Verachtung

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Mittelstand protestiert 2024: Bauern, Handwerk, Dienstleister, ...

Mittelstand protestiert 2024: Bauern, Handwerk, Dienstleister, …

Verachtung der Bürger durch Woke – Verachtung der Demokratie

Alexander Wendt: 
Verachtung nach unten
Wie eine Moralelite die Bürgergesellschaft bedroht 
– und wie wir sie verteidigen können
lau-verlag.de, 372 Seiten, ISBN 978-3-95768-259-8, 2/2024, 25 Euro
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Ohne Sinnproduzenten können die Peripheren leben – umgekehrt nicht
„Ohne die Sinnproduzenten (Anywheres) käme eine Gesellschaft für einige Zeit ganz passabel zurecht . Ohne die handfesten Produzenten (Somewheres) – und zu denen zählen nun einmal die verachteten Peripheren, die deplorables, die Ortsgebundenen, die Dienstleistungen erbringen, Güter erzeugen und transportieren – aber noch nicht einmal eine Woche. Die einen beherrschen zwar die Höhen der Deutung, die anderen die Tiefe des Raums. Dort entstehen Ressourcen, die Diskurslenker und Sinnschöpfer nicht selbst erzeugen können. Es gibt keine wechselseitigen Abhängigkeiten zwischen beiden Seiten. Der durchsubventionierte antikapitalistisch-antipatriarchale Kulturbühnenimpresario in Berlin lebt von den Steuern, die der Molkereiunternehmer im Allgäu abliefert. Der Molkereibesitzer seinerseits braucht die Kulturbühnengröße nicht, genauso wenig wie die Verfasser von Kuratorenmanifesten oder die Postkolonialismusdozentin.”

„Vermutlich gibt es in allen Gemeinwesen und über alle Zeiten hinweg nur zwei wirklich tief eingeprägte Verhaltensmuster und damit zwei Urtypen: diejenigen, die sich obsessiv um die Lebensführung von anderen Leuten kümmern, um dort Einfluss zu nehmen, und die anderen, die sich einfach nur wünschen, von Belehrungen verschont zu bleiben, die aber ihrerseits überhaupt keinen Ehrgeiz entwickeln, anderen einen bestimmten Lebensstil aufzudrängen.”
Alexander Wendt in seinem Buch „Verachtung nach unten”, dem Standardwerk über die Wokeness
16.4.2024

 

Michael Meyen bespricht „Verachtung nach unten“
Jenseits des Links-Rechts-Rasters
Narrativkapitalismus
Alexander Wendt verbindet Reportertugend, Fabulierkunst und Tiefgang zu einer großartigen Gegenwartsanalyse.

Ich kann diese Regel hier brechen, weil das Buch von Alexander Wendt über jeden Zweifel erhaben ist. Ich lese viele Sachbücher. Alle ein, zwei Tage eins. Das klingt nach Arbeit und ist es meist auch. Diesmal war das anders. Das Buch von Alexander Wendt ist ein Genuss. Das beginnt für mich immer beim Stil, den die Leser von Tichys Einblick kennen und natürlich die von Publico. Wendt-Texte haben eine Sprachqualität, die selten geworden ist im Journalismus und die gedruckt einen noch stärkeren Sog entwickelt als auf Bildschirmen. Das hat auch damit zu tun, dass Alexander Wendt bei aller Belesenheit und bei aller Intellektualität ein Reporter geblieben ist. Er schaut genau hin, nicht nur bei mir. Wie sitzt die Frisur? Wie bewegt sich jemand, wie spricht er, wo werde ich empfangen? Und er hört zu.

Was bleibt? Oder besser gefragt: Was kommt? Erst einmal wird es dauern, sagt Alexander Wendt. Zu tief hat sich das neue Glaubenssystem hineingefressen in die Institutionen, zu viele Menschen leben davon mehr oder weniger gut. Wendts Vorschlag: Lasst es uns machen wie einst beim Westfälischen Frieden. Lasst uns zuerst den Kulturkrieg einstellen. Lasst uns dann Universitäten, Schulen und öffentliche Verwaltung freigeben und die Redaktionen im Beitragsrundfunk paritätisch besetzen.
Das ist ein Lockmittel für die andere Seite, natürlich, weil Wendt damit auch sagt: Ihr dürft weitermachen, trotz alledem. Wir drehen den Spieß nicht einfach um. Ein Friedensangebot zum Schluss. Fragt sich jetzt nur noch, wann und wo die Verhandlungen beginnen.
… Alles vom 7.4.2024 von Michael Meyen bitte lesen auf
https://www.freie-medienakademie.de/medien-plus/130 oder
https://www.tichyseinblick.de/feuilleton/buecher/narrativkapitalismus/

Alexander Wendt: 
Verachtung nach unten
Wie eine Moralelite die Bürgergesellschaft bedroht 
– und wie wir sie verteidigen können
lau-verlag.de, 372 Seiten, ISBN 978-3-95768-259-8, 2/2024, 25 Euro

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„Findest Du es gut, verachtet zu sein?”
Das Wort zum Sonnntag. „Findest Du es gut, verachtet zu sein?”, frug mich vergangene Woche ein Mitarbeiter der Schwefelpartei, ein gebildeter, studierter, sonst eigentlich eher zum Scherzen aufgelegter und den schönen Dingen des Lebens entschieden zugeneigter Zeitgenosse. Es lag Bitterkeit in seiner Stimme, sogar Gram. Intellektuelle können ja bestürzend dünnhäutig sein. Wer für die AfD arbeitet und sich zugleich in der Kulturszene (im weiten Sinne) bewegen möchte, muss sich im besten ’schland ever ein stabiles Incognito zulegen.

„Findest Du es gut, verachtet zu sein?”, lautete die Frage, und sie ging an mich. Zunächst einmal: Viele dieser Leute verachten nicht, sondern haben bloß Angst. Sie genießen nicht das Privileg, bei einem Arbeitgeber beschäftig zu sein, bei dem man sie nicht denunzieren kann. Sie lassen sich gut deutsch von einigen Tausendschaften staatlich eingefetteter Propagandisten und Politkommissare in jedes Bockshorn jagen. Diese Dackel – ich weiß, liebe Dackelbesitzer, dass das charakterlich einwandfreie Tiere sind, ich wähle sie bloß als Metapher – würde ich bemitleiden, wenn sie mir nicht schnurz wären. Es sind Füllsel.
Verächtlich indes ist jener Typus Denunziant, Blockwart, Systemschranze, wie er in all seiner verklemmten und latent sadistischen Beflissenheit zuletzt in Gestalt eines Schuldirektors in Ribnitz-Damgarten in Erscheinung trat. In der „Ehemaligen” fand dieser Typus zwar keinen ganz so fabelhaften Nährboden wie im spätbundesrepublikanischen „Kampf” gegen „Rechts”, doch es standen ihm dort ganz andere Mittel zur Verfügung resp. Repressionsorgane zur Seite. Alexander Wendt, aus der Zukunft stammend wie ich, hat dem ewigen Diederich Heßling eine exzellente, autobiographisch gefärbte Betrachtung zugeeignet. https://www.publicomag.com/2024/03/wie-ich-einmal-dachte-die-ddr-waere-tot/
(Ich bin mir übrigens nicht sicher, ob dieser Menschenschlag tatsächlich andere verachtet und nicht vielmehr tief in seinem Innern die eigene Schäbigkeit verspürt.)

Ich kann aber jeden verstehen, der es nicht mehr erträgt.
https://twitter.com/ainyrockstar/status/1771163479891710434
… Alles vom 24.3.2024 bitte lesen auf
https://www.klonovsky.de/2024/03/24-maerz-2024/

 

Michael Klonovsky rezensiert Alexander Wendt „Verachtung nach unten“
Ich würde es Ihnen gern in glänzendes Lobespapier verpackt und mit superlativistischen Schleifchen umwickelt andienen, doch der Autor und ich sind befreundet, weshalb ich mich etwas mäßigen muss. Das Mäßigungsgebot löst freilich nicht das größte Problem, womit sich ein Rezensent dieser Schrift konfrontiert sieht, nämlich welche Passagen er nicht zitieren soll. „Verachtung nach unten“ ist der seltene Fall eines Sachbuchs, das man allein der Prägnanz und Luzidität seiner Sprache wegen lesen sollte.

Im angelsächsischen Sprachraum heißen Sachbücher nonfictional books, was vielleicht die bessere Bezeichnung sein mag. Alexander Wendt vereinigt in seinem Opus verschiedene Genres der nichtfiktionalen Wirklichkeitsbeschreibung, es ist eine Cuvée aus Essay, Reportage, Fallsammlung, Streitschrift und bürgerlichem Manifest. Das Buch schildert einen Kulturkampf, dessen Auswirkungen jeder Bewohner eines westlichen Landes täglich verspürt, weil er ihn nicht nicht verspüren kann – es sei denn, er (m/w/d) zöge sich in eine Einsiedelei zurück und verzichtete auf jeglichen Mediengebrauch. Ein Graben durchzieht die Gesellschaften des Westens, auf dessen beiden Seiten sich anscheinend unvereinbare Milieus sammeln. Sie stehen sich „nicht als gesellschaftliche Gruppen gegenüber, die miteinander streiten, sondern als feindliche Stämme“, notiert der Autor. Beide agieren aber nicht auf der vielbemühten Augenhöhe, sondern es gibt ein klares Oben und Unten; der Graben, um im Bilde zu bleiben, durchzieht eine stark geneigte Ebene. Die titelgebende Verachtung orientiert sich entlang dieser Neigung.

Den Unterschied zwischen Oben und Unten illustriert exemplarisch das politisch-mediale Echo auf diejenigen, die momentan in Deutschland Demonstrationen veranstalten: Während die Bauern, wie zuvor auch die französischen Gelbwesten und kanadischen Trucker, negativ gelabelt werden – vom „Mistgabel-Mob“ sprach kosend der Spiegel, der Chefreporter des Südwestfunks twitterte: „Traktorfahren macht offenbar dumm” –, erfreuen sich die Klimakleber und erst recht die vermittels einer Medienmanipulation zusammengetrommelten Demonstranten gegen „Rechts“ offiziellen Wohlgelittenseins. Die einen handeln finanziell auf eigene Kappe, die anderen erhalten Zuwendungen. Wer indigniert auf die gelegentlichen Ausschreitungen bei den Bauernprotesten hinweist, sei darin erinnert, dass die in Übersee rumorenden Black lives matter-Tumultanten, auf deren Konto nicht nur Plünderungen, Brandstiftungen, verwüstete Straßenzüge, sondern sogar Tote gehen, Spenden in Milliardenhöhe einstrichen.

Die meisten Angehörigen der politisch-medialen Klasse, die Kultur‑, Kirchen- und Gewerkschaftsfunktionäre, die Wortführer an den Universitäten sowie die sogenannten zivilgesellschaftlichen Organisationen konzentrieren sich auf der guten Seite; das ist weder neu noch ungewöhnlich. Das Besondere an jenem neuen Oben besteht darin, dass es sich nicht mehr wie in früheren Gesellschaften vorwiegend materiell vom Unten absetzt, sondern moralisch. Wendt führt als Kategorie für diese Differenz das „kulturelle Kapital“ ein, über welches die eine Seite verfügt, die andere nicht. Die protestierenden Bauern in den Niederlanden und in Deutschland zum Beispiel „gehören nicht zu den Armen, was Einkommen und Vermögen betrifft. Aber sie befinden sich unten nach den Maßstäben des kulturellen Kapitals. Sie haben in der Sinnproduktion nichts zu sagen. Ihnen fehlt die Macht, Begriffe zu prägen.“ Diese Menschen existieren mit ihren Problemen und Ansichten jenseits der zivilgesellschaftlichen Wahrnehmung und außerhalb des medialen Scheinwerferlichts – „die im Dunkeln sieht man nicht“, schließt bekanntlich die Dreigroschenoper –, und wenn sie sich auf rustikale Weise dennoch ins Wahrgenommenwerden drängen, fallen die Reaktionen aus dem Kreise der Sinnstifter entsprechend verächtlich aus.

