Alter Mann als Titelbild

Foto eines Alten Mannes auf dem Titel der BZ: Interessant, welche Emotionen und Phantasien dieses Titelbild hervorruft. Da ist gar von Leichenschauhaus die Rede, und man bemüht sich, Ruhe in sein empörtes Seelenleben zu bekommen, indem man das Gesehene quasi im Dienste der Menschheit interpretiert. Und wertet damit, wenn auch unbeabsichtigt, den betagten Herrn gnadenlos ab.

„Da ist der Körper des Mannes bereits in der Auflösung, sein Blick ist stupide, die Mundwinkel beweisen Pessimismus und seine unbekleidete Schulter löst Ekel aus.“ Ich denke nicht, dass sie das tut. Aber ich kann mir vorstellen, dass es uns unangenehm berührt, wenn wir nackte Tatsachen vor Augen geführt bekommen. Und ich befürchte, dass wir nicht mehr wahrhaben wollen, dass die heutigen Alten in der Nachkriegszeit aufgewachsen sind und dass deren Mundwinkel auch ein mahnendes Merkmal für uns und unsere von rechten Terrorzellen überschattete Gegenwart sind. In einer Zeit, in der unsere Lippen mit Botox aufgespritzt werden und uns viele Scheinwelten zum Abtauchen zur Verfügung stehen, ist dieses Titelbild nach meinem Empfinden deshalb nicht nur mutig, sondern kann manchem die Augen für die Realität öffnen. Vielleicht muss man die von einem erfüllten Leben gezeichneten Menschen wirklich nur mit liebevollen Blicken anschauen, um sie als schön empfinden zu können, wie Frau Maurer behauptet. Aber was, wenn sich in uns so gar keine Liebe für unser Gegenüber einfinden mag? Und was machen wir mit den Alten, die ein tristes Leben hatten? Lösen wir das Problem Altenschwemme dann nach dem Prinzip: „Die, die es verdient haben, in ein Zimmer mit Aussicht und die anderen ins Massenlager“? Bitte entschuldigen Sie die Deutlichkeit, aber wir werden einen klaren Verstand und Anteilnahme brauchen, wenn wir das Problem in einer würdigenden Weise angehen wollen.
Eine Kolumne über pfiffige Alte, wie von Frau Pelz vorgeschlagen, wird Gefahr laufen, dass sie uns eine heile Welt vorgaukelt. Denn um dem Anspruch „pfiffig“ gerecht zu werden, müssten Gebrechen ausgeblendet werden. Vielleicht hilft uns eine Kolumne für alte Menschen, in der sie ihre Gefühle und Wünsche beschreiben. Anonym . Vielleicht realisieren wir dann, dass jeder Mensch Teil der Gesellschaft ist und dass es für jeden von uns darum geht, den Kreislauf des Lebens anzunehmen. Dass die Leserbriefe bezweckten, für die Würde des Menschen einzutreten, macht mir dabei Hoffnung.

Abschließend noch ein Text, der uns unsanfter als das Titelbild wachrütteln wird. Ich sitze im Rollstuhl, weil meine Beine mich nicht mehr tragen. Ich habe keine Kontrolle mehr über meine Blase. Deshalb trage ich Windeln, für die ich mich schäme, vor allem dann, wenn fremde Hände sie wechseln müssen. Auf meinem Kopf wachsen nur noch wenige weiße Haare. Ich kann nicht mehr viel sehen, und mein Hörgerät versagt manchmal. Aber mein Verstand funktioniert noch. Deshalb will ich auch noch nicht sterben. Doch mein Herz ist verzagt, wenn ich im Rollstuhl durch die Stadt gefahren werde und Leute wegschauen, weil ich abstoßend für sie bin. Oder wenn ich in ein Geschäft gefahren werde, weil ich den Pullover aus dem Fenster anprobieren möchte, und die Verkäuferin denkt: „Was will die denn hier?“ Oder wenn ich im Friseurgeschäft warten muss, weil die Friseurinnen sich nicht einig werden, wer mich schneiden muss. Oder wenn die Leute die Nase rümpfen und flüstern: „Die stinkt“. Aber wenn Marie, meine Enkelin, mich besucht und auf meinen Schoß klettert, sich ankuschelt und „Ich hab’ dich so lieb“ sagt, hüpft mein Herz vor Freude.
2.11.2012, Ingrid Groschupp, Bad Säckingen

„Leser fragen – Die BZ antwortet“ zum Titelbild „Deutsche werden immer älter“, 19. Oktober:
https://www.badische-zeitung.de/leserbriefe-68/leser-schreiben-die-bz-antwortet-wo-bleiben-die-schoenen-aspekte-des-alters–60898246.html

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