchter etwa in die Türkei verheiratet, um sie vor vermeintlicher Unmoral zu schützen. „Mitschüler und Lehrer bemerken erst nach den Ferien ihr Fehlen, und die Mädchen sind ohne Pass und Handy ihrem Schicksal preisgegeben“, berichtet Strüber. Die Gefahr von Druck und Demütigung, Vergewaltigung und Schlägen sei in einer solche Ehe hoch.
Auch Männer leiden laut Breckwoldt unter einer Zwangsehe, können sich aber den drohenden Folgen naturgemäß leichter entziehen. Für Frauen, die sich wehren, könne es dagegen lebensbedrohlich werden – immer wieder machen so genannte Ehrenmorde Schlagzeilen. Eine Waffe im Kampf gegen die Zwangsehe sehen die Frauen in einem „Gesetz zur Bekämpfung der Zwangsheirat“, das als baden-württembergische Initiative eingebracht und im Juli 2005 vom Bundesrat beschlossen wurde. Nun soll der Bundestag über den Entwurf beraten, noch steht dafür kein Termin fest. „Wir wollen die Zwangsehe als Straftatbestand“, sagt Roswitha Strüber: Dann könnten sich die Betroffenen leichter wehren, die Zwangsheirat würde geächtet und das Unrechtsbewusstsein geschärft.
24-Stunden-Hilfe: Frauenhaus Freiburg, Telefon 0761/31072
Sigrun Rehm, 19.8.2007, www.der-sonntag.de
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