So kommt es, dass, sagen wir, ein Zeit-Volontär, dessen Ein-Zimmer-Klause in Hamburg-Ottensen noch die Eltern bezahlen müssen, weil sein Einkommen dafür nicht ausreicht, sich einem Bauersmann mit 150 Kühen und 60 Hektar Land überlegen fühlen kann, weil er im Zentrum lebt und nicht an der Peripherie, weil er sich öffentlich um das Klima sorgt, regelmäßig gegen den deutschen Alltagsrassismus twittert, seine Cis-binäre Sexualität hinterfragt, die Privilegien der (anderen) Weißen checkt und sogar seine Mails penibel gendert. Er kann über den Bauern öffentlich sein Urteil sprechen, der Bauer umgekehrt nicht über ihn. Dasselbe Muster versetzt woke Studenten heute in die Lage, einen Professor, der anstößige, zum Beispiel konservative Ansichten vertritt oder auf Naturgesetzen beharrt, obwohl Weiße sie formuliert haben, so lange unter Druck zu setzen, bis er sich entschuldigt oder in die innere Emigration flüchtet oder von der Universitätsleitung gefeuert wird. Ein einziger falscher Satz, gelte er nun als „rassistisch“, „sexistisch“, „transphob”, „weiß-suprematistisch“ etc. pp., vermag Jahrzehnte wissenschaftlicher Reputation auf einen Schlag auszulöschen. Nach demselben Muster können inzwischen sogenannte DEI-Büros (das Kürzel steht für Diversity, Equity, Identity) und ESC-Kommandos (Environmental, Social and Corporate Governance), wie sie in nahezu allen größeren Unternehmen eingerichtet wurden, den anderen Abteilungen diktieren, welche Auflagen in Sachen Nachhaltigkeit, Diversität und Gleichstellung für sie gelten, und jeder Manager tut gut daran, das nicht weiter zu kommentieren – auch wenn die Regeln geschäftlich nicht den geringsten Nutzen ergeben –, weil das seinen Ruf und letztlich seinen Job gefährden würde. Ein Unternehmensführer besitzt im Normalfall nicht einmal die Macht, solche ohne jeden messbaren Effekt agierenden Kommissariate der Wokeness zu schließen, etwa im Zuge von notwendigen Einsparmaßnahmen, weil der Imageschaden größer wäre.

Dass, wie Wendt schreibt, „kulturelles Kapital heute das Materielle sticht“, ist die erste der drei großen Umkehrungen, die auf die Bewegung der Woken zurückgehen und übrigens auch den Lehren der klassischen Linken widersprechen. Die zweite, noch paradoxere Sinn-Verkehrung lautet: Das Bewusstsein bestimmt das Sein. Dieser Grundsatz gilt natürlich weder an der produzierenden Basis noch in jenen Stadtteilen, in denen das Gros der Migranten ankommt, sondern im Kokon der Sinndiktierer und Bewusstseinspräger. Zum Beispiel in den Parteizentralen der Grünen oder in jenen Redaktionen, wo steuerfinanzierter Haltungsjournalismus produziert wird. Zeitgeist-Moden wie Konstruktivismus und Poststrukturalismus haben der 180-Grad-Korrektur des marxistischen Basispostulates den Weg gebahnt, rund um die Uhr im Optativ lebende Politiker, Dozenten, Kulturschaffende und Medienvertreter zogen mit, und heute werkeln die Digitalkonzerne an der Fixierung der neuen Maxime – im Virtuellen mag man solchen Unsinn ja glauben –, außer natürlich bei den Umsatzzahlen und im Geschäftsbericht. 300 Jahre nach Kant ist das magische Denken in die Öffentlichkeit zurückgekehrt, wird zwischen bestimmten Worten und dem Gegenstand nicht mehr unterschieden, sind manche Begriffe so tabu, dass ihr bloßes Aussprechen zur Exkommunikation führt, herrscht der Glaube, fundamentale existentielle Kategorien wie Geschlecht oder Mutterschaft oder Volk seien „konstruiert” und durch einen Sprechakt zu ändern.

Wer meint, dass Bewusstsein bestimme das Sein, muss das Denken der anderen zu prägen und zu beherrschen suchen. Er muss vorgeben, Sinn zu stiften. „In der Kaste der Wohlgesinnten“, schreibt Wendt, herrsche „neben der selbstverständlich akzeptierten Trennung in ein Zentrum und die Peripherie auch weitgehende Einigkeit darin, dass die wesentlichen Konflikte der Gesellschaft nicht mehr in der alten materiellen Sphäre stattfinden. Für sie gehört es zum Überzeugungsbestand, dass nicht mehr die schlechte Bezahlung und vor allem die schlechte Absicherung vieler Beschäftigter ein wirkliches Problem darstellen (die Milieuvertreter beeilen sich dann meistens zu sagen, diese Probleme gebe es auch), sondern die strukturelle, also tief in die Gesellschaft eingeprägte Diskriminierung beispielsweise von Menschen mit dunkler Hautfarbe, von Transsexuellen, von Muslimen, die als marginalisiert gelten und deshalb Aufmerksamkeit und mehr Sichtbarkeit verdienen. Ein weißer Lagerist, der weniger als 2000 Euro brutto bei Vollzeitarbeit verdient, gehört für sie durch seine Hautfarbe, aber auch durch die Geschichte seiner Vorfahren trotzdem zu den Privilegierten, eine Staatssekretärin mit Migrationshintergrund und dunklem Teint dagegen zu den ständig Diskriminierungsbedrohten, deren verletzte Gefühle mehr gesellschaftliche Zuwendung verdienen als die Lebensverhältnisse des schlecht bezahlten einheimischen Beschäftigten.“

Die daraus folgende dritte Umwertungsleistung der neuen Sinnschöpfer bestehe darin, dass es ihnen gelungen sei, „die Hauptrichtung der Gesellschaftskritik umzukehren. Sie verläuft neuerdings von oben nach unten.“ Seit Menschengedenken, so Wendt, gehöre die dünkelhafte Verachtung fremder Kollektive, sei sie ethnisch-kulturell oder sozial begründet, sei sie durch Klassen‑, Völker- oder Glaubensschranken markiert, zur Conditio humana, wobei der Kern der Verachtung darin bestehe, jemand anderem wegen dessen Gruppenzugehörigkeit bedenkenlos etwas zuzumuten, das man für sich selbst und seine Nächsten als empörend empfinden würde. „Aber nie und erst recht nicht in der Gegenwart galt der Blick nach unten als Ausweis einer großen charakterlichen Qualität, eines kritischen Bewusstseins, einer besonderen Sensibilität, einer Wohlgesinntheit. Nie galt kulturelle Verachtung als progressiv. Bis vor einigen Jahren jedenfalls. Erst als Teil der neolinken Theorie und Praxis erreichte das gesellschaftliche Herabschauen seine vorerst letzte Evolutionsstufe.“

Es gibt eine Schlüsselszene dazu, die der Autor in gebührender Ausführlichkeit würdigt. Sie spielt am Abend des 9. September 2016 im großen Saal der Cipriani Wall Street, einem neoklassizistischen Bau im New Yorker Financial District. Dort veranstaltete die Präsidentschaftsbewerberin Hillary Clinton gemeinsam mit Barbra Streisand eine Spendengala für den Wahlkampf der Demokraten, also ihren. Eingeladen hatten die Ladys die weiland noch nicht auf der Höhe des Q und seiner Gliederungen angelangte LGBT-Gemeinde der Stadt, die Kartenpreise für den Abend mit anschließendem Empfang durch die Kandidatin betrugen zwischen 2.500 und 250.000 Dollar. An jenem Abend verwendete Hillary Clinton in ihrer Rede eine Formulierung, die sie womöglich den Wahlsieg kostete, die aber vor allem jene Verachtung, die Wendts Buch im Titel trägt, vollendet zum Ausdruck bringt, auch im quantitativen Sinne: the basket of deplorables, „der Korb der Jämmerlichen“ oder „Beklagenswerten“. Wobei das merkwürdig schiefe Wort „Korb“ eher als „Haufen“ zu verstehen war. Mit dieser Formel bedachte Clinton nach ihren eigenen Worten „die Hälfte der Trump-Unterstützer”. Im schicken Lower Manhattan vor einem im hohen Maße solventen und im höchsten Maße woken Publikum rubrizierte die Kandidatin mehr als 30 Millionen Amerikaner unter „die Rassisten, Homophoben, Fremdenfeindlichen, Islamophoben – ihr wisst schon”. Diese 30 Millionen, für die abwertende Termini wie Rednecks, Hillbillys, Karens oder generell White Trash im Umlauf sind, schrieb sie komplett ab. Der anderen Hälfte der potentiellen Trump-Wähler gestand sie noch generös Gehör zu. Mehr aber nicht.
Das Zusammenfallen von gutem Einkommen, guter Gegend, gutem Leben und guter Gesinnung auf der einen, geringem Einkommen, Peripherie, prekärem Leben und böser Gesinnung auf der anderen Seite hätte kein Hollywood-Kitschier deutlicher überzeichnen können als die demokratische Präsidentschaftskandidatin auf ihrer Spendengala.
Wie die Wahl ausging, ist bekannt.

Verachtung ist der Kernaffekt der Woken gegenüber allen Nichtwoken. Die progressive Moral-Elite mokiert sich über die unverbesserlichen Underdogs. Das verhält sich in Deutschland nicht anders als in den USA; beleidigende und wahrhaft verhetzende Kommentare etwa über die ost- bzw. mitteldeutschen Hinterwäldler wegen ihres falschen Wahlverhaltens und überhaupt falscher Ansichten sind Legion. Einem politisch spiegelverkehrt agierenden Jan Böhmermann hätte die Polizei längst die Wohnungstür eingetreten und sämtliche elektronischen Geräte weggenommen. Idealtypisch hat sich im Zweiten deutschen Staatsfernsehen eine Maid namens Sarah Bosetti, ihrer Selbstwahrnehmung nach Kabarettistin, zur Gesellschaftsspaltung geäußert, indem sie fragte (damals ging es um die Coronaimpfung, aber der Anlass ist ja beliebig):
„Wäre die Spaltung der Gesellschaft wirklich etwas so Schlimmes? Sie würde ja nicht in der Mitte auseinanderbrechen, sondern ziemlich weit rechts unten. Und so ein Blinddarm ist ja nicht im strengeren Sinne essentiell für das Überleben des Gesamtkomplexes.“
(Sarah Bosetti auf X)
Idealtypisch ist dieses Gleichnis deshalb, weil es in schöner Klarheit „rechts” und „unten” zusammenbringt – das komplementäre „links” und „oben” kann sich jeder Zuseher selbst dazudenken. Der Dünkel wäre unvollständig, ja halbherzig, wenn er sich auf die Gesinnung beschränkte, weshalb er sich auf die gesamte Art zu leben erstreckt. „Die Verachteten sind, was die Wähler Robert Habecks, Emmanuel Macrons und Hillary Clintons nicht sein wollten. Der Wunsch, möglichst einen großen Abstand zwischen sich und den anderen zu lassen, beschränkt sich nicht auf die Ansichten der Peripheren zu Migranten und zur politischen Elite. Er schließt auch die Art und Weise ein, wie die Verlorenen sprechen, essen, sich kleiden, ihre Wohnungen und Einfamilienhäuser einrichten. Er erstreckt sich auf ihren Mediengeschmack, überhaupt auf ihren Geschmack. Er betrifft ihre Lebensweise. Das falsche Leben der einen erlaubt den Bewohnern des inneren Gesellschaftskreises, die Rolle der Moralischeren, Klügeren, Empfindsameren und ästhetisch Gebildeteren einzunehmen, kurzum: die Rolle der zum besseren Leben Erwachten.”
….

Wer der im Untertitel des Buches stehenden Moral-Elite angehören will, muss zunächst einmal woke sein oder es fingieren. Das ist die Grundvoraussetzung, um an kulturelles Kapital zu gelangen. Die Plage der Wokeness, die in statu nascendi noch Political correctness hieß – mir fallen als Gleichnis spontan jene zähnefletschend-grimassierenden „Gremlins“ ein, die im gleichnamigen Film dem Leib des (allerdings viel zu niedlichen) Mogwai entsprangen und von der Stadt Besitz ergriffen, zumal der Film auch noch 1984 in die Kinos kam –, hat sich zum beherrschenden Kulturphänomen in der westlichen Welt aufgebläht. Beherrschend muss buchstäblich verstanden werden; von einer „Plage“ zu sprechen, ja nur einen Witz über die Erweckten zu machen, könnte sich niemand erlauben, der auch nur die kleinste Karriere in Politik, Verwaltung, Medien, Kulturbetrieb, Bildungswesen, längst auch in der Kirche und inzwischen sogar in der freien Wirtschaft anstrebt. Zur Strategie der Woken gehört, dass sie ihre Diskursherrschaft, die eigentlich eine Diskursverhinderungsherrschaft ist und sich der Methoden des Zensierens, Anschwärzens, Cancelns, Niederbrüllens, Mundtotmachens und zuletzt der sozialen Vernichtung bedient, schlichtweg bestreiten.

Davon abgesehen, dass die Wokeness die aktuelle Gestalt oder meinetwegen auch Larve des Linksseins bildet, was lediglich von ein paar Alt-Linken bestritten wird, gibt es tatsächlich weder eine verbindliche Begrifflichkeit, noch einen exakte Eingrenzung für diese Klientel. „Handelt es sich um ein Milieu, eine neue Klasse, eine Kaste, eine Schicht, wenn wir von den Wohlgesinnten im Zentrum der Gesellschaft sprechen, die in Medien, Politik und Institutionen Begriffe prägen, Diskussionsregeln aufstellen und Sinn produzieren?”, fragt Wendt. „Für jede einzelne Bezeichnung gäbe es gute Gründe. Nur der alte Klassenbegriff passt hier nicht.“

Der Publico-Betreiber verpasst dieser Klientel das Etikett „progressiv regressiv”, weil es sich um „verkehrte Linke” handele. Die Inversionslinken bedienten sich lediglich der „Symbolik der alten Fortschrittsbewegung”, um so „den Kritikreflex des politischen, akademischen und medialen Milieus links der Mitte weitgehend abzuschalten”. Und das funktioniere, obwohl es sich um eine Bewegung handele, „die ihre Ziele nur notdürftig mit einem progressiven Firnis überzieht, in Wirklichkeit aber darauf zielt, die Gesellschaft weit zurückzuwerfen, hinter die Aufklärung, hinter die bürgerliche Emanzipation, in ein neues dunkles Zeitalter des Tribalismus und damit notwendigerweise in eine Ära des permanenten Unfriedens”. Die Klassiker der Linken, mutmaßt Wendt, wären verblüfft, wenn sie sähen, dass ihre Erben „es für Fortschritt halten, wenn sich eine Gesellschaft wieder nach Eigenschaften wie Hautfarbe, Geschlecht und Herkunft gliedert und dass sie eine unabänderliche Verächtlichkeit bestimmter Menschengruppen als neue Doktrin verkünden”. In sämtlichen westlichen Ländern, heißt es im Vorwort, fände derzeit der Versuch statt, „die Bürgergesellschaft durch eine neue, von Hautfarbe, Herkunft, Geschlecht und Religion definierte Gesellschaft der Stämme zu ersetzen, Parlamente durch Ständeversammlungen, den westlichen Individualismus durch das Denken im Kollektiv, die Meritokratie durch die Zuteilung von Ressourcen nach Quoten, das Aushandeln von Begriffen mit Rede und Gegenrede durch eine unkritisierbare Orthodoxie und den westlichen Rationalismus durch einen Okkultismus”. Davon handle und dagegen wende sich sein Buch.

Dass die Erfolgsaussichten für die Etablierung einer solchen postzivilisatorischen Gesellschaft zumindest unsicher sind, sei auch den Progressiv-Regressiven klar, meint der Autor. Die Propagandisten der permanenten Anklage wüssten sehr gut, dass keine (weiße westliche) Mehrheit ihre Sicht jemals akzeptieren könne. „Sie wissen, dass die ihrer Ansicht nach schuldbeladene westliche Zivilisation auf absehbare Zeit nicht verschwindet. (So, wie die radikalen Klimaprediger übrigens wissen, dass sich der Kapitalismus nicht so bald verflüchtigt.) Das Ideal der Progressiv-Regressiven besteht darin, die von ihnen behaupteten Ungerechtigkeiten dauerhaft anzuprangern, also im Namen der Moral Macht, Ressourcen, Aufmerksamkeit zu fordern, auch wenn sie behaupten, sie seien eigentlich angetreten, um empörende Verhältnisse zu beseitigen. Es geht ihnen darum, Tribut einzutreiben. Nicht für die, die sie zu vertreten vorgeben, sondern für sich selbst. Den perfekten Zustand erreicht die Gesellschaft in ihren Augen schon dann, wenn niemand mehr die Legitimität ihrer Machtausübung infrage stellt.”
Dieser Zustand indes ist so gut wie erreicht, an den Universitäten und in der Medienöffentlichkeit sowieso, aber auch in den meisten Unternehmen. Teils lärmend und türknallend, teils diskret auf Taubenfüßen ist ein Konsens in die Gesellschaft eingezogen, dem sich zu unterwerfen für jeden Zeitgenossen, der außerhalb der rechtspopulistischen Parallelwelt irgendwohin aufsteigen oder auch nur in Ruhe gelassen werden möchte, verpflichtend ist, nämlich „dass Identitätsfragen wichtiger genommen werden müssen als alte Fragen vom Unten und Oben, dass die Wahl der richtigen Worte wichtiger ist als der Eingangssteuersatz, dass die Gesellschaft eher aus Kollektiven als aus Bürgern bestehen sollte, dass gleiche Chancen nicht genügen, sondern der Staat Gleichstellung mit Quoten notfalls erzwingen muss, dass es eine kollektive Schuld des Westens gibt, gegen die der Globale Süden Vorrechte besitzen sollte. Mit diesem Überzeugungssystem kann jemand in linken Organisationen arbeiten, aber auch als Redakteur einer Zeitung, die sich selbst als Stimme der Gemäßigten sieht, als Funktionär einer Partei, die sich als bürgerliche Kraft betrachtet, oder als leitender Angestellter eines börsennotierten Unternehmens. Diese Überzeugungen muss dort niemand mehr begründen.”
Es muss auch niemand wirklich von diesen Maximen überzeugt sein; wie die Moslems sind die Bolschewoken mit der Unterwerfung unters Glaubensbekenntnis bereits zufrieden.

Aber wer hat diesen Zeitgeist durchgesetzt? Wer verwaltet und verteidigt ihn? Wer sorgt dafür, dass er nicht durch einen anderen ersetzt wird? Während sich traditionelle politische oder soziale Bewegungen um eine Führerfigur gruppierten – das letzte große Beispiel wäre Donald Trump –, ist die Bewegung der Woken eher einem Virenprogramm vergleichbar, das nach und nach die gesamte Festplatte übernimmt, aber im Analogen keine Oberpriester, keine zentralen Persönlichkeiten, keinen bedeutenden Köpfe besitzt; keine Generäle, sondern lauter Unteroffiziere (von denen es einige, wie die Gender-Quacksalberin Judith Butler oder die antiweiße Wanderpfäffin Robin DiAngelo, immerhin zum Millionär geschafft haben). Wendt zitiert dazu das Buch „Twilight of Democracy. The Seductive Lure of Authoritarism“ – deutsch: „Die Verlockung des Autoritären” – von Anne Applebaum, und zwar als ein Pars pro toto für „Dutzender ähnlicher Bücher, die vor der Demokratiebedrohung warnen, vor Viktor Orbán, der PiS-Partei und nun wieder Donald Trump, aber deren „Konzept von Autoritarismus” einzig die traditionelle Form der charismatischen Führerfigur kenne, die, gestützt auf eine relative oder absolute Mehrheit, ihren Willen durchsetzt. „Die Machtausübung von wohlorganisierten, mit kulturellem Kapital ausgestatteten Minderheiten kommt bei Applebaum und verwandten Autoren nicht vor.” Dabei besitze gerade diese Variante einen enormen Vorteil für die Machtausübenden: Sie lassen sich nicht einfach abwählen. „Klassische Herrschaftskritik an den Handelnden und ihren Methoden fällt in diesem Modell sehr viel schwerer. Es gibt nicht das eine Gesicht der Macht, es existiert keine Zentrale mit Straße und Hausnummer. Darin ähneln die Bewegungen der Wohlmeinenden in bemerkenswerter Weise den zentrumslosen sozialen Netzwerken, ohne die es diese neuzeitlichen Machtkonglomerate nicht oder wenigstens nicht in dieser Form geben würde.”

Jetzt bin ich doch ins Zitieren gekommen, und wieder droht der Eintrag elend lang zu werden. Jedenfalls beschreibt Wendt die Techniken der Verachtung und die Zugangswege zum kulturellen Kapital – das überspringen wir jetzt –, um sich danach einem Phänomen zu widmen, welches man vor allem aus der kommunistischen Weltbewegung kennt: dem Reinigungsfuror der Erwachten nach innen. Wie die Sowjetmacht, nur smarter und nahezu unblutig, führen die Wohlmeinenden einen Kampf an zwei Fronten. Während ihre verbalen Schläge und rhetorischen Tritte nach außen bzw. unten praktisch immer die Richtigen treffen, fallen den internen Säuberungen auch reihenweise Zeitgenossen zum Opfer, die sich selbst als links oder liberal verstehen. In einem ohnehin vorgesäuberten Milieu, an den Universitäten oder im Kulturbetrieb zum Beispiel, wo es kaum Konservative oder gar Rechte gibt, liegt das in der Natur der Sache. Das Ritual der Opferung ist viel zu wichtig, als dass man auf „falsche” Opfer Rücksicht nehmen könnte. Deren Exklusion schweißt die Herde der Wohlmeinenden umso fester zusammen. Abschreckende Beispiele stärken den Konsens. Einmütigkeit braucht ein minus eins, statuierte der Anthropologe René Girard; bestrafe einen, erziehe hundert, sekundierte der große Konsenssachverständige Mao. Das woke Kollektiv muss unter Stress bleiben, um zu funktionieren und weiter an seiner Reinheit zu arbeiten. Nur der permanente wechselseitige Bekenntnisdruck garantiert die Dynamik der Bewegung. Was die Vielfalts-Simulanten tatsächlich erzeugen, ist ein Konformismus, der seinesgleichen sucht.

Wendt zeichnet eine Reihe der Hexenjagden nach, die immer nach dem Muster ablaufen, dass der Rufmord auch dann seine karriereschädigende (cancelnde) Wirkung zeitigt, wenn sich der Anlass als nichtig erwiesen hat oder auf einer Falschbeschuldigung beruhte, während selbst ein der Lüge überführter Rufmörder kaum Konsequenzen zu befürchten hat, weil ihn wenigstens die richtigen Motive leiteten. Die meisten dieser Kampagnen ereigneten sich in den USA, wo man den Europäern zeitgeistig üblicherweise ein oder zwei Jahrzehnte voraus ist, und so stammt die meiste Literatur, die Wendt in seine Analyse einbettet, ebenfalls aus dem Mutterland der Wokeness, von Vicky Osterweils „In Defense of Looting”, Robin Di Angelos “White Fragility” (“ein Grundlagenbuch des Verachtungsdenkens“) und Adrian Daubs “Cancel Culture Transfer” bis zu Peter Turchins “The Age of Discord” und Mark Lillas “The Once and the Future Liberal. After Identity Politics”.

Die woke Weltsicht nahm ihren Anfang in den amerikanischen Universitäten – die dümmsten Ideen stammen immer aus Universitäten – und hat längst auch die Unternehmen ergriffen, doch nirgendwo fand sie symbiosetauglichere Verhältnisse vor als in den Internetkonzernen des Silicon Valley. Die merkwürde Allianz der Wokeria mit den Milliardärssozialisten der Plattformindustrie wurde in den Acta schon öfter thematisiert, und auch Wendt widmet diesem Bündnis und der Frage, was die unnatürlichen Partner verbindet, ein separates Kapitel. Das Verbindende ist erheblich. „Die prägenden Personen auf beiden Seiten nehmen die Welt ähnlich wahr. Beide ignorieren, was Gesellschaft eigentlich bedeutet: nämlich ein über Generationen gewachsenes Gefüge aus Tradition, Sprache, Rechtsauffassungen und glücklicherweise befriedeten Kämpfen in der Vergangenheit.” Gemeinsam sei ihnen die „Feier des permanenten Wandels”, gemeinsam blickten sie auf das Gewachsene herab und meinten, es sei der Erhaltung nicht wert. „Beide der angeblich ungleichen Partner wünschen sich, was Regeln und Strukturen betrifft, eine größtmögliche Homogenität. Die Gesellschaft selbst soll sich in eine Plattform mit einheitlichem Betriebssystem und gleicher Software verwandeln, gleichgerichtet, alternativlos.”

Beider Ideal sei das Monopol.
„Beide treffen sich harmonisch in der Verachtung für alle, die Umwälzungen nicht freudig begrüßen, und geißeln deren trotziges Beharrungsvermögen. Mit dem Begriff des Bürgers kann weder ein Regressiv-Progressiver noch ein Plattformlenker etwas anfangen. Beide wünschen sich eine Gesellschaft der Objekte statt der Subjekte.”

Und so verwandelt sich ein auf den ersten Blick noch unnatürlich und schief wirkendes Bündnis in ein geradezu naturhaftes.
Es sind wieder einmal die auflockernden Sternchen fällig, finden Sie nicht?

***
Die meisten Progressiv-Regressiven arbeiten nicht im produktiven Sektor, können aber gut bis blendend von ihrem Einkommen leben. Doch wie steht es eigentlich um jene Klientel, als deren Sprecher sie sich ausgeben? Zu den stärksten Abschnitten in Wendts Buch zählen die eingangs erwähnten reportagehaften Passagen, bei aller analytischen Brillanz der anderen. Als guter Reporter hat er sein Thema nicht nur am Schreibtisch recherchiert. Gleich im ersten Kapitel besucht er eine wilde Migrantensiedlung in der Cova de Vapor, der „Dampfbucht”, in Trafaria an der portugiesische Westküste, südlich von Lissabon. Wer diesen Ort betritt, „verlässt Europa”. In etwa sechshundert Hütten, überwiegend aus Hohlziegeln errichtet und mit Blechplatten gedeckt, leben an die dreitausend Bewohner, fast alle stammen aus Afrika. Cova de Vapor ist eine jener weltweit zu findenden „Ankunftsstädte”, wie der kanadische Autor Doug Saunders in seinem Buch „Arrival City: How the Largest Migration in History is Reshaping Our World” solche Siedlungen bezeichnet. Eigentlich handelt es sich um ein „Ankunftsdorf”, notiert Wendt. „Es gibt fast nur Provisorien.” Niemand will hier bleiben. Die Migranten möchten schnellstmöglich nach Lissabon oder in andere europäische Städte, um tatsächlich irgendwo anzukommen. Ihre Lebenswünsche sind einfach: ein Job, eine Wohnung, eine Familie. Eine Mehrheit der Migranten, Kriminelle und Sozialleistungsabgreifer hin, religiöse Eiferer her, will nichts als ein normales Leben führen. Sie suchen gerade keine Gesellschaft, in der die Regeln des Zusammenlebens täglich neu ausgehandelt werden, weil sie das aus ihren Herkunftsländern kennen, betont Wendt. Sie suchen genau das Gegenteil: „Stabilität”.

Die „Dampfbucht” ist der äußerste Rand der Peripherie. Deutlich weiter im Inneren, doch nach den Maßstäben der Verwalter des kulturellen Kapitals immer noch weit draußen, vollzieht sich beispielsweise das Leben von Wolfram Ackner, eines Schweißers, der mit seiner Frau und seinen drei Töchtern in einem (noch nicht abbezahlten) Haus am Rande von Leipzig wohnt und den Wendt als nächsten Zeugen präsentiert. Auch Ackner verlangte es, nachdem er jahrelang als Berufsnomade um den halben Globus gereist war, nach Stabilität. Nach einem Zuhause. How dare he?

Ganz anders die woken Sinnpräger im Zentrum der Gesellschaft. „Sie beschäftigen sich mit der Herstellung von Unsicherheit”, beobachtet Wendt. „Ihre Formeln dafür heißen ‚Riss im System’, Disruption, Umbruch, Abriss, Aufbrechen von Strukturen. Ihre Forderung lautet, dass der Boden um sie herum schwanken und das allermeiste, was auf ihm steht, zum Einsturz bringen soll. Sie verkünden die Lehre vom permanenten, alle mitreißenden Wandel.” Maliziös bezeichnet Wendt sie als „weiße Mittelschichtsangehörige mit Hang zum Dekonstruktivismus” oder „Verkrustungsaufbrecher mit Kuratorenstatus”. Ihre Parole könne lauten: „Friede dem Zentrum, Krieg der Peripherie”. Offenbar glaubten sie selbst daran, dass die von ihnen besiedelten Zentren von jenem großen Umbruch, den sie ständig fordern, verschont bleiben.

Solche Edle empfinden Vorbehalte ihren Motiven gegenüber oder gar Kritik als Sakrileg und reden normalerweise nur mit Ihresgleichen. Einer immerhin, Tadzio Müller, „Deutschlands Klimaaktivist der ersten Stunde” (taz), für den „die Berufsbezeichnung Protest-Entertainer am ehesten passt, vielleicht auch Protest-Entrepreneur” (Wendt), war unkonventionell genug, den Autor von „Verachtung nach unten” zum Gespräch zu empfangen (wie übrigens auch die Verantwortliche für Diversity, Equity und Identity bei BMW). Müller ist nicht nur ein Streiter gegen die fossile Energieerzeugung, Mitgründer der Bewegung „Ende Gelände” und zwischenzeitlicher Mitarbeiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung, sondern ein Homosexueller, der als BDSM-Hure arbeitet, also praktisch unkritisierbar. Er lebt in einer Berliner Altbauwohnung, die ihm der Papa geschenkt hat. Sein zentraler Satz im Gespräch mit Wendt lautet: „Warum soll ich irgendetwas davon abhängig machen, was ein Arbeiter bei VW denkt?” Von Müller stammt der Begriff „Normalextremisten”, der zeigt, dass er in jenem Teil der Bevölkerung offenbar ein Problem sieht. Es sind diejenigen, die das kapitalistische System weder sprengen noch abschaffen wollen, weil sie wissen, dass es sie ernährt. Es sind diejenigen, die fossile Energie verbrauchen, indem sie zur Fabrik pendeln, diejenigen, die nicht global denken, sondern an ihre Familien, die die Große Transformation der Industriegesellschaft nicht vorantreiben, sondern behindern, und die wahrscheinlich populistische Parteien wählen. Es sind diejenigen, „die den großen Riss im System nicht wünschen, sondern fürchten”, kommentiert Wendt. „Meist fehlt ihnen auch ein Elternteil, der ihnen das Geld für eine Eigentumswohnung in einer europäischen Großstadt schenkt.”

In solchen Passagen ist „Verachtung nach unten” pures Dynamit.

Der Autor präsentiert zwei soziale Milieus, zwischen denen eine unsichtbare, aber unüberwindliche Mauer existiert, ja die im Grunde auf verschiedenen Planeten leben, wobei das Milieu der Wohlmeinenden bei denen im Dunkel, den Stabilitätsnarren, ähnlich wie Hillary Clinton einen Unterschied macht zwischen den deplorables, den peinlichen Landsleuten, und den Migranten; zu Letzteren pflegen sie zwar auch keinerlei Kontakte, behaupten aber, ihre Interessen zu vertreten. Ein monströs lächerliches Sinnbild solcher Interessensvertretererschleichung wurde anno 2012 mit EU-Fördergeldern in die „Dampfbucht” gepflanzt: die „Casa do Vapor”. Eine besonders progressive Architektengruppe schuf dieses „Projekt”, ein Holzhaus mit einer Gemeinschaftsküche mitten in der Siedlung. Den Erbauern zufolge verkörperte ihr Werk „partizipatorisches Design” und eine „kollektive Bricolage”. Sie verkauften es als „Austauschort zwischen Praktikern, Teilnehmern und lokalen Anwohnern”, sprachen von „Konzepten des sozialen Raums” und rühmten die einzigartige soziale und urbane Umgebung. „Das mit dem europäischen Kulturhauptstadtprogramm finanzierte und von Aktivisten errichtete Gemeinschaftshaus aus Holz stand merkwürdigerweise nur ein Jahr, bis 2013. In der Dampfbucht, wo praktisch alles aus Provisorien besteht, gehörte das Kulturhauptstadtgeschenk zu den kurzlebigsten Bauten überhaupt.”

Der Wunsch der allermeisten Menschen nach Stabilität und der Ruf einer Elite nach permanenter Umwälzung, resümiert Wendt, trenne diese beiden Gruppen schärfer voneinander als Reichtum und Armut, Herkunft oder Religion. „Wenn jemand die Wendung ‚Verkrustungen aufbrechen’ benutzt, dann meint er so gut wie nie seine eigenen.”

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„Wer von Gruppenidentitäten spricht, muss sich sozial blind stellen.”
(Noch so ein Wendtscher Merksatz)

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Am Ende seines Betrachtung führt Wendt den Bürger als Gegenspieler der Progressiv-Regressiven ein und errichtet eine Art Gesetzestafel aus zwölf Regeln als „Summe aus der Geschichte von Bürger‑, Macht- und Rechtsverständnis”, die als Grundlage zur Befriedung der Gesellschaft hilfreich sein könnten. Und zwar (ich spare mir die Anführungsstriche):

1. In einer offenen Gesellschaft lässt sich aus der Hautfarbe weder eine generelle Privilegierung noch eine generelle Diskriminierung ableiten.
2. Schuld ist immer individuell und konkret. Niemand muss sich eine Schuld für den Kolonialismus und die Sklaverei einreden lassen. Es gibt keine „white guilt”.
3. Niemand kann eine moralischere, höherwertige Sicht der Dinge für sich beanspruchen, weil er einer Minderheit angehört.
4. Wenn sich jemand durch eine legitime Meinungsäußerung „verletzt” fühlt, ist das ein Affekt, aber kein Argument, das jemand kümmern müsste.
5. Im öffentlichen Raum hat niemand Anrecht auf einen „safe space”, also einen Schutzraum vor Kritik und überhaupt anderen Meinungen.
6. Institutionelle Machtteilung, Rede und Gegenrede gehören zu allen öffentlichen Angelegenheiten. Zweifel gehört zur Wissenschaft.
7. Von keinem Mitarbeiter in einem Unternehmen und einer Institution dürfen Bekenntnisse verlangt werden, die über das hinausgehen, was Verfassung und allgemeine Gesetze vorsehen.
8. Es ist völlig legitim, eine pauschale Anklage gegen den Westen als kolonialistisch, rassistisch und unterdrückerisch genauso pauschal als anmaßend zurückzuweisen.
9. Wer die Existenz einer „weißen Schuld” und einer kollektiven westlichen Schuld für die Vergangenheit behauptet, sollte umgehend mit der Frage konfrontiert werden, was ihn dazu legitimiert.
10. Weder der Staat mit seinen Ressourcen noch überwiegend staatlich finanzierte Organisationen haben sich am öffentlichen Meinungsstreit zu beteiligen.
11. Der Staat und seine Repräsentanten befinden sich gegenüber den Bürgern in einer dienenden Position. Sie sind den Bürgern verantwortlich, nicht umgekehrt.
12. Erwachsene sind keine Erziehungsobjekte. Auch die beste Absicht rechtfertigt keinen Übergriff auf die Souveränität des Bürgers.

Im Schlusskapitel entwirft Wendt eine Art Neuen Westfälischen Frieden, der die Spaltung der Gesellschaft zwar nicht überwinden, aber erträglich machen soll, so wie sich 1648 Protestanten und Katholiken ja nicht zur Ökumene versammelten, sondern die Kämpfe einstellten. „Im Grunde bräuchten die Regressiv-Progressiven nur einen Schritt zu unternehmen – sie müssen den Kulturkrieg einstellen”, schreibt er. Die Woken hätten den größeren Schritt zu tun, da sie momentan am Drücker säßen, doch sie sollten sich vor Augen führen, dass sie außer Abrissarbeiten nichts anzubieten hätten und der Peak of Wokeness womöglich schon vorüber sei.

„Deshalb noch einmal zur Erinnerung, was Kulturkrieg bedeutet: Ganze gesellschaftliche Gruppen als Erbärmliche, als Abgedriftete, als Unbedeutende zu etikettieren – das ist Kulturkrieg. Vorträge und Veranstaltungen, die sich im legalen Rahmen bewegen, aus politischen Gründen zu verhindern – das ist Kulturkrieg. Staatlich finanzierte Meldestellen für strafrechtlich nicht relevante Meinungen einzurichten – das ist Kulturkrieg. Der Mehrheitsgesellschaft einzureden, sie sei kollektiv rassistisch und trüge eine Erbschuld für die Vergangenheit – das ist Kulturkrieg. Druck auf Universitäten, Verlage, Medien auszuüben mit dem Ziel, die Forschung zu gängeln und das Erscheinen bestimmter Texte zu verhindern – das ist Kulturkrieg. Jeden, der etwas gegen diese Kulturkrieger vorbringt, zum Gesellschaftsfeind, zum Demokratiefeind, zum Faschisten zu stempeln – das ist Kulturkrieg. All diese Dinge geschehen. Alles, was die Regressiv-Progressiven ihrerseits zur Befriedung beitragen müssten, wäre, sie in Zukunft zu unterlassen.”

Nicht der Pendelausschlag in eine Säuberung von rechts, sondern die Entgiftung der öffentlichen Atmosphäre sei das Ziel. Wem sei Kompromissvorschlag zu nachgiebig gegenüber Leuten erscheine, die sich selbst meist keine Rücksicht bei ihren Kampfmethoden auferlegten, dem empfiehlt Wendt eine Meditation über Ciceros Satz: „Der ungerechteste Frieden ist immer noch besser als der gerechteste Krieg.” Ein auf Dauer gestellter Kulturkrieg „könnte am Ende das vernichten, was in der Gesellschaft alle dringend brauchen – die Stabilität. In einem Sieg auf einem Trümmerhaufen liegt wenig Wert. Das gilt für jede Seite.”
.. Alles vom 12.3.2024 von Michael Klonovsky bitte lesen auf
https://www.klonovsky.de/2024/03/12-maerz-2024/

 

Matthias Matussek rezensiert: Wendt gegen Woke: Wohlgesinnt auf dem Sonnendeck
Längst geht es im politischen Diskurs nicht mehr um links oder rechts. Nun herrscht vielmehr Kampf zwischen den selbsternannten „Erwachten“ und dem vermeintlich unaufgeklärten Pöbel – jedenfalls laut Alexander Wendt, der in seinem neuesten Buch die Bewegung der Woken seziert. Matthias Matussek rezensiert.
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Mit Alexander Wendts gerade erschienener Tiefenbohrung „Verachtung nach unten“ gibt es für den Rezensenten ein handwerkliches Problem: Wie soll man ein Buch angemessen vorstellen, in dem man jeden zweiten Absatz unterstrichen hat?
Wohl selten ist Antonio Gramscis Begriff der „Kulturhegemonie“, die sich in politische und materielle Macht übersetzt hat, so genau und gleichzeitig essayistisch federnd unter die Lupe genommen und auf die aktuellen Bedingungen hin untersucht worden. Ich behaupte, daß dieses Buch zum kultursoziologischen Standardwerk unserer spät- wenn nicht postdemokratischen Epoche avancieren wird.
Es ist reich an Details, ohne den großen Bogen zu verlieren. Es greift aus in anthropologische, historische und religionssoziologische Zonen. Es wird gespeist von einem enormen Quellenstudium, unter dem sich nicht wenige Bücher befinden, die bisher nicht in den deutschen Sprachraum vorgedrungen sind. Vor allem aber schildert es in bester Reportermanier Begegnungen mit denen, die den Autor in seinen Überlegungen durch den Gegenwartsdschungel einer komplett fraktionierten Gesellschaft führen, ob es der Immigrant ist oder der Schweißer aus Dresden, der CEO eines Hedgefonds oder die Wokeness-Beauftragte eines Großkonzerns.

Viele Arbeiter fühlen sich von den Linken vernachlässigt
Der Titel „Verachtung nach unten“ könnte nicht besser gewählt sein. Wendt entdeckt in dem Kulturkampf, den eine tonangebende Clique von „Erwachten“, die ein ganzes System, eine Ordnung aus Gewohnheiten und Lebensvertrautheiten zertrümmern wollen, um es fernen rosigen Horizonten entgegenzuführen, die blasierte Herablassung einer linksgrünen Oberschicht gegen diejenigen, die an Bewährtem festhalten wollen, bevor sie sich auf existenzbedrohende Abenteuer einzulassen gedenken.

Diese trifft der Bannstrahl der Verachtung. Kostprobe Wendt: „Wenn jemand die Wendung ‘Verkrustungen aufbrechen’ benutzt, dann meint er so gut wie nie seine eigenen. In den wenigsten Fällen fragt er die anderen, deren Verkrustungen er beseitigen will, nach ihrer Sicht – ungefähr so wenig, wie ein Suppenkoch ein Gespräch mit der Schildkröte für nötig hält, wenn er sich daranmacht, ihr den Panzer einzuschlagen.“ Tatsächlich gelingt es Wendt, die bessergestellten Kulturmarxisten in ihre eigenen Aporien zu verwickeln. Ihren Strategien nach soll das Bewußtsein das Sein bestimmen, statt umgekehrt, wie es die Klassiker vorgeben.

Wendt bietet dagegen den Schweißer (tagsüber) und Schriftsteller (nachts) Wolfram Ackner aus Dresden auf, der sich eine Zeitlang in linke WGs verirrt hatte: „Ich habe noch nie so ein Kastensystem erlebt wie in der linken Szene.“ Ackner gehört trotz seiner Lebensleistung, eine Existenz und eine Familie mit drei Töchtern gegründet zu haben, zu den Ungehörten, zu den Unsichtbaren. Adam Soboczinky in der Zeit zu diesem Milieu der Arbeiterklasse: Solche Leute seien „unsichtbar“, niemand zeige ihren Alltag, „sie sind nicht arm, sie sind nur unbedeutend und out“. Ihr Schicksal ist vergleichbar mit dem der Arbeiter im 19. Jahrhundert, bevor es die Gewerkschaften gab.

Nicht mehr das sozioökonomische, sondern das kulturelle Kapital entscheidet
Denn auch ihre angestammte politische Repräsentanz, die Sozialdemokratie oder die Linke, haben sich längst dem Wokismus angeschlossen, also der Religion der „Erwachten“, für die der Kampf um die Rechte von Transpersonen und anderen sich marginalisiert fühlenden Gruppen, etwa der Hunderttausenden von immigrantischen „Klimaflüchtlinge“ zur Hauptsache geworden ist. Diese Sozis scheinen sich zu schämen für die rückständigen Ackners dieser Welt. Denn Ackner ist trotz seiner Leistungen in ihren Augen nichts. Entscheidend ist das, was Wendt das „kulturelle Kapital“ nennt, über welches Ackner, der Unsichtbare, nicht verfügt.
Die neue Bruchlinie in der Gesellschaft verläuft nicht mehr zwischen links und rechts, die in früheren Zeiten immerhin Streit und Diskussionen ermöglichte. Nein: „Der Gegensatz zwischen innen und moralisch oben auf der einen und unten und draußen auf der anderen Seite gliedert heute fast alle westlichen Länder.“ Und mit „draußen“ muß man sich per definitionem nicht weiter beschäftigen.
Daß dieses Geschäft des Ausblendens in Deutschland besonders gründlich besorgt wird, sollte nicht überraschen, denn wir sind gern Perfektionisten, ins Gute wie ins Böse. Jüngster Beleg: Eine Zeitungskampagne regierungsnaher Presse-Erzeugnisse wie Die Zeit, Süddeutsche Zeitung und Tagesspiegel unter dem Hashtag „Zusammenland“, wobei klar wird, wer in diesem imaginären Land nichts zu suchen hat: nämlich diejenigen, die draußen sind, weil sie keine „Weltoffenheit“ aufbringen, welches selbstverständlich das Codewort für offene Grenzen ist.

Wokeness bedeutet die Rückkehr in die Vormoderne
Relativ früh in seinem Werk führt Wendt für die Kaste der moralisierenden Diskursherrscher den Begriff der „Wohlgesinnten“ ein, da sie ja, in aller rüden und rüdesten Form, nur das Wohl der Allgemeinheit im Auge zu haben behaupten. Und er erinnert an die Wurzel des Wortes, es ist der griechischen Mythologie entlehnt. Die Wohlgesinnten sind Eumeniden bzw. Erinnyen, die Rachegöttinnen aus der Orestie des Dichters Aischylos, nämlich Alekto, die besessen Verfolgende, sodann Megaira, die neidisch Zornige, und schließlich Tisiphone, die ewig Vergeltende.

In den Wohlgesinnten unserer Tage, ganz besonders in den Kämpfen an den Universitäten um die reine woke Lehre, sind alle drei als Phänotypen leicht auszumachen. Und Wendt führt sie vor in unzähligen Beispielen über Verfemungen, Veranstaltungs- und Lehrverbote, Karrierestürze, anonyme Beschuldigungen, Flugblätter, Schmierereien, und alle zeigen das Bild eines Bürgerkriegs, in dem alle Abweichungen von linken Diskursvorgaben geahndet werden mit der schicksalhaften Unbarmherzigkeit von griechischen Tragödien.
Sie zeigen die Zersplitterung einer Bürgergesellschaft in Clans und Stämme, also in vormoderne Zeiten, wofür Wendt den Begriff „progressiv-regressiv“ anbietet: Sie verkaufen unter progressiv wirkendem Anstrich die Rückkehr zu vormodernem Tribalismus und magischem Denken, etwa dem, daß eine geänderte grammatische Bezeichnung den realen Wechsel des menschlichen Geschlechts bedeutet.

Ein falsches Zitat und schon wird man gecancelt
Nicht der weiße Lagerarbeiter ist nach dieser Lehre in der Gesellschaft marginalisiert, sondern Menschen mit dunkler Hautfarbe, Transsexuelle, Muslime. Doch der Sturz in die Lautlosigkeit kann durchaus auch Angehörige der meinungsgebenden kulturellen Oberschicht treffen, so etwa Professor Michael Meyen vom Institut für Kommunikationswissenschaften in München, den Wendt besucht. Er ist einer, der zum Paria wurde, weil er auf seinem Blog die Meinungskonformität der Presse, besonders der Süddeutschen, beklagte und einen Gastbeitrag zuließ, der den „umstrittenen“ Blogger Ken Jebsen zitierte.

Das Blatt rief nach dem Verfassungsschutz. Kollegen wandten sich von ihm ab. Er verlor universitäre Funktionen. So schnell ist das konsensbesessene Juste milieu der Akademiker bereit, einen der ihren den Hunden zum Fraß vorzuwerfen, wenn er tatsächlich ernst nimmt, was eine Wissenschaftsinstitution doch erst ausmacht: den Austausch von Argumenten, den intellektuellen Streit. Ähnliches passierte dem Osteuropa-Historiker Jörg Baberowski (Berlin) oder dem zuletzt in Rostock lehrenden Altertumsforscher Egon Flaig.

Anpassungsdruck schafft Feudalismus in woke
Aber solche Fälle sind mittlerweile Legion, und Wendt zitiert die haarsträubendsten Beispiele aus den USA, aus Frankreich, aus England. Gegenwärtig allerdings ist in Deutschland unter der rotgrünen Innenministerin Nancy Faeser eine Ausweitung der Kampfzone zu beobachten – sie greift auch kleine Fische ab: Erst kürzlich wurde einer Kölner Stadtangestellten nach 40 Dienstjahren fristlos gekündigt, weil sie einen Vortrag des Identitären Martin Sellner besucht hatte. Inzwischen klagt die Frau gegen ihren Rauswurf.

Die „Erwachten“, die „Wohlgesinnten“ der kulturellen Eliten, nehmen gern die Rolle der moralisch Überlegenen an, sie halten sich für klüger, für ästhetisch gebildeter, sie sind erwacht zum „besseren Leben“. Hier erkennt Wendt eine religionssoziologische Rückkopplung, wenn er schreibt: „In dieser Selbstwahrnehmung kehrt ganz nebenbei die alte calvinistische Idee der Gnadenwahl in weltlicher Form zurück, die eine höhere Begründung für den eigenen materiellen Wohlstand liefert: Wir verdienen ihn, weil wir zu den moralisch Besseren gehören.“
In der Sinnproduktion herrscht eine feudale Klassengesellschaft: Oben auf dem Sonnendeck die Senderleiter und Chefredakteure, Hochschulprofessoren, Kirchenfürsten. Darunter Redakteure, Bedienstete, Dozenten, NGO-Mitarbeiter. Die unterste Klasse bilden diejenigen in prekären Arbeitsverhältnissen, darunter Journalisten mit Zeitverträgen, Autoren, die von ständig geringeren Zeilenhonoraren leben müssen. Das erzeugt einen Anpassungsdruck, auch sie möchten nach oben, sie möchten ins Sorgenfreie, und selbstverständlich hüten sie sich davor, unangenehm aufzufallen, etwa mit einer unbedachten Äußerung zur Gendersprache oder Massenimmigration. Dieses System ist mittlerweile schüttelfest und selbsterhaltend, es erzeugt Konforme und Opportunisten – womit die oft gestellte Frage nach dem Glaubwürdigkeitsverlust der Medien beantwortet wäre.

Ostdeutsche und Bauern als Prügelknaben
Die Verachtung der tonangebenden Kreise für die dort unten tritt zunehmend ungenierter auf. Jüngst kommentierte der Südwestrundfunk-Grande Rainald Becker die Bauernproteste mit den Worten: „Traktorfahren macht offenbar dumm.“ Es ist der Klassenkampf der linken Gutverdiener gegen die rechten Schlechtverdiener, wenn ein „erwachter“ Tagesthemen-Kommentator fleht: „Macht Fleisch, Autofahren und Fliegen so verdammt teuer, daß wir davon runterkommen!“
Eine besondere Verachtung trifft die transformationsmüderen Menschen im Osten des Landes, die gleichzeitig die hellhörigeren sind für Töne, die an die Tage der Diktatur erinnern. Sie werden nach Herzenslust von den „Wohlgesinnten“ verhöhnt, etwa wenn der einstige Spiegel-Mann Hasnain Kazim spottet: „Höre, ich soll Ostdeutsche ‘ernst nehmen’. Ihr kamt 1990 mit ’nem Trabi angeknattert und wählt heute AfD – wie soll ich euch ernst nehmen?“ Der Chefredakteur der Saarbrücker Zeitung schrieb ebenfalls nach einem Wahlergebnis im Osten, das ihm mißfiel: „Was bilden sich die Ossis eigentlich ein?“

Wendt hofft auf ein Ende der Kulturkämpfe
Seine großangelegte und in jeder Beziehung großartige Studie läßt Alexander Wendt in Überlegungen darüber münden, ob sich die offenkundigen Idiotien und Gaunereien woker Exzesse – etwa die haarsträubenden Hamas-Demonstrationen an amerikanischen Unis, in deutschen Innenstädten – mit der Zeit erledigen werden, da ihre Absurditäten immer offenkundiger zutage treten. Er glaubt, daß es für eine Weile ein Parallel-Laufen gibt, wie nach dem westfälischen Religionsfrieden am Ende des Dreißigjährigen Krieges, eine Ermattungsphase, in der die Kämpfe aus purer Ermüdung ruhen.
Ich für meinen Teil halte das für allzu optimistisch. Denn ich glaube, daß diejenigen, die sich für die Erwählten, die Erwachten, die Wohlgesinnten halten, um ihre Machtpositionen mit der allergrößten Chuzpe und demokratieverachtender Entschlossenheit kämpfen werden, denn sie verteidigen ja nicht nur ihre Privilegien – sie wähnen sich zudem auf der guten Seite der Geschichte.
… Alles vom 3.3.2024 von Matthias Matussek bitte lesen auf
https://jungefreiheit.de/kultur/literatur/2024/wendt-gegen-woke-wohlgesinnt-auf-dem-sonnendeck/ oder
Junge Freiheit ,10/24, Seite 13
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Kommentare:
„Ich für meinen Teil halte das für allzu optimistisch. … sie wähnen sich zudem auf der guten Seite der Geschichte.“
Und nicht nur wähnen sie sich auf der guten Seite. Sondern vor allem: es sind Sozialisten. Und die ruhen nicht, bis sie alles nicht-sozialistische ausgemerzt haben. Egal, ob es braune, rote oder grüne Sozialisten sind.
Ich wähne mich auch auf der guten Seite. Aber mir käme nicht in den Sinn, von anderen zu verlangen, so zu denken oder zu handeln wie ich. Ich bin kein Sozialist, sondern ein Anhänger individueller Freiheit in einem schlanken, nationalstaatlichen, den Menschen dienenden Überbau und sozialer Marktwirtschaft. Rad
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Der Übertriebene und extreme Wokismus hat seinen Ursprung bei den evangelikalen Moralpredigern in den USA. Wenn ich mir so manches Outfit von gewissen SPD – und Grünweibern ansehe, erinnert mich das sehr an die evangelikale Sekte der Amischen. Diese leben auch heute noch nach Steinzeit-Regeln. Nie
Ende Kommentar
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Wolfgang Röhl rezensiert Alexander Wendt: Ist Peak Woke schon erreicht?
von Wolfgang Röhl
Zeitgeist-Buster Alexander Wendt (Foto oben) untersucht, wie es zum Aufstieg der Moralbourgeoisie und ihrer Glaubenssätze kommen konnte. Und ob der Scheitel der Erwecktenschwemme mittlerweile überschritten ist.

Wer als heute älterer Mensch in Jugendjahren einer ordentlichen Dosis Marx ausgesetzt war – dem Hauspropheten der Linken war ja ab den späten 1960ern für lange Jahre kaum zu entkommen –, der hätte alles Mögliche angenommen. Als Juso oder DKP ist zum Beispiel, dass der Klassenkampf bestimmt kommen würde, bloß etwas später als von Marx angedacht. Wer eher konservativ oder liberal tickte, war sich ziemlich sicher, dass VW-Käfer, Reihenhäuschen und rheinischer Kapitalismus die Marx’schen Visionen längst obsolet gemacht hatten.
Aber niemand, wirklich kein Schwein, hätte sich träumen lassen, dass es mal einen Klassenkampf geben würde, der von oben nach unten geführt wird. Dass eine privilegierte Klasse aus zumeist urbanen Milieus – die mittlerweile zweite Generation der durch die Institutionen Marschierenden – aus ihren krisensicheren, gutdotierten Stellungen heraus dem Rest der Gesellschaft den Stinkefinger zeigen würde.
Friede dem Zentrum, Krieg der Peripherie – auf diese Formel bringt der Autor Alexander Wendt die Strategie der Wohlgesinnten, welche die Schaltstellen der Sinnproduktion besetzt haben, um die da unten Mores zu lehren. Eine Moralbourgeoisie, angeführt von Senderfürsten, Kirchenfürsten und Stiftungsgrößen auf dem Sonnendeck, die sich bei mancherlei Unterschiedlichkeit der Interessen in einem Punkt einig ist: in der profunden Verachtung nach unten.
Scharfgestellte Beschreibungen und punktgenaue Wortschöpfungen
Alexander Wendt (oben im Bild), das stellt sein neues Buch mit dem gleichnamigen Titel schon nach ein paar Seiten unter Beweis, ist ein Meister scharfgestellter Beschreibungen und punktgenauer Wortschöpfungen. Die laufende Übernahme der Diskurshoheit durch eine moralische Hirtenklasse bei deren gleichzeitigem Versuch, nicht genehme Meinungen in einen schalltoten Raum der Gesellschaft zu sperren, benennt er mit Enzensbergerischer Eleganz, die auf Schmähungen oder Tiraden verzichten kann. Weil eine Kaskade von Einfällen durch die Kapitel läuft, die keines Schaumes vorm Mund bedürfen.

Ja verdammt, sagt sich der Leser, genau das ist es, was die Profiteure des ökologisch-industriellen Komplexes, die Unkündbaren im Staats- und Staatsfunkdienst, die Schönfärber in den Wirtschafts- und Kulturkammern eint: der latente Glaube an die „alte Idee der Gnadenwahl der Calvinisten“ (Wendt). Wir verdienen, was wir mehr verdienen, weil wir einfach bessere, fortschrittlichere, nachhaltigere Menschen sind! Und das E-Lastenrad vom holländischen Designer für 6.000 Euro, das vor dem schneeweißen Gründerzeithaus in Hamburgs Isestraße den Gehsteig verstellt, ist unser Gesinnungsbonus.
Wie Deutschland in eine Woke-Lage geraten konnte, in der die Twitteria (auch so ein hübsches Wendt-Wort) sich nicht scheut, die da auf der Straße mit dem faschistoiden Wort vom „Blinddarm der Gesellschaft“ zu belegen, also als etwas, das wegkann, zeichnet das Buch in sieben Kapiteln nach.
Langen Raum nimmt der Abschnitt über die USA als Kinderstube der woken Blasen ein. Aus ihren Universitäten wurden einst die Achtundsechziger ideologisch aufmunitioniert. Hier wurde 2016 schließlich der Terminus vom „Korb der Jämmerlichen“ geprägt, mit dem Hillary Clinton bei einer New Yorker Wahlkampfspenden-Gala vor LGBT-Publikum so ungefähr die Hälfte der Amerikaner in die Tonne trat.

Der Klassenkampf der Gesinnungswächter zielt nicht auf die Eliten
Die Jämmerlichen, das sind seither für viele Linke der USA jene Mitbürger, die Verbrennerautos, Steaks und das Recht auf Waffenbesitz schätzen, aber nicht sehr auf illegale Migranten, veganes Futter oder politisch-korrektes Geschwafel („Ableism“) stehen. Da alles, was an Blödsinn in den USA ausgekocht wird, früher oder später über den Teich schwappt, kann man gar nicht scharf genug nach drüben schauen. „Eine Verteidigung des Plünderns“, wie sie Galionsfiguren des Radical chic dort formulieren, hätte auch hierzulande Partisanen. Doch der Blick in die USA lohnt auch, weil es dort mittlerweile im woken Gebälk hoffnungsversprechend zu knistern beginnt. Davon später.
Novität in der Geschichte der Bundesrepublik: Eine Phalanx aus Staatsfunkanstalten und großen Teilen der privaten Medien sieht ihre Aufgabe nicht mehr darin, die Bürger vor Übergriffen des Staates zu schützen. Sondern darin, den Staat vor seinen Bürgern in Schutz zu nehmen. Die beim Aufmucken gegen verheerende Lockdowns oder ökologisch verbrämte Bauernlegerei sogleich zu Seuchenleugnern oder zum Mistgabel-Mob ernannt werden. Und wer dafür ist, dass hunderttausende von illegal Reingeschneiten das Land verlassen, wie das Gesetz es will, auch wenn die Illegalen es nicht wollen, gilt als wiedergeborener Wanneekonferenzteilnehmer.
Und die gute alte Klassenfrage? Ist derweil weitgehend unter die Räder gekommen. Nein, der Kapitalismus muss definitiv keine Angst haben vor den Wokies. Der Klassenkampf der Gesinnungswächter zielt auf die Erbärmlichen, nicht auf die Eliten. Was in den Milieus der Ton-Angeber zählt, sind Hautfarbe, Geschlecht, Herkunft vulgo Stamm. Demnach ist ein weißer deutscher Lagerist mit 2.000 Euro im Monat immer noch „privilegiert“ gegenüber einer schwarzen Frau mit Migrahu, die als „Tatort“-Darstellerin ein Vielfaches verdient.

Druck im Inneren des akademischen und publizistischen Prekariats
Die „ewigen Niederreißer“ (Wendt) kennen keine Klassenschranken mehr. Sie fürchten sich auch nicht vor Degrowth aka wirtschaftlichem Niedergang. Es handelt sich ja überwiegend nicht um Schweißer wie den Achse-Mitarbeiter Wolfram Ackner, der im Buch zu Wort kommt. Für Menschen mit staatlicher Jobgarantie oder erlesenen Tätigkeiten kann es gar nicht grün und geschrumpft genug werden. „Das Auto einfach mal stehen lassen“ rät eine Schreibkraft der FATAZ Elektromobilisten zwecks Pflege des Akkus und des Planeten. Wer unbedingt zur Arbeit muss, benutzt einfach das Zweitauto, nicht wahr. Woke leben ist nichts für Knauser.
Wendt tritt bei der Betrachtung von Verhältnissen gern ein wenig zurück, der besseren Übersicht wegen. Etwaige Zusammenhänge im Wimmelbild der Ereignisse sind für den langjährigen Focus-Redakteur, seit 2020 bei Tichys Einblick tätig, manchmal erkennbar. Eigentlich versucht seine Analyse, in welche er eine Reihe von Reportagen und Interviews eingebaut hat (etwa mit dem Initiator der gescheiterten linken „Aufstehen“-Bewegung Bernd Stegemann), die Lösung eines Rätsels. Was hält die vielgliedrige Allianz des Woketums zusammen? Wie kommt es, dass Leute mit einem Fimmel für die Existenz von 87 unterschiedlichen Geschlechtern zugleich die massenhafte Einwanderung von Menschen beklatschen, in deren Herkunftsländern man Schwule oder Transen an den Baukran hängt?

Die Uniformität der veröffentlichten Meinung, fast hundertprozentig auf Vordermann gebracht bei den Berichten über die jüngste inszenierte Protestwelle („Remigations-Konferenz“), woher rührt sie? „Homogenisierung ohne zentrale Anweisungen“ nennt Wendt, allen Aluhüten abgeneigt, das Phänomen. Gerade im Inneren des akademischen und des publizistischen Prekariats, schreibt der Medienkenner, herrschen enormer Druck und Ungleichheit:
„Je schlechter die Chancen auf den verheißenen Aufstieg, von dem die Aspiranten selbst- verständlich annehmen, dass er ihnen zusteht, je kleiner die Zahl der privilegierten Posten, desto heftiger der Eifer, sich selbst als besonders wachsam, rein und zuverlässig zu beweisen. Und desto heftiger das Bestreben, Feinde ausfindig zu machen und niederzukämpfen. Auch wenn die meisten von ihnen Carl Schmitts Schriften nicht kennen, verinnerlichen sie aus Eigeninteresse einen seiner Sätze: ,Sichert Euch rechtzeitig die Position des Anklägers!‘“

Die Erwachten stoßen jetzt hier und da auf Gegenwehr
Die permanente Disruption, Lieblingssport der Aufgewachten, ist allerdings das Letzte, was sich die Unerleuchteten wünschen. Tatsächlich ist Stabilität ein Sehnsuchtsort der meisten Menschen, die Umbrüchen und Unsicherheiten über lange Zeiten ausgesetzt waren. Gesetze und Regeln des Zusammenlebens, die eben nicht „täglich neu ausgehandelt werden müssen“ (worauf sich eine Vize-SPD-Vorsitzende mal öffentlich freute), das wird nicht zufällig besonders in Ostdeutschland geschätzt. Und nicht nur dort. Am Anfang des Buches schreibt der Autor über Begegnungen mit Migranten in einer Siedlung am Rande von Lissabon. Überraschung: Was sich die meisten vom Migrationsziel erhoffen, weil es in ihren Herkunftsländern Mangelware ist: Stabilität, Rechtssicherheit.
Das Interessanteste in „Verachtung nach unten“ ist für mich das achte Kapitel, betitelt „Provisorischer Frieden – ein Entwurf“. Es macht Vorschläge, wie der „Kulturkrieg zwischen Bürgergesellschaft und ihren Feinden geordnet beendet“ werden könnte. So, wie auch der Dreißigjährige Krieg wegen Erschöpfung der Parteien endete, von denen keine mehr einen Sieg erhoffen durfte. Wendt plädiert für eine „Entgiftung“, warnt vor rechten Säuberungsphantasien.

Sein 12-Punkte-Programm, darunter die Anerkennung eigentlich selbstverständlichen Verhaltens („Institutionelle Machtteilung, Rede und Gegenrede gehören zu allen öffentlichen Angelegenheiten. Zweifel gehört zur Wissenschaft.“) wäre selbstredend vollkommen chancenlos, würden sich nicht Zeichen mehren, dass der Höhepunkt der Wokeness-Welle erreicht oder bereits überschritten ist. Jedenfalls stoßen die Erwachten jetzt hier und da auf Gegenwehr. Den Sinnproduzenten, noch vor einem Jahr oder so von baldigem Endsieg überzeugt, schwimmen Felle weg.

Ist der Gipfel des Beknackten endlich erreicht?
In den USA wurde das Proleten-Bier Budweiser massenhaft boykottiert, als es eine auf Audrey Hepburn gestylte Transgender-Influencerin als Werbemaskottchen wählte. Dass die Harvard-Präsidentin Claudine Gay, zwar unfähig, aber schwarz, wegen antisemitischer Vorfälle auf dem Campus und Plagiaten in ihren eigenen akademischen Arbeiten zurücktreten musste, war alles andere als selbstverständlich gewesen, als Ende vergangenen Jahres die ersten Vorwürfe aufkamen. Und dass an der durchweg stramm progressiv regierten Westküste, wo Städte wie San Francisco oder Portland in Kriminalität und Drogensumpf versinken, radikale Kommunalpolitiker abgewählt werden, setzte ebenfalls Zeichen. Der US-Autor Michael Shellenberger hält sie für ein Signal, dass in einigen Räumen „Peak Woke“ erreicht sei. Allerdings noch nicht in ganz Amerika, geschweige denn in Europa:
„Der Aufstieg dieser Ideologie war ein langer Prozess über viele Jahre. Und wenn das der Wendepunkt war, dann wird sich auch ihr Abstieg über viele Jahre hinziehen. Sie wird nicht schnell und plötzlich verschwinden.“
Und Deutschland? Dass die Litanei vom bösen weißen alten Mann, dass der identitäre Wahn autochthoner Tribalisten, dass die Verherrlichung des edlen Wilden auf dem Gummiboot, dass die Sprachverkasperung (XY möchte partout nicht als Mann „gelesen“ werden), dass also diese ganze wildbeknackte Mischung ihren Gipfel bereits erreicht hat: too good to be true. Peak Woke ist ja eine hübsche, dem Jargon der Ressourcen-Kassandras angelehnte Sprachblume. Die freilich ein Geschmäckle aufweist. Hatte nicht auch der Club of Rome anno 1972 einen Peak verkündet, nämlich Peak Oil? Die Förderung von Erdöl würde von nun an immer mehr zurückgehen, 1992 wäre der letzte Tropfen verfeuert. Bekanntlich stellte sich das als Bullshit heraus.

Grüner wird’s nicht mehr
Immerhin, die neue Priesterklasse gerät schon mal in die Defensive. Vom Ende der grünen Komfortzone künden allerlei hocherschrockene Stücke in Zeit oder Stern. Wie es denn bloß angehen könne, dass den Grünen so viel „Hass“ entgegenschlage! Dass sich junge Männer zunehmend nach Steuerbord wenden (während junge Frauen unbeirrt gen Backbord tendieren), meldete jüngst die NZZ unter Berufung auf die Financial Times und schockierte damit einen großen Teil der Presszunft.

„Die Zukunft ist offen, auch für ein neues bürgerliches Zeitalter“, schreibt Wendt am Ende seiner luziden Betrachtung. Und er erzählt ausführlich, was im November 1819 auf Hawaii geschah. Da ließ der Sohn des verstorbenen Königs bei einem Fest in seinem Palast Schweinefleisch zu jenen Tischen bringen, die ausschließlich für Frauen reserviert waren. Zu denen setzte er sich zum gemeinsamen Mahl, brach damit gleich zwei Tabus der überkommenen kapu-Ordnung. Nach der war Schweinefleisch für Frauen streng verboten. Und Männer durften nicht mit Frauen essen.
Es erfolgte kein Aufstand der Priesterkaste, kein Aufruhr im Volk. Im Gegenteil. Da war ein großes Aufatmen über den Bruch mit dem hochkomplizierten kapu-System, das ungezählte sinnfreie Regeln aufgestellt hatte, auf deren Übertretung die Todesstrafe stand. Alle Frauen aßen an diesem Tag Schweinefleisch. Anschließend brannte das Volk die Tempel nieder. „Innerhalb kürzester Zeit entglitt den Priestern ihre Machtbasis, nämlich der Glaube, nur kapu sei in der Lage, die Gesellschaft zusammenzuhalten“, schreibt Wendt.
Allein für diese wunderbare, poetische Ermutigung lohnt es sich, sein Buch zu lesen.
… Alles vom 3.3.2024 von Wolfgang Röhl bitte lesen auf
https://www.achgut.com/artikel/ist_peak_woke_schon_erreicht

Alexander Wendt: Verachtung nach unten. Lau Verlag, Reinbek, 26,00 Euro.
Wolfgang Röhl, geboren 1947 in Stade, studierte Literatur, Romanistik und Anglistik. Ab 1968 Journalist für unterschiedliche Publikationen, unter anderem 30 Jahre Redakteur und Reporter beim „Stern”. Intensive Reisetätigkeit mit Schwerpunkt Südostasien und Lateinamerika. Autor mehrerer Krimis.
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Einige Kommentare:
Ich denke, die Herrschaft von Woko Haram ist längst nicht zu Ende, sie wird eher schlimmer. Hier geht es ja nicht um ideologische Trends oder Positionen im Meinungsaustausch – hier geht es um Ausübung von Herrschaft Und hier legt der woke Wahnsinn eine Schippe Macht nach der anderen drauf. Gegen links-grüne Macht in Parlamenten und Regierungen kann man grundsätzlich nichts sagen, Demokratie, selbst schuld – sie wird aber zementiert und gesteigert durch Medienmacht und Vorfeldorganisationen (NGO‘s, Gewerkschaften , Kirchen) plus Geld vom Steuerzahler (das Opfer bezahlt seinen Peiniger) und von netten, völlig unbedenklichen und selbstlosen Philanthropen nebst Stiftungen C.Sch
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Auch wenn der Inhalt des Kommentars von @Werner Arning kaum erträglich ist: Ich fürchte, er schildert die Realität so wie sie ist. Wer sich keine Illusionen machen will tut gut daran, darüber nachzudenken. Mir fällt jedenfalls kein Gegenargument ein. Das Zusammengehen von linker Ideologie und Großkapitalismus, diese unselige Kombination, führt wahrscheinlich in eine Katastrophe. K.O.
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All die Ketten und Knebel, die „dem Sagbaren“ angelegt und in den Mund gestopft worden sind, sind ja nicht zufällig so eng geschnürt worden. Vermutlich geht es gar nicht um all die neuen, woken Spielregeln des Lebens, sondern es geht um das Fesseln der Vernunft. Es ist die Vernunft, die getötet werden soll. Denn die Vernunft steht jeglicher Selbstschädigung Selbstzerstörung im Wege. Der Vernunft sollen in Wirklichkeit die Fesseln angelegt werden. Niemand soll sich mehr trauen, sich auf sie zu berufen. Niemand soll sich mehr erdreisten, sie zum Zeugnis zu rufen. Eingeschüchtert soll jeder der Vernunft abschwören. Denn die Beseitigung der Vernunft bedeutet erst die Erlangung der Macht, Dinge durchsetzen zu können, die jeder, der bei Vernunft ist, nicht wünschen kann. Wer also die Vernunft mit einem Bann belegt, sie zu einem Tabu erklärt, der ist frei, der setzt seine Agenda durch und heiße sie beispielsweise Krieg oder Armut oder Unfreiheit oder Unglaube. Es gibt keine Grenzen mehr. Die Entwicklung von Individualität, zu welcher Vernunft gebraucht wird, wird schlichtweg verhindert. Es handelt sich um eine Form von Herrschaft über den Menschen. Mir scheint, dass es den klugen Erfindern der Wokeness um diese Herrschaft geht. Man schlägt zwei Fliegen mit einer Klappe. Man hat die Linken und deren Protestpotential „in die Tasche“ gesteckt, bindet sie, indem man vorgeblich „ihre Werte“ durchsetzt, in Wirklichkeit jedoch quasi konterrevolutionär, großkapitalistische Ziele verfolgt und durchsetzt. Der Bürger wird moralisch einwandfrei bis an den Rand der Klippe geführt, von der er sich, wiederum moralisch einwandfrei und mit eigener Zustimmung, „hinunterstürzen lässt“. Und eifrig finanziert der Bürger zuvor seinen eigenen Untergang. Werner Arning
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Nein, eine Rückkehr der Bürgerlichkeit wird es in Deutschland nicht mehr geben – weil es uns an Bürgern gebricht! Die letzten weißen Männer und Frauen sterben aus und es gibt kaum noch Nachfolger, die die Fackel des jüdisch-christlichen Abendlandes und der Aufklärung weitertragen könnten. Das Werk der Kultur-Zersetzung und -Zerstörung der RotGrünen Khmer wird total sein, denn es wird nicht enden, wenn Peak Woke überschritten sein wird. Denn danach, nach der Phase des enthusiasmierten Wokeismus folgt unweigerlich die Phase des Woke Totalitarismus und der Repression. Die Werkzeuge dazu werden gerade geschmiedet. Nur zwei alternative Disruptionen könnten dem Fortschreiten des Wokeismus den Weg versperren: der Dritte Weltkrieg oder die Revolution der Mohammedaner und die Einführung der Scharia. A.Sch
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Gibt Alexander Wendt in seinem Buch eine (mögliche) Antwort auf die Frage: »Wie kommt es, dass Leute mit einem Fimmel für die Existenz von 87 unterschiedlichen Geschlechtern zugleich die massenhafte Einwanderung von Menschen beklatschen, in deren Herkunftsländern man Schwule oder Transen an den Baukran hängt?« Das würde ich nämlich ganz furchtbar gern erklärt bekommen! – – Herr Wendt ist Aluhüten abgeneigt, wie ich lese, und stellt eine „Homogenisierung ohne zentrale Anweisungen“ fest. Okay, das kann man so sehen. Was aber, wenn die „zentralen Anweisungen“ gar nicht als solche wahrgenommen werden, weil sie durch subtile Gehirnwäsche (Propaganda und innerer und äußerer Konkurrenzdruck) wahrgenommen werden? Als inzwischen erfahrene „Verschwörungstheoretikerin“ (Kriminalistin) mit beachtlicher Aufklärungsrate bin ich überzeugt, dass die zentralen Anweisungen aus dem unüberschaubaren Gewirk von durch „Philanthropen“ und Steuerzahlern (meist unfreiwillig) finanzierten NGOs mit ihren professionellen PsyOp-PR-Abteilungen („Stiftungen“) ausgegeben werden. Das Bestreben, Feinde auszumachen, um sie niederzumachen, kann ja nur daher rühren, dass jemand einen anderen oder etwas anderes als Feind definiert hat und einem dieses Feindbild ins Hirn eingeblasen hat. Man erfindet sich seine Feinde doch nicht so einfach ohne Anlass, wenn einem keiner etwas Böses angetan hat!? I.G.
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Toller Artikel, Gratuliere. Europa hätte ein Friedensprojekt und wirtschaftliches Vorbild für die ganze Welt werden können. Gemeinsam mit Russland noch viel stärker als die USA. Aber es wurde leider von ihren Eliten verkauft und verraten. Mich erinnert das Ganze an die großartigen Chancen die Deutschland als Hor der Wissenschaft mit… P.Z.
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Klar befinden wir uns ungefähr auf dem “Peak woke”. Nur, aller Erfahrung nach, wird es keinen allmählichen Abstieg geben, es wird einfach aufhören. Von heute auf morgen. Ausschlaggebend wird das Ende der Klimaideologie sein. Auch diese wird einfach aufhören. “Corona” hat es doch auch gezeigt. Problematisch für uns ist nur dass Deutschland, als strukturell stockkonservatives Land, wie immer völlig verspätet das Schlusslicht sein wird. C..
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Ich stimme dem Autor weitgehend zu, meine aber beobachten zu können, dass der Absturz von Ideologien und Regimen schneller erfolgt als ihr Aufstieg. O.B.
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Eines der zentralen Probleme des, in diesem Fall fuer Sch’land unbegruendeten, Optimismus ist die Passivität oder der kindliche Glaube, “das wird ( quasi von allein) schon wieder”. Bei genauer Betrachtung gruendet sich der Optimismus genau auf das, was man dem Feind zu Recht vorwirft, auf Narrative, jedenfalls nicht auf Fakten. Es gibt nicht den geringsten Ansatz fuer die Annahme, der laufende Prozess koennte ein mehr oder weniger abruptes Ende finden, von einer Wende ganz zu schweigen, weder politisch, noch systemisch und institutionell oder personell. Die Behandlung der einzigen Partei, die dafuer politisch stuende, ist bekannt. Inzwischen werden dank staatlicher, die CDU inklusive, verbaler “Vorleistung” die Verwandten von Funktionären angegangen, was hier, vordergründig merkwürdig, sehr wenig thematisiert wird. Der “Widerstand” der Liberalkonservativen haelt sich jedenfalls in Grenzen, die Heuchelei leider nicht. Warum die Transformatoren ihr Tun beenden sollten, wird hier auch nie thematisiert. Die “Angst” vor der Liberalkonservativen duerfte es nicht sein. Da wird von einem Transformationsgesetz nach dem anderen berichtet, vom Niedergang an allen Ecken, und dann soll von irgendwo ein Lichtlein herkommen, das ohnehin aktuell nur bei der sogen Neuen Rechten brennt. Woanders glimmt da gar nichts. Dass die Taeter zu Allem bereit und in der Lage sind, scheint immer noch verdrängt zu werden. R.N.
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Bei uns ist das nicht so einfach wie in USA. Da sind die Lehrstühle für Gender“Science” privat finanziert, das sind Spielwiesen für Milliardäre. Bei uns sind das alles Beamte, die ihr eigenes Curriculum formulieren ( das frei erfunden ist) und die sich lebenslang im Staatsbetrieb verlustieren. Während die Amis dem Mist einfach den Stecker ziehen können, müssen die bei uns aussterben, was eher so 30+ Jahre dauert. J.L.
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